Wie erklärt man einem kleinen Kind, wie sich ein Orgasmus anfühlt? Das fragt der Hypnotherapeut Mario Sathyam Schwenninger im ersten Drittel der Doku Bhagwan – Die Deutschen und der Guru. Er sitzt in einem hell erleuchteten Raum mit Yin-und-Yang-Anhänger an seiner Halskette und will erklären, warum man als Außenstehender nicht begreifen kann, was den Reiz der Bhagwan-Sekte ausmacht. Die ehemaligen und aktuellen Anhänger von Bhagwan, beziehungsweise Osho, wie er sich später nannte, können nicht erklären, warum sie ihm nachliefen – oder immer noch an seine Lehren glauben. Oder besser: Wir können es nicht verstehen. Wie konnte dieser spirituelle Weihnachtsmann aus Indien junge Menschen auf der ganzen Welt in seine Kommunen locken und ihnen das Geld aus der Tasche ziehen?
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Die Doku Bhagwan – Die Deutschen und der Guru von Jobst Knigge, die ihr euch hier in der ARD-Mediathek anschauen könnt, geht der Frage nach, warum junge Menschen nicht nur spirituelle Zentren auf der ganzen Welt, sondern auch riesige Wirtschaftsunternehmen für Bhagwan errichtet und dafür ihr bisheriges Leben aufgegeben haben. Und, wie die Frage am Anfang schon zeigt: So richtig versteht man das alles bis zum Schluss nicht. Dafür sehen wir nackte Körper, schöne Frauen und bekommen jede Menge Wahnsinn vorgesetzt.
Am Ende stirbt Bhagwan. Das war in den 90ern und das kann man auf Wikipedia nachlesen. Entschuldigt also den Spoiler. Da war seine Bewegung schon weitgehend zerfallen.
Vorher wurde er auch wegen einiger Einwanderungsdelikte verurteilt. Er kam für ein paar Tage ins Gefängnis, wurde dann aber auf Bewährung freigelassen, wobei er sich dazu verpflichten musste, die USA zu verlassen. Derweil saßen die Anhänger des Gurus, die sich dagegen wehren, ihn Sektenführer zu nennen, in ihrem eigenen Elend und mussten sich mit der Realität konfrontieren. Diese Realität war, dass ihr Lebenskonzept keine Zukunft mehr hatte. Dafür reichte es nicht mehr, die ganze Zeit Sex zu haben, zu meditieren und die eigene Arbeitskraft einem hierarchischen System zu opfern, das zunehmend auf Unterdrückung setzte.
In den 70ern begann das alles. Die Doku erklärt den Appeal von Bhagwan aus dem Zeitgeist heraus – beziehungsweise aus der Ablehnung dessen. Während die Elterngeneration der Jungen noch den Nazis nachgelaufen war, war die neue Generation eher auf Krawall aus. Sie lehnten die krampfhaften Versuche der Eltern ab, eine heile Welt zu simulieren und suchten ihr Heil in linken Utopien und zunehmender Radikalität. Und dann gab es die, die auch damit nichts anfangen konnten. Die radikal friedliebenden Weicheier, die beides ablehnten. Sie suchten den Mittelweg, keine Utopie, kein Hamsterrad, einfach nur individuelle Erfüllung durch Spiritualität und freie Liebe. Somit waren die Bhagwan-Fans zuerst ein Gegenentwurf zu den 68ern.
Die Dokumentation zeigt vor allem Menschen, die im Rheinland für Bhagwan brannten. Eine Kölner Kommune, die in der Stadt ein Geschäft nach dem anderen öffnete, um den eigenen Lifestyle zu finanzieren. Es gab Discos, Restaurants, Kiosks, eine Arztpraxis und ein Bauunternehmen. Der Umsatz soll “astronomisch” gewesen sein, wie es heißt. Aber wie sah der Alltag aus, für den diese jungen Leute eine Art Parallelgesellschaft aufbauten?
Das Meditationsritual der Bhagwan-Anhängerinnen und Anhänger folgte einer strengen Regel: Zum Schluss sollten die Teilnehmenden dabei den Bedürfnissen des Körpers nachgeben. Ein Teilnehmer sagt im Interview ganz offen, was das für ihn hieß: Nämlich einfach die nächstbeste Frau anzugrabbeln – er nennt es umarmen.
Außerdem gab es die Encounters. Diese als Therapie verkauften Sessions sollten der Seelenreinigung dienen. Der Ansatz war im Prinzip, dass die Teilnehmenden so sein sollten, wie sie wirklich sind, ohne Rücksicht oder Zurückhaltung. Die Gewalt und der Sex war manchen zu brutal, sie brachen die “Therapie” ab. Eine Anekdote zeigt das besonders gruselig. Eine junge Kanadierin hatte demnach gerade erst ihre Eltern bei einem Autounfall verloren. Doch statt Anteilnahme, schlief der Leiter der “Therapie” mit ihr. Weil ihm der Sex aber keinen Spaß machte, nannte er sie eine “kalte Hexe”. Sie solle sich nun befreien und “durch den Ashram bumsen”. Die Kanadierin sei daraufhin zusammengebrochen.
Bevor Bhagwan verurteilt wurde, hatte er einige Jahre aufgehört, selbst zu predigen. Er nannte das, “in die Stille gehen”. Vor oder zumindest mit seinen gewöhnlichen Anhängern sprach er also nicht mehr. Sein Sprachrohr wurde Sheela, eine Anhängerin der frühen Stunden. Und wenn man den Anhängern glaubt, begann damit der Niedergang der Organisation, die von ihren Mitgliederinnen und Mitgliedern nicht Sekte genannt werden soll.
Klar. Dass Bhagwan in fetten Rolls Royce-Limousinen durch die Gegend fuhr, ihn Wächter mit Sturmgewehr eskortierten oder die Arbeitsanweisungen immer absurder wurden, erkannten manche durchaus. Aber die Verbrechen, die folgten, so meinen bis heute einige, gehen aufs Konto von Sheela, seiner Chefsekretärin.
In Oregon, USA, bauten Bhagwans Anhängerinnen und Anhänger ein Zentrum auf. Eine gigantische Farm, die immer weiter wuchs und das Misstrauen der Anwohnenden auf sich zog. Es gab dort eine Schule, ein Kraftwerk, Supermärkte. Es entstand eine kleine, fast autarke Gemeinde. Als die Gefahr wuchs, dass die Sekte ihre Ranch verlieren könnte, weil der Widerstand der Anwohner immer stärker wurde, kauften die Mitglieder einfach ein paar Häuser in der Gegend, manipulierten so die Gemeinderatswahlen, stellten den Bürgermeister und benannten den Ort um in Rajneesh – wie die Ranch. Später vergiftete die Sekte das Wasserreservoir eines Ortes mit Salmonellen, genauso wie Restaurants. Für all diese Dinge wurde Sheela verurteilt.
In Oregon waren auch einige Deutsche dabei. Um dableiben zu können, heirateten sie Amerikaner. So wurden Bhagwan auch “Fraud Marriages” vorgeworfen, wie es in der Doku heißt. Die Deutschen, die dabei waren, halten das für Quatsch. Das sei von ihnen ausgegangen. Auch sie wollten Bhagwan nah sein. Sie wollten dabei sein, wenn die mystische Erscheinung des Gurus morgens mit dem Protz-Wagen an ihnen vorbei fuhr. Sie trugen nun indische Namen, die übersetzt werden konnten mit “Duft der Liebe”, “Seele der Glückseligkeit”, oder “Göttliche Unschuld”.
In Bhagwans stiller Zeit, unter der Herrschaft Sheelas, berichten die Mitglieder, änderte sich die Stimmung in den Ashrams. Sie kam auch nach Deutschland und krempelte dort alles um. Das gefiel vielen nicht. Die Spiritualität, die vorher alles zusammengehalten hatte, wich nun der kalten Härte und dem Machtbewusstsein Sheelas. Damit kamen viele nicht klar.
Als Sheela dann verhaftet wurde, die kriminellen und fragwürdigen Machenschaften der Organisation immer deutlicher hervortraten, fielen viele ab. Der große Kölner Ashram wurde zugemacht.
Aber der Geist Bhagwans, heute bekannt als Osho, ist nicht totzukriegen. Viele der Anhänger von damals glauben immer noch an seine Lehre von Friede, Liebe, Harmonie. Es gibt die Osho International Foundation und alte und neue Ashrams, in denen das Konterfei des bärtigen Menschenfängers, der nicht zugeben wollte, dass er ein Sektenführer ist, zur Schau gestellt wird. Sheela lebt heute in der Schweiz und sagt, dass sie von nichts wusste.
Und so wie Kinder nicht verstehen werden, wie sich ein Orgasmus anfühlt, bleiben wir etwas ratlos zurück. Warum ist da dieser Typ, dessen Lippen zittern, wenn er sagt, dass er heute noch in Bhagwan verliebt ist? Warum ist da diese Frau, die das damals alles schon komisch fand, aber heute immer noch das Erbe Oshos weiter trägt? Die Doku zeigt viel von dem, was passiert ist. Die deutsche Perspektive ist dabei auch neu und frisch und füllt die Lücken, die die viel beachtete Netflix-Doku Wild Wild Country zum gleichen Thema offen ließ. Aber dem Wahnsinn, der hinter der Selbstaufgabe eines Menschen stehen muss, kommen wir dadurch nicht wirklich nah. Und vielleicht ist das auch gar nicht möglich und vielleicht ist das auch gut so.
Update vom 19.02.2021, 11:45 Uhr: In einer früheren Version hieß es, Bhagwan habe mehrere Jahre im Gefängnis gesessen. Das ist nicht richtig. Er war für mehrere Jahre verurteilt, allerdings auf Bewährung. Wir haben das entsprechend korrigiert.
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