Ein 16-jähriger Junge findet eine verstaubte Xbox der ersten Generation in der Garage. Neugierig, ob die Retro-Konsole noch funktioniert, schließt er sie an den Fernseher an. Ein Bild in erbärmlicher Standardauflösung erscheint. Aber was soll’s: Sie geht noch. Auch das Rennspiel Rally Sports Challenge läuft auf der klobigen Kiste noch einwandfrei. Nostalgisch dreht der Finder seine Runden und denkt dabei an seine Kindheit. Bis vor ihm plötzlich ein Geist auftaucht.
,Geist’ nennt man in Racing-Simulationen das halbtransparente Abbild des schnellsten Wagens, der die Strecke vor einem befahren hat. Dessen Bestzeit gilt es zu schlagen. Wie eine motorisierte Karotte, die einem zu Höchstleistungen anstacheln sollt, rast der Geist solange vor dem Gefährt des Spielers daher, bis es ihm gelungen ist, ihn einzuholen. Das ist ein übliches Feature in vielen Rennspielen und eigentlich nicht der Rede wert. Der Geist jedoch, den der Junge in Rally Sport Challenge vor sich über die Rennbahn flitzen sieht, gehört seinem Vater. Und der ist zu diesem Zeitpunkt bereits seit zehn Jahren tot.
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In einem Youtube-Comment, den User 00WARTHERAPY00 unter einem Video zum Thema Spiritualität in Videospielen hinterlassen hat, schildert der Sohn diese Begegnung mit seinem verstorbenen Vater in knappen, ergreifenden Worten: „Ich spielte und spielte bis es mir beinahe gelang, den Geist zu schlagen”, schreibt er. „Und eines Tages schaffte ich es tatsächlich, ihn zu überholen.” Kurz vor der Ziellinie stoppte er jedoch seinen Wagen und ließ seinen verstorbenen Vater an ihm vorüberziehen. Sonst hätte sein neuer Highscore den Geist seines Vaters unwiederbringlich gelöscht und durch seinen eigenen ersetzt.
Der Regisseur John Wikstrom aus Los Angeles war von dieser Anekdote so berührt, dass er ihr einen Kurzfilm widmete, den er nun ins Netz gestellt hat. Sein Player Two findet genau die richtige Bildsprache, um die Geschichte von einem Sohn zu erzählen, der an die schönen Momente zurückdenkt, die er gemeinsam mit seinem Vater vor der Konsole verbracht hat. Wort für Wort ist dabei aus dem Off der Youtube-Kommentar von 00WARTHERAPY00 zu hören. Selten wurde das soziale Element von Videospielen derart einfühlsam auf den Punkt gebracht wie in diesem nicht einmal zweiminütigen Video.
Doch Beispiele dafür, dass Games in der Lage sind, wertvolle und bleibende Erinnerungen an andere Menschen zu schaffen, gibt es immer wieder. Bereits 2007 brach der Comic eines Mitglieds der koreanischen Videospielportals This Is Game kollektiv die Herzen der Online-Gemeinde. In seiner Bildergeschichte hatte Forumsmitglied ONESOUND die Erzählung eines anonymen Gamers aufgezeichnet. Der hatte davon berichtet, dass seine an Multipler Sklerose erkrankte Mutter vom knuffigen Open-World-Game Animal Crossing besessen gewesen war—sehr zur Belustigung des Rests der Familie.
Als er ein Jahr nach ihrem Tod aber das Spiel startete und zufällig im Briefkasten seines eigenen Animal-Crossing-Charakters nachsah, quoll dieser über mit Nachrichten und virtuellen Geschenken, die sie ihm in der Parallelwelt geschickt hatte. Viele kleine Pixelaufmerksamkeiten, die ihn an die Liebe seiner Mutter erinnerten.
Natürlich sind immer dann, wenn auf Diskussionsplattformen wie Reddit derart herzzerreißende Geschichten die Runde machen, neben vielen Anteilsbekundungen auch Skeptiker zu hören. So machte ein Redditor etwa darauf aufmerksam, dass die Schilderung von 00WARTHERAPY00 einige auffällige Parallelen zur Handlung des Wachowski-Films „Speed Racer” aufweist. Und auch die Tatsache, dass theoretisch jeder Spieler in Animal Crossing Briefe von einer In-Game-Mutter erhalten kann, die eben nicht die eigene ist, versetzte einigen Lesern des Comics von ONESOUND einen kleinen Dämpfer.
Man mag jedoch noch so viel Skepsis an diese Schilderungen herantragen, ihre Glaubwürdigkeit—und ihre Wirkung—verlieren sie deshalb noch lange nicht. Im Gegenteil. Den Geschichten gelingt etwas, dass bei Diskussionen um Videospiele allzu oft zu kurz kommt: Sie lenken den Blick auf die menschliche Seite des Videospielens. Anstatt Technik und Grafikqualität, Framerate und Schwierigkeitsgrad stellen diese Berichte das Gefühlsleben von Gamern in den Mittelpunkt.
Videospiele appellieren an unsere Instinkte und an unseren Intellekt. Wir müssen schnell sein und schlau, um sie zu meistern. Videospiele vermögen es aber auch, tiefe Empfindungen in uns hervorzurufen. Die vom Kinoregisseur Steven Spielberg vor Jahren eher zweifelnd aufgeworfene Frage danach, ob auch das Medium der Videospiele uns zum Weinen bringen können, hat sich längst erledigt. Natürlich können sie. Wer am Ende von The Last Of Us oder Life Is Strange keine Tränen vergossen hat, ist vermutlich ein Roboter.
Aber der von John Wikstrom verfilmte Youtube-Comment, der Comic von ONESOUND und zahlreiche Berichte von anderen Gamern zeigen darüber hinaus: Videospiele können noch viel mehr. Sie lassen uns nicht nur Anteil nehmen am Schicksal fiktiver Figuren. Sie schaffen es auch, dass wir anderen Menschen—und uns selbst—näher kommen. Und das manchmal sogar über den Tod hinaus.