Wer googeln kann, braucht nur wenige Minuten, um herauszufinden, dass Albrecht Schmidt nicht nur Chemiker war, sondern auch SS-Obersturmbannführer, SS-Brigadeführer und ein glühender Anhänger Hitlers. Schmidt ist aber auch Ehrenbürger der Uni Frankfurt. Und sein Name steht seit 1994 auf einer Stiftertafel. Auf dieser Tafel werden in goldenen Buchstaben die Namen der Institutionen und Privatpersonen geehrt, die die Hochschule seit ihrer Gründung 1914 unterstützt haben. “Die Johann Wolfgang Goethe Universität in Dankbarkeit ihren Stiftern und Mäzenen.”
Die Uni-Leitung sagt, sie habe von Schmidts Vergangenheit nichts gewusst. Erst ein offener Brief an das Präsidium im April dieses Jahres, geschrieben von Benjamin Ortmeyer, einem Professor für Erziehungswissenschaften, habe Schmidts Biografie offenbart. Ortmeyer fordert, die Ehrentafel schnellstmöglich zu entfernen, und spricht von einem “folgenschweren Fehler”.
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Die Tafel mit Albrecht Schmidts Namen ist nicht die einzige Nazi-Kontroverse an der Universität. Studenten und Lehrkräfte kritisieren seit mehreren Jahren die Uni-Leitung für ihre mangelnde Aufarbeitung der eigenen NS-Vergangenheit. Zu der jüngsten Geschichte der Universität gehören: Nazis, die nach dem Ende des NS-Regimes zu Ehrenbürgern ernannt wurden, Josef Mengele, der an der Uni Frankfurt promovierte und noch nach dem Zweiten Weltkrieg ein Büro hatte, eine Stiftung, deren Namensgeber von der Kriegsproduktion profitierte, und eine zehnjährige Debatte darüber, wie der Platz vor dem Haupteingang der Universität heißen soll, um die dunklen Seiten der Universitätsgeschichte angemessen zu würdigen.
Die Uni-Leitung schmückt sich mit der Frankfurter Schule
Debatten über die braune Vergangenheit führen, das wolle die Uni nicht. Es passe ihr nicht in den Kram, sagt Newal Dicle Yalcin, Referentin im Allgemeinen Studierendenausschuss (Asta). Warum? “Weil sie sich gerne mit der Frankfurter Schule schmückt”, meint Yalcin. Also mit jenen Professoren um Max Horkheimer und Theodor W. Adorno – den Köpfen der Kritischen Theorie. “Das ist heuchlerisch. Das Einzige, was von der Frankfurter Schule übrig geblieben ist, ist Adornos Schreibtisch in einem Glaskasten auf dem Campus”, sagt sie.
Yalcins Asta-Kollege Johannes Fechner geht noch einen Schritt weiter. Da die Frankfurter Hochschule eine Stiftungsuniversität sei, fürchte die Uni-Leitung um Geld, wenn der Fall aufgearbeitet wird. “Die Uni war Täterin während des Nationalsozialismus, genau wie die Familie Quandt, die heute die größten Stifter der Uni sind.”
Nazis bekamen Ehrentitel
Dass Nazis noch nach Ende des NS-Regimes von der Uni gewürdigt wurden, hat der Historiker Gunter Stemmler in seinem Buch Die Vermessung der Ehre offengelegt. Und er nennt Namen:
Rudolf Keller, Friedrich Lehmann, Bernhard Heun und Carl Ludwig Lautenschläger waren Professoren, Kommunalpolitiker, Juristen – und Nationalsozialisten. Sie alle wurden zwischen 1953 und 1964 zu Ehrenbürgern der Universität ernannt, also in einer Zeit, in der die Uni längst mit der Aufarbeitung des Nationalsozialismus hätte beginnen können.
Rudolf Keller wusste bereits ein halbes Jahr von den Plänen der Deportationen von Juden. Das Ergebnis: 12.000 ermordete Frankfurter Juden. Friedrich Lehmann hatte als Stadtkämmerer die Kontrolle über die Finanzen. Bernhard Heun war an den Vorbereitungen der Kennzeichnung von Lebensmittelmarken für Juden durch ein “J” beteiligt. Nummer vier, Carl Ludwig Lautenschläger, saß im Vorstand der IG Farben. Er wurde im Nürnberger Prozess gegen die IG Farben der Versklavung und des Massenmords angeklagt, dann jedoch freigesprochen, weil ihm keine individuelle Schuld nachgewiesen werden konnte.
Albrecht Schmidts Name auf der Stiftertafel, Ehrentitel für Nazis – der Pressesprecher Olaf Kaltenborn schreibt in einer Mail an VICE lediglich, dass frühere Forschungsergebnisse möglicherweise neu geprüft werden sollten.
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“Das Wort ‘möglicherweise’ ist ein schlechter Witz”, meint der Erziehungswissenschaftler Benjamin Ortmeyer. “Die letzten Wochen haben gezeigt, dass nie solide über NS-belastete Personen recherchiert wurde.” Was Ortmeyer mit “in den letzten Wochen” meint, zeigt eine aktuelle Debatte.
Seit knapp zwei Jahren kritisiert der Asta die Uni-Leitung wegen eines Gruppenraums am Campus Riedberg im Norden Frankfurts. Der Raum heißt “Adolf Messer Stiftung Lounge”. Die Stiftung ist einer der größten Förderer der Universität. Deren Namensgeber, Adolf Messer, war Mitglied der NSDAP, beschäftigte Zwangsarbeiter in seinen Werken, wirkte bei der Produktion der V2-Raketen mit, profitierte wirtschaftlich vom NS-Regime und wurde noch 1948 als Mitläufer eingestuft. So steht es in einem Kurzgutachten der Professoren Andreas Fahrmeir, Werner Plumpe und Jörg Lesczenski.
In den letzten 25 Jahren hat die Adolf-Messer-Stiftung die Universität mit insgesamt 8,6 Millionen Euro gefördert. Für die Uni scheint das kein Problem: “Das Präsidium unterscheidet zwischen der Stiftung selbst und dem Namenspaten der Stiftung”, schreibt Kaltenborn. Das Unternehmen habe die eigene NS-Vergangenheit aufarbeiten lassen. Dies sei für die Uni entscheidend.
Damit wollen sich die Kritiker nicht zufrieden geben. Asta-Referentin Newal stellte im Dezember letzten Jahres in der Senatskommission einen Antrag zur Umbenennung der “Adolf Messer Stiftung Lounge”. Der Namensgeber, schreibt sie darin, sei “in keiner Weise ein Vorbild für Studierende und Lehrende der Goethe-Universität”.
Adolf Messers Enkel Stefan Messer, gleichzeitig Vorsitzender der Adolf-Messer-Stiftung, sagt, sein Großvater sei kein Nazi gewesen. Da die eigenen Mitarbeiter zum Krieg einberufen wurden, habe er seinen Betrieb nur aufrechterhalten können, indem er die zugeteilten Zwangsarbeiter beschäftigte. “Ihm lag der Erhalt seines Unternehmens am Herzen”, sagt der Enkel.
Und dennoch sprach sich am Ende selbst die Uni-Präsidentin Birgitta Wolff dafür aus, den Antrag des Asta zu prüfen. Der Senat beschloss im März, die “Adolf Messer Stiftung Lounge” zeitnah umzubenennen. Doch das Präsidium missachtete den Senatsbeschluss.
Das Präsidium habe sich in einem Gespräch mit der Stiftung dazu entschieden, den Raum nicht umzubenennen, sagt Stefan Messer. Für Newal ist die Entscheidung nicht haltbar: “Die Uni-Leitung setzt sich über die Entscheidung des kompletten Senats und der Senatskommission hinweg.” Wie lange der Streit um eine Umbenennung dauern kann, zeigt ein weiterer Vorfall zum einhundertjährigen Jubiläum der Goethe-Universität.
“Das war wirklich erschreckend”
2001 ist fast die gesamte Universität auf den heutigen Campus Westend umgezogen. Das IG Farben Haus am damaligen Grüneburgplatz, dem ehemaligen Verwaltungssitz des Chemieunternehmens, ist heute der Hauptsitz der Uni. Die Fachbereiche Evangelische Theologie, Katholische Theologie, Philosophie und Geschichte, Kulturwissenschaften und Neuere Philologie sowie das Fritz-Bauer-Institut und das Zentrum für Nordamerika-Forschung sitzen im Gebäude des Konzerns, in dem auch Albrecht Schmidt und Carl Ludwig Lautenschläger im Vorstand saßen – und das mit dem KZ Monowitz und der Produktion von Zyklon B tief in die NS-Geschichte und den Holocaust verstrickt war.
2014 endete ein zehnjähriger Streit um die Umbenennung des Uni-Standortes am Campus Westend von Grüneburgplatz in Norbert-Wollheim-Platz. KZ-Überlebende, ehemalige Zwangsarbeiter und Studierende hatten sich dafür eingesetzt. Die Überlebenden schrieben Briefe und sammelten über hundert Unterschriften – erst dann lenkte die Uni ein.
Wollheim war Überlebender des KZ Monowitz und der erste Zwangsarbeiter, der vor Gericht um einen Schadensersatz kämpfte. Das KZ stand neben den Buna-Werken der IG Farben. “Die damalige Uni-Leitung war gegen die Namensänderung”, sagt Asta-Vorstandsmitglied Fechner. “Es war ihr wichtiger, die Uni-Adresse zu wahren, als an die Beteiligung der IG Farben am Holocaust zu erinnern”, so der Vorwurf in einer damaligen Pressemitteilung des Asta.
Myrella Dorn war während der Debatte um den Platz Asta-Vorsitzende. Sie sagt, sie könne sich noch an Reaktionen aus dem Senat erinnern, Sätze wie “Wie sieht das denn aus, wenn die Postadresse der Uni Norbert-Wollheim-Platz heißt?” oder “Der Name wirkt negativ”. “Das war wirklich erschreckend”, sagt Dorn.
“Die Uni hat versagt”
Tobias Freimüller, Vize-Direktor des Fritz-Bauer-Instituts, sagt, andere Universitäten seien mit ihrer Aufarbeitung zur NS-Zeit schon deutlich weiter als die Uni Frankfurt. Bereits 1977 erschien die erste gründliche Monografie über die NS-Vergangenheit der Uni Tübingen. Sie gilt diesbezüglich als Vorreiter. Erst in den 90er Jahren folgten weitere Universitäten. Heute gibt es umfangreiche Untersuchungen über die Unis Göttingen, Hamburg, Münster, Leipzig und Jena.
Die Goethe-Universität habe sich hingegen nicht mit Ruhm bekleckert, sagt Tobias Freimüller. Zwar hat die Uni-Leitung das Fritz-Bauer-Institut mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung beauftragt und finanzielle Mittel bereitgestellt, doch die gelten dem neu geschaffenen Lehrstuhl “Geschichte und Wirkung des Holocaust”. Die NS-Geschichte der Uni ist davon bloß ein geringer Teil.
Dorn findet das zu wenig. “Die Uni hätte bereits bei der Umbenennung der Adresse und der Straßen auf dem Campus zeigen können, wie wichtig ihr die Aufarbeitung ist. Doch sie sperren sich immer wieder, Stellung zu beziehen”, sagt sie. “Die Uni hat versagt.”
Der Geschichte der IG Farben hat sich die Uni nicht komplett entzogen. Es gibt unter anderem eine Dauerausstellung im IG Farben-Haus. Vor dem Gebäude erinnert heute eine Gedenktafel an die Opfer der NS-Diktatur und des Zweiten Weltkriegs. Sie liegt auf dem Boden. Überlebende des KZ Monowitz und Studierende forderten, die Tafel hinzustellen. Die Uni lehnte ab.