„Ich fühle mich die ganze Zeit ein wenig fremd“—Als Ausländer bei einer Rammstein-Show in Berlin

Ich bin Afrikaander. Das ist eine weiße Bevölkerungsgruppe aus Südafrika, die hauptsächlich von niederländischen Siedlern abstammt. Afrikaander werden in einen Schuldkomplex hineingeboren und unser Volk wird mit militarisiertem Rassismus in Verbindung gebracht—ich schätze, das haben wir mit den Deutschen gemeinsam. Geschichtliche Bösewichte, sozusagen. Die Generation meines Vaters hat viel Zeit damit verbracht, an der Grenze zu Angola gegen die von der Apartheidsregierung heraufbeschworene „kommunistische Bedrohung“ zu kämpfen. Hinzu kommt noch, dass die Geschichte der Afrikaander von Calvinismus, Stolz und Nationalismus geprägt ist. Auch haben viele Afrikaander deutsche Wurzeln. Vielleicht überrascht es da nicht allzu sehr, dass Rammstein in Südafrika schon lange beliebt sind. Ich begegnete der Band zum ersten Mal 2004, als ich 12 war und Reise, Reise erschien. Wie die meisten Kids in diesem Alter war ich sofort besessen von ihnen und Nu-Metal und all dem anderen lauten Sound, der damals so lief.

Das Album hörte sich an wie chaotische Ordnung. Es war Kampf-Sound, der militärische und nationalistische Ästhetik einfing, ein hungriges, industrialisiertes Monster. Es ist nicht so, als hätten die Afrikaander einen Militär-Fetisch; es ist viel mehr ein Faible für strikte Ordnung, Dominanz, Maskulinität und Triumph—Eigenschaften, die manchmal unfairerweise den Deutschen zugeschrieben werden, aber die bei meinem eigenen Volk mehr als nur ein bisschen zutreffen.

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Wir konnten die Texte nicht verstehen, aber das war uns auch nicht wichtig—auf das Gefühl kam es an, und das war intensiv. Spätestens nach dem Erscheinen von „Links 2-3-4“ (2001) wurde die Band von den Intellektuellen der Welt ausgiebig analysiert, doch vor den Zeiten des Breitband-Anschlusses bekam Südafrika davon herzlich wenig mit. Die Bedeutung des Songs, der als Rammsteins Reaktion auf die Rechts-Gerüchte gilt, ging so weit an mir vorbei, dass sie wahrscheinlich irgendwo in Madagaskar landete. Für mich war das einfach der Soundtrack zu einem Nazi-Marsch; ich sah Tausende Springerstiefelpaare, die synchron stampften, und dachte dabei nicht an die tatsächliche Bedeutung des Nazismus (die ich mit 12 ohnehin nur vage kannte). Das Zeug machte süchtig. Es sprach einen unzivilisierten Teil von mir an, der unterbewusst Eroberung und „Volk” glorifizierte.

Es ist ziemlich vielsagend, dass wir niemals versuchten, die Texte zu übersetzen, und dass wir uns niemals etwas von dem visuellen Content der Band ansahen. Vielleicht hatten wir Angst davor, was wir hätten entdecken können. Wenn ältere Fans Videos wie das von „Mann gegen Mann” gesehen hätten, wäre ihnen vielleicht aufgegangen, dass nicht alles für bare Münze zu nehmen ist, und das hätte ihren Enthusiasmus eventuell gedämpft. Auch machte ich mir keine Gedanken darüber, wie Deutsche wohl das ultra-stereotype Image empfanden, das die Band verkörperte. Für einen südafrikanischen Teenager Anfang der 2000er waren Rammstein einfach nur eine weitere Nu-Metal-Band, ein Korn oder ein Slipknot, das lediglich auf etwas andere psychische Knöpfe drückte. Als ich die Band während meines Studiums wiederentdeckte, hatte ich mehr Ahnung vom anhaltenden Identitätsdiskurs im Post-Apartheid-Südafrika. Plötzlich ergab die Kontroverse, die Rammstein losgetreten hatten, viel mehr Sinn.

Sich ständig vor der Weltöffentlichkeit rechtfertigen zu müssen, ist emotional ermüdend, vor allem in kreativen Bereichen wie Musik und Schriftstellerei. Plötzlich konnte ich mir gut vorstellen, warum man als Deutscher Rammstein hassen könnte. Eine kleine Suche auf Reddit und Google bestätigte diese Theorie: Die Menschen mögen keine Stereotypen, die sie selbst betreffen. Afrikaander wollen nicht als primitive, hasserfüllte und rassistische Höhlenmenschen dargestellt werden. Deutsche wollen keine marschierenden Roboter-Krauts sein. Und oft hat ein Schuldkomplex weniger damit zu tun, wie man sich selbst sieht, und mehr damit, wie Andere einen sehen—du selbst weißt ja sehr gut, ob du faschistisch eingestellt bist oder nicht. Was denkt also die Welt über dich, wenn einer der größten Exporthits aus deinem Land ästhetisch und klanglich diesem furchterregenden Bild entspricht?

„Stereotype” ist wirklich das Schlüsselwort. Das ist es, wovon Rammstein sich nähren, und das ist es, was die Band verkauft. Ich erzählte einer deutschen Freundin, wie sehr ich mich darauf freute, eine Band zu fotografieren, die ich schon als Teenager geliebt habe. Aus ihrem Blick sprach Abscheu. „Na dann, viel Spaß. Die sind so peinlich.” Und dann stellte ich mir vor, was es für einen Shitstorm auslösen würde, wenn eine afrikaanse Band Symbole der Apartheid und der Südafrikanischen Union (dem Vorgänger des heutigen Staats) mit todernst vorgetragener, aggressiver Musik verbinden würde. Ich konnte verstehen, warum meine Freundin so dachte. Ich glaube, das ist etwas, das Menschen ohne diese „Erbschuld” vielleicht nicht ganz nachvollziehen können.

Was passiert, wenn eine Band zum Idol erhoben und kollektiv verehrt wird? Was empfinde ich, ein Afrikaander mit einem historisch bedingten Tätervolk-Komplex, wenn ich sehe, wie 22.000 Deutsche die Hände und Fäuste recken, während eine messianische Gestalt in halbem Corpsepaint und Industrial-Lederhosen Zeilen skandiert, die nach Propaganda klingen? Genau das wollte ich herausfinden, also mischte ich mich unter die Rammstein-Horde, die letzten Samstag vor der Waldbühne in Berlin wartete.

Die Show sieht nach einer perfekten Mischung aus den widersprüchlichen Stereotypen aus, die Deutschen oft zu schaffen machen: übermenschlich effiziente Roboterleute auf der einen Seite, zutiefst perverse Sex-Freaks auf der anderen. Aber das ist wohl auch Rammsteins Absicht. Eine Überwindung der Vergangenheit, die neue Bahnen bricht.

Ein Rammstein-Konzert ist so etwas wie eine selbsterfüllende Prophezeiung, denn eine Live-Show hat immer den Charakter eines Spektakels und erschafft eine Art Machtverhältnis zwischen Musikern und Publikum. Wenn Till Lindemann seine Hände emporreckt und in die Masse blickt, seine Augen wie inkarnierte Schwerkraft, dann kocht die Menge fast über und er wird zu einer Art Messias. Die beeindruckende Freilichtbühne und die Landesgeschichte erledigen den Rest. Aber ist das vielleicht nur etwas, das ich reininterpretiere? Oder ist es tatsächlich gewollt? Vielleicht liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen. Ein Stück weit lässt es sich nicht vermeiden, dass sehr beliebte Künstler wirken wie abgöttisch verehrte Lichtgestalten, wenn sie vor ihre Fangemeinde treten. Doch bei Rammstein gibt es von der ersten Reihe bis ganz hinten auf den Rängen keine Person, die nicht auf jede Handlung der Band reagiert. Eine solche Beteiligung und Begeisterung des Publikums habe ich bei einem so großen Konzert in Südafrika noch nie gesehen.

Außerdem bringt die Musik von Rammstein dich ja dazu, dass du im Takt marschieren und schreien willst. Wenn dieser große, stämmige, in Leder gekleidete Mann von Flammen umzüngelt dasteht und dir Strophe um Strophe kehliges, hypnotisches Deutsch entgegenballert, von dem du kein Wort verstehst, aber von dem jede Silbe dich wie ein bedeutungsgeladener Hammer in die Magengrube trifft, wie sollst du dich da auch fühlen? Als ob dir deine Schwester ein Küsschen auf die Wange gibt? Nein, du willst verdammt nochmal ausrasten. Und die anderen 22.000 Fans auch.

Gleichzeitig fühle ich mich hier aber auch die ganze Zeit ein wenig fremd. Das kommt sicher von der Sprachbarriere, und vielleicht auch von den etwas seltsameren Bühnen-Moves, die Bandmitglieder wie Flake bringen. Vielleicht verstehen Deutsche ja, was es mit seinem wilden Gezappel und seinem seltsamen Lächeln auf sich hat? Ich jedenfalls nicht. Doch die kollektive Energie macht das alles wett. Etwas Unbeschreibliches liegt in der Luft, das selbst die Bandmitglieder vermutlich schwer in Worte fassen könnten. Und es hat mich erfasst, denn ich stehe hier und sehe mir Rammstein an, liebe jede Sekunde davon und frage mich, ob eine afrikaanse Band damit davonkommen könnte.

Zwar ist mir inzwischen klar, dass Rammstein mit einem zwinkernden Auge agieren, oder zumindest gewisse Rollen spielen, aber ich muss gestehen, dass ich mit einer gewissen Rest-Angst zum Konzert gehe: Vielleicht gibt es ja viele Fans, die das anders sehen? Es sind wirklich sehr viele Menschen hier—ein Publikum von dieser Größe sieht man in Südafrika fast nie. Dass es Deutsche gibt, die tatsächlich denken, dass Rammstein zu irgendeinem Zeitpunkt rechts waren, konnte ich mir schwer vorstellen, doch Nachrichten-Clips auf YouTube aus der Ära von Herzeleid und Sehnsucht haben mir ein anderes Bild gezeigt. Neo-Nazis sehe ich im Publikum allerdings keine. Es gibt jede Menge Leute mittleren Alters und schreiende Fanatiker, aber nichts Anstößiges. Irgendwie fühle ich mich in die 90er und die frühen 2000er zurückversetzt. Es kommt wirklich darauf an, wie die Verehrung der Band inszeniert wird, und Rammstein wirken, als seien sie sich darüber schon immer im Klaren.

Das uhrwerkartige Timing der Band und das völlige Fehlen selbst kleinster Verspieler schreien nach deutscher Effizienz, wie ein BMW, der mühelos die engsten Kurven nimmt. Ich komme aus einem Drittweltland, und dieser Gedanke drängt sich mir einfach auf. So funktionieren Stereotypen nun einmal. Es ist ja auch kein negatives Klischee, aber trotzdem. Die Höllenfeuer-Pyrotechnik, überall Geruch nach Schwarzpulver und tonnenweise Stahl, die riesigen, flammensprühenden Flügel, die Lindemann beim „Engel”-Finale trägt—jeder hat schon einmal von einem Rammstein-Konzert gehört, aber selbst dabei zu sein, ist etwas ganz anderes.

Und wenn die homoerotischen Themen und die spektakuläre Darbietung nicht ausreichen, um Idioten zu verdeutlichen, dass Rammstein nicht rechts sind, dann sollten Songs wie „Amerika” es eigentlich laut und deutlich sagen: Die gesamte Menge wird mit rot-weiß-blauem Konfetti-Ejakulat berieselt, womit Rammstein auch das Klischee von den humorlosen Deutschen gründlich ausgeräumt hätten. Sie sind gleichzeitig die wohl deutscheste Band der Welt und die absolute Antithese dessen—vielleicht werden sie zu Letzterem, weil sie sich als Ersteres geben. Das ist durchaus ziemlich effizient.

Möglicherweise verehren die Fans Rammstein gerade deswegen so sehr, weil sie mit so viel Mumm vor den Kopf stoßen und völlig unbekümmert um ihr Image sind. Darin bilden sie einen starken Kontrast zum berühmtesten südafrikanischen Export der letzten Jahre, Die Antwoord. Die Rap-Raver sind bereits ähnlich kritisiert worden, weil sie die südafrikanische Identität auf kontroverse Art repräsentiert haben. Doch wo Die Antwoord gezielt versuchen, kontrovers zu sein, sind Rammstein schon immer herrlich aufrichtig—und eventuell sagt das ja viel mehr über den Landescharakter aus.

Stellen Rammstein einen unabdingbaren Teil der deutschen Kulturlandschaft dar, etwas, dass Deutschland braucht, um eine postmoderne Identität zu verarbeiten? Ist das die Absicht der Band? Wahrscheinlich nicht. Aber es wirkt auf mich trotzdem so, als hätte sie genau das erreicht, wenn ich mir die 22.000 Fans ansehe, die sechs Landsleuten zujubeln, während sie den düsteren Kern einer widerwillig geerbten kollektiven Identität auf die Schippe nehmen. Rammstein kommen mir vor wie ein Mittel zur Verdauungsförderung, ein Werkzeug, um die Vergangenheit zu bewältigen. Afrikaander haben so etwas noch nie gehabt, und das merkt man auch. Man merkt es an meiner grundlosen Angst vor dem Konzert, und man merkt es daran, dass wir selbst 2016 noch nichts Ähnliches hervorgebracht haben. Und darum beneide ich die Deutschen wirklich sehr.

Rammstein haben am Samstag „Links 2-3-4″ gar nicht gespielt. Wahrscheinlich müssen sie das gar nicht mehr. Ich stehe im Pit und lasse den Blick über die Tausenden Menschen im Amphitheater schweifen, und der Anblick gibt mir Recht.