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Wie es für Sophie war, als ihr nach einer Vergewaltigung keiner glaubte

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Warnung: Dieser Artikel enthält Schilderungen sexualisierter Gewalt.

Eigentlich wollte Sophie an dem Abend im Frühling 2013 bei einer Freundin übernachten. Filme gucken, vielleicht Eis essen. Stattdessen wurde sie unter KO-Tropfen gesetzt und vergewaltigt. Von drei Jungen im gleichen Alter, die sie alle kannte. Damals war sie 14 Jahre alt. 

All dem müsste man ein “mutmaßlich” voranstellen. Denn angezeigt hat Sophie, die eigentlich anders heißt, diese Tat nie. Das bedeutet, dass es in dem Fall auch kein rechtskräftiges Urteil gibt. Ich möchte ihre Geschichte trotzdem erzählen. Aufgrund von Chatprotokollen und den Gesprächen, die ich mit ihr geführt habe, halte ich ihre Geschichte für glaubwürdig. Wie Sophie denke ich, dass sie anderen Menschen in ähnlichen Situationen Mut machen kann. Trotzdem, um Falschbeschuldigungen vorzubeugen, haben wir den Fall und Sophies richtigen Namen soweit anonymisiert, dass keiner der Beteiligten erkennbar ist. 

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“In Filmen und Serien wurde lange das Bild vermittelt, dass Vergewaltigungen nur auf dunklen Straßen durch einen Unbekannten stattfinden”, sagt Sophie. Dabei kennen laut einer EU-Umfrage 77 Prozent der Frauen, die von sexueller Gewalt betroffen sind, die Täter. Sophie, 22, ist eine von ihnen. Wie sie sagt, sei sie im Haus ihrer Freundin vergewaltigt worden. Von drei Jungen, mit denen sie mittags noch ein McFlurry bei McDonalds gegessen hatte. Einen von ihnen habe sie bereits seit der Grundschule gekannt. 


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“Ich hatte an dem Abend drei Vodka-Shots. Danach erinnere ich mich nur noch an Bruchstücke”, sagt sie. “An die Jungs, die Shisha rauchen. Im Hintergrund ein Musikvideo von Rihanna. Das, wo sie in der Badewanne liegt: Stay.”

Schwarz. 

“An mich, wie ich im Bett meiner Freundin liege und mich frage wieso. Ich liege auf der Seite und einer der Jungs versucht von hinten meine Brüste anzufassen. Ich sage ‘Nein’.”

Schwarz. 

“An einen der anderen Jungs, der sich über mich beugt und sagt, dass er jetzt dran wäre.”

Schwarz.

“Daran, dass ich zweimal auf die Toilette gehe. Ich wundere mich beide Male, warum meine Unterhose verdreht ist. Ich ziehe sie aus und ziehe sie wieder richtig herum an.”

Schwarz. 

Am nächsten Morgen sei sie aufgestanden, habe sich die Kotze aus den Haaren gewaschen und ihrer Mutter geschrieben, dass sie sie abholen soll, sagt Sophie: “Ich stand total unter Schock und habe gar nicht richtig verstanden, was da eigentlich passiert war. Ich dachte, ich sei einfach betrunken gewesen und wäre abgestürzt.”

Was in der Nacht wirklich passiert war, habe sie erst einige Tage später begriffen, als ein Junge in einen Gruppenchat bei Facebook auf herablassende Art und Weise schrieb, dass Sophie auf der Party “gefickt” worden sei. Ein anderer schrieb außerdem, dass sie bei seiner Ankunft schon in ihrem Erbrochenem gelegen habe. Sophie hat mir Screenshots dieses Chatverlaufs gezeigt. 

Seit 2016 gilt im deutschen Strafrecht der Grundsatz “Nein heißt Nein”. Das bedeutet, dass sich eine Person nicht körperlich wehren muss, damit eine Vergewaltigung auch als solche gewertet wird. Aber was, wenn du nicht Nein sagen kannst, weil du wegen Alkohol oder Drogen bewusstlos bist? Was, wenn du dich kaum erinnerst? Ist kein “Ja” nicht auch ein “Nein”? Der Täter nutzt in dem Fall schließlich eine Lage aus, in der ihm die andere Person schutzlos ausgeliefert ist. Und das ist laut §177 StGB strafbar. 

Das ganze Ausmaß der Nacht habe Sophie erst nach einem Streit mit einer Freundin, den sie selbst als “ganz normalen Mädelsstreit” bezeichnet, begriffen. Aus Wut habe die in der ganzen Schule rumerzählt, dass Sophie eine “Hure” und auf ihrer Party so betrunken gewesen sei, dass sie “eine Orgie mit drei Typen” gefeiert hätte. “An dem Tag bin ich zu Hause zusammengebrochen”, erzählt Sophie. “Als meine Mutter mich gefunden hat, habe ich ihr alles erzählt.”

Ihre Mutter habe schnell reagiert, ihr umgehend eine Therapeutin gesucht. Erst dort habe sie wirklich realisiert, dass sie höchstwahrscheinlich unter dem Einfluss von KO-Tropfen stand, als sie vergewaltigt wurde.

Unter den Folgen des Mobbings leidet Sophie noch heute 

Ab diesem Moment sei die Situation von Tag zu Tag unerträglicher geworden. Die Gerüchte in der Schule hielten sich hartnäckig. “Meine Mitschüler beleidigten mich als Hure, als Schlampe. Riefen, dass ich später bestimmt auf den Strich gehen würde”, sagt sie. “Ich hatte mein erstes Mal relativ früh. Ich glaube, deswegen stellte damals auch niemand in Frage, ob der Sex einvernehmlich war oder nicht.”

Eine fatale Haltung, die heute noch genauso verbreitet ist wie vor sieben Jahren. Dabei wird ein Nein nicht weniger verbindlich, nur weil egal welche Frau in ihrem Leben vorher hundertmal Ja gesagt hat. 

Für Sophie habe das Mobbing damit geendet, dass sie nach ein paar Monaten die Schule wechselte. Die Folgen begleiten sie hingegen noch heute: “Ich glaube, die Schuldzuweisungen und das Verlieren meines sozialen Umfeldes waren für mich schlimmer als die Vergewaltigung selbst. Zumindest habe ich daran heute noch mehr zu knacken. Wenn mir jemand die Schuld an etwas gibt, raste ich sofort aus. Das fängt mit Schreien an und endet in heftigem Weinen. Ich habe auch schon vor Wut mit einer Fernbedienung geschmissen oder gegen einen Stuhl getreten.” Das sei auch für ihr Umfeld schwierig. “Ich kann mich zwar entschuldigen und erklären, was die Situation in mir ausgelöst hat, aber viele Menschen haben kein Verständnis. Oder sie haben Verständnis, wollen jemanden wie mich aber trotzdem nicht in ihrem Leben haben”, sagt sie. Nach der Tat habe sie zwei Jahre lang gar nichts gefühlt. Das Trauma sei so schwerwiegend gewesen, dass sich ihre Gefühlsebene komplett abgespalten habe. Die Folge: schwere Depressionen. 

“Ich glaube, das wäre nicht der Fall, wenn man mir damals geglaubt hätte. Wenn jemand – abgesehen von meiner Mutter und meiner Therapeutin – mir gesagt hätte, dass alles gut wird. Und wenn jemand den Tätern Vorwürfe gemacht hätte und nicht mir”, sagt sie.

Stattdessen lebten die mutmaßlichen Täter weiter unbehelligt in ihrer direkten Nachbarschaft. Sophie beschreibt eine Situation, in der sie bei ihren Großeltern im Auto gesessen und einen von ihnen zufällig auf der Straße gesehen habe: “Ich hatte in dem Moment das große Bedürfnis ihn anzufahren. Die Wut war in dem Moment richtig körperlich, ich habe gezittert und hatte Herzrasen”. Irgendwann habe sie es nicht mehr ausgehalten. Anderthalb Jahre nach der Tat zog ihre Familie in eine andere Stadt.

Heute seien ihre Gefühle für die mutmaßlichen Täter weniger stark, erzählt sie. “Ich frage mich, was ihnen im Leben widerfahren sein muss, dass sie mit 14 so eine Tat begehen”. Mittlerweile gebe sie eher der Gesellschaft die Schuld dafür, dass sie “solche Kinder” nicht auffängt um zu verhindern, dass sie am Ende andere Kinder vergewaltigen. 

Auf der linken Seite steht ein Glas mit Blumen und auf der rechten Seite steht die Protagonistin in einem lila Pulli und hält sich ein Stück Folie vor ihr Gesicht, damit man sie nicht erkennt.

Für eine Anzeige bräuchte Sophie vermutlich die Aussage ihrer damaligen Freundin – und die hat sie nicht. 

“Damals hätte mir eine Anzeige vermutlich mehr geschadet als geholfen”, sagt Sophie. Es fehlten die Beweise, weil nach der Tat keine Spuren gesichert wurden. “Ich weiß von meiner damaligen Therapeutin, dass noch zwei andere Mädchen aus dem Umkreis aus dem selben Grund bei ihr in Behandlung waren. Sie hat natürlich eins und eins zusammengezählt und mich nach den Namen der Täter gefragt, um sie abzugleichen, aber die anderen Mädchen haben geschwiegen.”

Sollte Sophie sich heute noch dazu entscheiden, die Tat anzuzeigen, bräuchte sie für einen Erfolg gewiss die Zeugenaussage ihrer damaligen Freundin. Da ist sich die 22-Jährige sicher. Bisher habe sie allerdings nicht die Kraft dazu gehabt, sie darum zu bitten. “Ich weiß, dass sie auch sehr unter dem was damals passiert ist gelitten hat. Es waren ja ihre Freunde, die mir das angetan haben. Ich kann mir vorstellen, dass sie damals hin und her gerissen war. Hätte sie danach allen die Wahrheit erzählt, wäre sie die gewesen, die eine Vergewaltigung nicht verhindert hat, obwohl sie die Gelegenheit dazu hatte”. Mitgefühl, dass bestimmt nicht jede Person bereit wäre aufzubringen. Trotzdem: Wenn drei 14-Jährige ein gleichaltriges Mädchen im Zimmer ihrer ebenfalls 14-jährigen Freundin vergewaltigen, dann gibt es bestimmt nicht nur ein Opfer. 

Heute hat Sophie die Kraft über das, was ihr damals passiert ist, zu sprechen. Sie wisse aber, dass vielen Betroffenen diese Kraft noch fehlt. Deswegen habe sie sich entschieden, ihre Geschichte zu teilen. “Wenn ich so auch nur eine Person motiviere, sich Hilfe zu holen, dann hat sich das für mich gelohnt”, sagt sie. 

Bist du sexuell belästigt worden oder hast sexualisierte Gewalt erlebt? In Deutschland bekommst du Hilfe unter der Telefonnummer 0800 22 55 530. Mehr Infos findest du auf dem Hilfeportal der Bundesregierung. Wer in der Schweiz sexualisierte Gewalt erlebt hat, findet bei der Frauenberatung Links zu Beratungsstellen, betroffene Männer erhalten Hilfe im Männerhaus. In Österreich wird ein 24-Stunden-Hilfenotruf unter 01 71 719 angeboten. In jedem Fall gilt: Wende dich auch an die Polizei in deiner Nähe und zeige den Täter oder die Täterin an.

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