Musikhören in der Cloud, getragen von Algorithmen. Illustration von Amit Barnea
Freitagabend. Im Analog hängt der Zigarettenrauchnebel zwischen den Wänden, das Licht ist schummrig. Aus den Boxen dringt Krautrock. Am Pult steht kein tänzelnder DJ mit USB Stick: Wie der Name der Bar schon sagt, kommt hier alles von der Platte oder sogar Kassette. Die Kneipe im Norden Berlins ist ein Relikt; ein Liebesbeweis an die Sucher und Sammler, die tagelang durch die Stadt und Plattenläden ziehen, auf der Suche nach der vergriffenen Platte, die sonst keiner kennt. Das Analog stellt den Gegentrend zum stetig verfügbaren, körperlosen Stream dar; zu Spotify, YouTube, Soundcloud, Pandora, Apple Music oder Tidal. Ein Stream, der sich lautstark durch die Musikszene zieht.
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Und der Datensog weiß obendrein oft genau, was ich gerade will und wann. Spotify etwa bastelt mir und jedem anderen User jeden Tag gleich sechs personalisierte “Daily Mix” zusammen. Dieses digitale Mixtape, das jedes Mal meinen Geschmack trifft; besser als jeder Podcast, Musikjournalist oder eigens kuratierter Channel. Geradezu skurril perfekt. Denn unter den Vorschlägen steckt nicht nur für mich Altbewährtes, sondern immer wieder auch neue, bislang unbekannte Musik.
Sollten wir uns nicht darüber freuen? Über all diese Neuentdeckungen?
Endlich weiß jemand, was wir wollen. Und rettet damit noch ganz nebenbei die Musikindustrie, der die Käufer ausbleiben. Spotify hat zurzeit ganze 100 Millionen Nutzer in 60 Ländern; rund 40 Millionen von ihnen zahlen 10 Dollar pro Monat für einen Premiumaccount. Der Streaming-Dienst aus Schweden setzt ebenso auf die Expertise von Musikexperten wie auf die Weisheit des Algorithmus. Während Erstere, die sogenannten “Playlist-Kuratoren” von denen es allein in Deutschland vier gibt, mehr als 4.500 nationale und internationale Playlisten updaten, arbeiten Programmierer an der permanenten Verbesserung einer künstlichen Intelligenz, die dir ebenfalls wöchentlich und täglich neue Songs in die Sammlung kippt.
Lebe wohl, menschliche Auswahl!
Dafür hat der Musikdienst 2014 die Datenkrake Echo Nest gekauft. Entstanden 2005 im renommierten MIT Lab, beobachtet Echo Nest nicht nur, welche Interpreten und Titel wir mögen und vergleicht sie mit Künstlern im gleichen Genre – es werden auch Informationen darüber gesammelt, welche Titel wie lange abgespielt, gespeichert, geteilt und übersprungen wurden. In Sachen Genres kennt Echo Nest nicht nur die üblichen Verdächtigen wie Pop, Rock und Techno, sondern unterteilt in Hunderte Sub-Sub-Genres. Via der sogenannten Deep Learning Funktion werden sogar aus der Tonspur selbst Informationen gezogen: BPM, Tonhöhen und Tonart können eine gemeinsame Grundlage verschiedener Songs sein.
Aber nicht nur die eigenen Vorlieben, sondern auch das Hörverhalten der ganzen Community wird verglichen. Ein Beispiel: Ich klicke immer wieder gerne auf die Remixe von Ivan Smagghe. Machen das außer mir noch die zwei Hörer Anna und Mark und lauschen die beiden außerdem öfter Optimo – dann liegt die Vermutung nahe, dass auch ich Optimo nicht schlecht finden werde. Bei einem Datenvolumen von 100 Millionen Nutzer verwundert da die Treffsicherheit plötzlich nicht mehr so sehr. Spotify und Echo Nest machen damit eine klare Ansage in puncto künstliche Intelligenz. Versuchen Dienste wie Google Play Music oder Apple Music noch mit althergebrachter Sammler- und Expertenqualität zu glänzen, hat Spotify sich von menschlicher Selektion völlig gelöst und den Stream gänzlich entpersonalisiert: Was wir hier hören, wird uns von der Intelligenz des digitalen Profiling angeboten.
Wir könnten als so viel Neues entdecken, nur dank der Algorithmen. Aber macht Spotify aus uns allen tatsächlich Kenner und Entdecker?
Zu glauben, dass künstliche Intelligenz und kuratierte Playlisten aus Konsumenten plötzlich Selektoren macht, die sich unbeschwert zwischen den Genres bewegen, wäre ein Trugschluss, so Mike Mulligan vom Datenanalyse und Medien Institut MiDIA. Laut Mulligans neuer Studie konsumieren Nutzer lediglich fünf Prozent der verfügbaren Musik. “Der meiste Content ist für sie irrelevant”, schließt der Datenanalyst und Blogger.
Das möge zum einen daran liegen, dass die meisten Freizeithörer einfach kein Interesse und keine Zeit haben, sich dem ganzen Angebot zu widmen. Auf der anderen Seite tragen die Algorithmen dazu bei, dass man sich auf ausgetretenen Pfaden bewege. Wir suchen nicht mehr aktiv, sondern erhalten passiv, was wir mögen werden. Nicht nur in Politik und Nachrichtenselektion via Timeline, sondern auch in Musik und Entertainment bergen die programmierten Rechenschritte dabei die Gefahr, sich in einer Geschmacksspirale zu verfangen: Der Stream spiegelt lediglich zurück, was wir sowieso schon wollen. If you like this, you will love that! Mit gänzlich neuen Inhalten werden wir selten konfrontiert.
Dafür gibt es auch einen eigenen Begriff: Im sogenannten “Overfitting” ähneln sich die Rechnungen der Algorithmen schließlich so sehr, dass der Stilkorridor immer enger wird. Wir hören nur noch, was unsere spezifische Community hört; wir umgeben uns nur noch mit den Genres, mit denen wir auf der Plattform begonnen haben.
Wir besitzen nicht mehr, wir konsumieren
Ist die Cloud also eine Dystopie für neue Musik? Nein, meint Hannes Datta von der Universität Tillburg, Niederlande. Denn: “Der durchschnittliche Nutzer von Spotify entdeckt rund 27 neue Künstler pro Monat.”
In seiner Studie aus dem letzten Jahr beobachtete der Forscher und Dozent für Marketing über eineinhalb Jahre das Konsumverhalten von 5000 Spotify Mitgliedern: “Spotify Nutzer hören nach einiger Zeit viel mehr Nischenmusiker. So sinkt der Anteil an Top 100 Künstlern von 18 auf rund 15 Prozent in den ersten zwei Wochen nachdem der User sich bei Spotify anmeldet.” Ein gravierender Unterschied sei lediglich, dass man nicht mehr im Besitz der Musik wäre. Das Regal, in dem du deine liebsten Stücke zur Schau stellst, gibt es nicht mehr.
Aber die Neugier würde durch das schier unbegrenzte Angebot steigen: “Vor Spotify machten neue Künstler ungefähr 16 Prozent des Konsum eines durschnittlichen Hörers aus. Bei Spotify steigt dies auf über 19 Prozent. Good News also für die kleineren Bands und Musiker – die erhalten bei Streaming mehr Aufmerksamkeit als im Laden”, so Datta. Zudem seien diese Effekte noch vor der Einführung der personalisierten und autogenerierten Playlisten “Discovery Weekly” und “Your Daily Mixes” gemacht worden. “(Die Anteile) dürften mittlerweile weitaus höher liegen”, prognostiziert Datta deshalb.
Es gibt allerdings auch einen Haken an der Sache: “Wir sehen auch, dass neue Entdeckungen meist nicht so oft aufs Neue angehört werden”, so Datta.
Die Nutzer klickten meist zurück auf bekannte oder eng verwandte Dinge – je weiter man sich aus dem Zirkel des Vertrauten bewege, desto schneller klickten sie wieder weg. Mit anderen Worten: In der Spotify-Welt ist es für Artists grundsätzlich einfacher, entdeckt zu werden, aber es ist schwierig, relevant zu bleiben. Grundsätzlich sollte das nicht schockieren. Nicht jeder Hörer will gleichzeitig zum Kenner und Finder werden. Mulligan und Datten zeigen beide, dass es oft den Wunsch einfach nicht gibt, Neues zu entdecken.
In der Spotify-Welt ist es für Artists grundsätzlich einfacher, entdeckt zu werden, aber es ist schwierig, relevant zu bleiben.
Echo Nest und Spotify wollen in Zukunft außerdem einen Schritt weitergehen. Mit einem Tool, dem sogenannten “Trüffelschwein”, kuratiert die Künstliche Intelligenz jetzt auch Playlisten auf Basis von Ereignissen, Tageszeit und, ja, Wetter. Gemeinsam mit dem Anbieter AccuWeather wird beobachtet, in welchem Kontext die Menschen bestimmte Musik hören. Das Feature “Climatune” ging im Februar online. Dabei werden Uhrzeit und das Wetter am Standort gespeichert. Durch Tags wie “Jogging”, “Party” oder “Chill Out” kann der Nutzer außerdem bereits andeuten, zu welchen Ereignissen er welches Genre bevorzugt und die Software kann entsprechend persönliche Playlisten ergänzen.
Vorstellbar sind auch Algorithmen, die nach Stimmungen kuratieren, so Anukriti Dureha, indische IT-Spezialistin aus Neu Delhi. Sie hat dafür bereits einen Algorithmus entworfen: Mit dem Upload eines Porträts erkennt dieser die Stimmung des Betreffenden und wählt entsprechend passende Musik aus.
“Bisher habe ich das Projekt nicht weiterverfolgt. Es entstand innerhalb eines Forschungsprojekts”, gibt die Programmiererin zu. Es sei eigentlich ein theoretisches Gedankenspiel gewesen. Sie sei überrascht,dass es auf dem Markt ein wirkliches Interesse an ihrer Software gibt. Aber natürlich! Wer will denn nicht Liebeskummerschnulzen auf Tastendruck, Work-Out Techno und Feierabend Banger per Klick?
Brauch’ ich noch den DJ, wenn ich doch schon den Algorithmus hab’?
Was bedeutet das alles für Läden wie das Analog und überhaupt, das Konzept Club an sich? Wenn sich also der Algorithmus auch im professionellen Musikbusiness einschleicht. Der Dienst “Pulselocker” funktioniert genau wie herkömmliche Streams, richtet sich jedoch an DJs und professionelle Musikkuratoren. Im Gegensatz zu anderen Streaming-Anbietern ist der Katalog von Pulselocker mit vier Millionen Titeln recht klein. Dafür, so schreibt sich der Dienst auf die Fahne, sei das Programm mit der DJ-Software “Traktor” kompatibel und die Tracks seien im Hinblick auf die Bedürfnisse von DJs selektiert.
Was genau soll das heißen? Seit wann sind Tracks DJ-freundlich oder feindlich? Jeder Abend und jede Crowd hat doch eigene Bedürfnisse; eine pauschale Vorselektion von lediglich vier Millionen Titeln würde die Events einander sehr ähneln lassen. DJs gehören außerdem zu einer der letzen Spezies, die sich noch die Mühe macht, Musik zu kaufen, sie in hoher Qualität zu spielen und vor allem: Sie genau zu kennen.
Pulselocker sollte die Alarmglocken schrillen lassen. Gerade professionelle Musikselektoren sollten sich nicht auf die Weisheit des unsichtbaren Rechenschritts verlassen. Kein Algorithmus kann bisher die Stimmung einer Nacht und eines Dancefloors erfassen. Die Vorstellung, dass wir bald um einen aufgeklappten Laptop herumtanzen werden, ist erschreckend – und scheint gar nicht mehr so weit entfernt. Im Analog in Wedding werden sie wohl aber so oder so keinen Einzug halten.
Anm. der Redaktion: In einer früheren Version dieses Artikels wurde fälschlicherweise der Eindruck erweckt, dass “Spotify” ausschließlich mittels Algorithmen personalisierte Playlists anbietet. Das haben wir korrigiert.