Warum ein Rapid Wien-Fan bei den Hooligan-Krawallen in Marseille verhaftet wurde

Johannes P. vor seiner Verhaftung. Fotos mit Genehmigung von Hans N. und Christian A.

Es war eines jener Bilder, das nach den Ausschreitungen im Vorfeld des EM-Spiels England-Russland am öftesten durch die internationalen Medien geisterte: ein Mann mit Irokesenfrisur und tätowiertem, nackten Oberkörper, der blutend von französischen Polizisten am Hafen von Marseille abgeführt wird.

Die Sorte übel aussehender Hooligans, wie man sie sich eben vorstellt. Von der New York Post bis zur deutschen Welt wurde der Verhaftete zunächst einhellig als englischer Hooligan präsentiert. Als man sich hierzulande die Bilder des Verhafteten genauer ansah, wurde dann aber klar, dass das, was der Mann auf der Brust tätowiert hat, das Wappen des SK Rapid Wien darstellt—mit dem Zusatz “1899 A.C.A.B”.

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Bald darauf kam dann auch die offizielle Bestätigung: Es handele sich um einen 37-jährigen Österreicher, der in Marseille als einer von rund 10 Randalierern verhaftet wurde und schon nach zwei Tagen im Eilverfahren fünf Monate Haft in Frankreich aufgebrummt bekam. Mehr war über den Mann bis dato nicht bekannt, abgesehen davon, dass er von einer Gratis-Zeitung “Franz” getauft wurde und laut APA nicht zur Führungsriege der Rapid-Fans gehöre.

Tatsächlich heißt der Mann Johannes “Petsch” P., lebt in Amstetten und ist neben Rapid Wien-Fan vor allem begeisterter Anhänger des berüchtigten Londoner Vereins West Ham United. Gegenüber VICE haben zwei Begleiter und Freunde des Niederösterreichers nun ihre Version der Ereignisse von Marseille geschildert.

Als es zwar feucht, aber noch fröhlich zuging: Johannes P. und Begleiter Hans N.

“Geplant war ein ganz normaler, netter Ausflug zum Match nach Marseille, geworden ist daraus leider genau das Gegenteil”, fasst es Hans N., der den später Verhafteten schon seit Jahrzehnten kennt, zusammen. “Petsch” sei schon lange England-Supporter, fasziniert von der britischen Fußballkultur, und hatte den Trip organisiert, die Tickets für das Spiel schon vor längerer Zeit besorgt. Zu viert sei man dann am Freitag vor dem Match in Amstetten aufgebrochen und nach einem Zwischenaufenthalt in Innsbruck mit dem Auto in Richtung der französischen Hafenstadt gefahren. In Monte Carlo habe man noch einen Fotostopp eingelegt; böse Absichten, so beteuern die Begleiter, habe es niemals gegeben.

Vielmehr bemalte Hans N. am Samstag, dem Tag des Spiels, eine Wange mit den Farben Englands und die andere mit der weißblauroten Fahne Russlands, während er ein Trikot der österreichischen Nationalmannschaft trug. Eingecheckt im Hotel in Marseille schloss man rasch Bekanntschaft mit ein paar England-Fans und verstand sich auch aufgrund der Christian Fuchs-Leicester City Connection gleich bestens.

A.C.A.B. soll eigentlich “Amstettner City Allersdorfer Boy” heißen.

Gemeinsam sei man dann los zum Hafen, wo sich die englischen Fans in üblich lautstarker Manier schon seit zwei Tagen breit gemacht hatten, und auch die Shuttles zu Stadium abfuhren. “Das ist einfach herrlich zum Ansehen, wie die Engländer feiern, singen und Stimmung machen”, meint Hans N. Während des Nachmittags standen die Zeichen auch auf friedliche Verbrüderung, die Männer schossen Fotos mit russischen Fans und sogar der französischen Polizei (siehe unten).

Gleichzeitig stieg aber auch der Alkoholegel: “Ganz genau kann ich es nicht sagen, aber Petsch hatte sicher an die 10 bis 12 Bier.” Kurioserweise wurden überall auf dem Platz von Franzosen Bierflaschen verteilt, laut N. sogar einfach verschenkt. “Ich hab in Frankreich kein einziges Bier bezahlt. Noch bis unmittelbar vor den Krawallen wurden Bierflaschen einfach so hergegeben.” Die unzähligen grünen 0,3 Liter-Bierflaschen sollten später zu den Wurfgeschoßen erster Wahl werden und stehen im Nachhinein wohl für das Markenzeichen der Verwüstung.

Posen mit Leicester City Fahne, englischen Fans und … der französischen Polizei

“Ich habe in Frankreich kein einziges Bier selbst bezahlt. Vor den Krawallen sind überall Flaschen gratis verteilt worden.”

Allmählich begann die Situation zu kippen, als gegen 17:00 Uhr die russischen Fans vorbeizogen, begleitet von einer Polizei-Eskorte. “Da war zunächst keinerlei Aggression. Die sind mit der Polizei vorbei und außer gegenseitigen Schlachtgesängen gab es nichts.” Eskaliert sei es dann erst zirka zehn Minuten später, als die Russen offiziell schon vorbeigegangen waren. “Wir haben mitbekommen, dass auf dem Platz ums Eck Flaschen auf die Engländer geworfen werden und sind dann eben in die Richtung, um zu schauen was los ist”, meint N. Es wurde hektisch, Gruppen begannen sich zu bilden und über die Seitenstraßen am Hafen zu verteilen.

“Als die Polizei uns hinderte, weiterzugehen, haben wir uns verloren”, sagt N. Während sich N. und der vierte Begleiter aus Österreich von der sich zuspitzenden Situation am Hafen zurückzogen, blieben Johannes P. und Christian A. in ihren England-Trikots beim harten Kern stehen. “Es entstand dann so was wie ein Katz-und-Maus-Spiel in einer Nebenstraße. Wir wurden mit Tränengas beschossen, als Antwort flogen Flaschen. In der aufgeheizten Masse haben alle irgendwie mitgemacht.”

Auf einer Videoaufnahme kann man auch Johannes P. erkennen, wie er sichtlich betrunken eine Flasche durch die Luft in Richtung wirft. “Er lief auch nicht weg, sondern blieb eigentlich direkt vor der Polizei stehen”, meint Christian A., der die Situation aus nächster Nähe beobachtete. Als die Einsatzkräfte die Situation nach etwa einer halben Stunde unter Kontrolle bekam, war der taumelnde Mann mit dem nackten Oberkörper leichte Beute. Seine blutigen Verletzungen von Kopf und Schulter stammen demnach von der Fixierung durch die Einsatzkräfte. “Die haben ihn zu dritt oder zu viert auf den Boden gedrückt, da entsteht halt schon mal so eine Platzwunde. Außerdem war der Boden mit Scherben übersät. Wehren konnte er sich in diesem Zustand nicht mehr”, meint der Freund. Daraufhin entstanden die bekannten Bilder.

Das “A.C.A.B”-Tattoo auf der Brust sei, laut Angaben der Freunde, für den 37-Jährigen übrigens eher als humorvolle Adaption des berüchtigten Spruchs zu verstehen, und soll tatsächlich “Amstettner City Allersdorfer Boy” heißen. Auf einem Handyvideo, das auf Facebook kursiert, spricht er diese Bezeichnung in die Kamera, bevor er in eine Pfefferoni beißt.

Der 37-jährige Österreicher auf Videoaufnahmen, wohl nicht allzu lange vor seiner Verhaftung

Die schweren Gewalttäter sind der französischen Polizei in Marseille entgangen.

P. war an jenem Tag mit Sicherheit kein Unschuldslamm. Im Schnellverfahren wurde er bereis am darauffolgenden Montag neben sechs Briten und drei Franzosen zu fünf Monaten Haft in Frankreich und einem anschließenden, zweijährigen Einreiseverbot verurteilt. Ein französischer Journalist, der die Verfahren beobachtet hatte, bestätigt gegenüber VICE, dass als Grund der Verurteilung das Werfen von Flaschen ausschlaggebend war:

Der Reporter vermutet außerdem, dass der Mann wegen bereits früherer Gewaltdelikte außerhalb Frankreichs eine längere Haftdauer als andere bekam. Ein Umstand, dem die Freunde von Johannes P. jedoch weiter heftig widersprechen: „Er war in meiner Gegenwart niemals aggressiv und wir haben doch schon sehr viele Nächte durchgezecht und Matches gemeinsam besucht. Meines Wissens war er niemals straffällig.” Die österreichischen Behörden wollen auf Nachfrage von VICE aus Datenschutzgründen keine nähere Auskunft dazu geben. Auch eine Anfrage an die Marseiller Polizeipräfektur blieb bis dato unbeantwortet.

Fest steht jedenfalls, dass der französischen Polizei am 11. Juni andere schwere Gewalttäterentgangen sind. So tauchte wenige Tage nach den Krawallen im Netz ein Video auf, das ein russischer Hooligan mit einer GoPro Kamera aufgenommen hatte. Auf zynische Weise wird darin dokumentiert, wie die Russen gut organisiert in den Nebenstraßen des Marseiller Hafens auf Prügeltour gehen. Über die Kleidung gut erkennbar sind darin dieselben Personen, die auch nach dem Spiel im Stadion für Randale sorgten, wie ein Mann mit blauem Hut. Auch die Attacke auf den Briten Andrew Bache, den die Russen ins Koma prügelten, ist darauf zu sehen.

Aus dieser Gruppe ging den Behörden an jenem 11. Juni kein einziger ins Netz, in erster Linie beliefen sich die Festnahmen auf betrunkene Engländer, die dumm genug waren, sich am Hafen direkte Reibereien mit der Polizei zu liefern und am Ende als herzeigbare Täter einkassiert und im Schnellverfahren verurteilt wurden.

Seine Berufungsfrist habe Johannes P. laut Angaben der Freunde verstreichen lassen, die fünf Monate werde er wohl in Frankreich absitzen. Und sie gehen davon aus, dass der “Amstettner City Allersdorfer Boy” seinen Job bei einem heimischen Stahlkonzern wohl los ist.

Der Autor auf Twitter: @t_moonshine