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Wie es ist, deine geraubten Kulturgüter endlich wieder in Händen zu halten

Colonial loot – Bald man wearing a face mask and disposable gloves, carefully examining a wooden object with the carving of a woman on top of it.

Diesen Januar stellte das renommierte Mauritshuis-Museum in Den Haag einen besonderen Holzstab aus. Der mit einer lächelnden Frauenfigur verzierte “magische Stab” war vor über 120 Jahren durch einen deutschen Missionar aus Südamerika vom Volk der Ndyuka in die Hände eines Sammlers gelangt. Dieser übergab ihn dem Ethnologischen Museum Berlin, in dessen Besitz sich der Stab bis heute befindet.

In der Ausstellung sieht man neben dem Stab in einer Kurzdokumentation, wie der niederländisch-surinamischen Dichter Onias Landveld das Artefakt vorsichtig in den Händen hält und ausführlich betrachtet: “Was haben sie dir angetan?” Landveld ist Nachfahre der Ndyuka. Das Volk war Teil der Maroons – größtenteils afrikanischen Menschen, die aus der Sklaverei geflohen waren und im südamerikanischen Regenwald von Suriname ihre eigene Gemeinschaft, Kultur und Rituale erschufen.

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In der experimentellen Ausstellung Raubkunst – 10 Geschichten zeigen Kel O’Neill und Eline Jongsma verschiedene gestohlene und geraubte Kulturgüter mit ihren jeweiligen Geschichten. In einem hellen Raum befinden sich zehn Objekte, die einst ihren ursprünglichen Besitzern genommen wurden. Dazu gehörten neben dem Ndyuka-Holzstab auch ein Originalpferdekopf der Quadriga-Skulptur vom Brandenburger Tor, ein asymmetrischer Dolch aus Bali und ein Selbstporträt von Rembrandt.

O’Neill und Jongsma sind keine klassischen Kuratoren, sondern machen eigentlich Dokumentarfilme. Die Objekte, die sie sich für die Ausstellung von verschiedenen Museen geliehen haben, hatten sie “nach Gefühl” ausgewählt, sagt Jongsma. “Für uns war die Geschichte dahinter wichtiger als die Frage, ob das Objekt schön ist oder nicht.” Die Auswahl vermittelt auch ein Gefühl dafür, wie komplex die Begriffe Beute- und Raubkunst sind.

Während Raubkunst vor allem Werke umfasst, die die Nazis den von ihnen verfolgten Juden stahlen, beschreibt Beutekunst Objekte, die in Kriegen erbeutet wurden. In den vergangenen Jahren dreht sich die Diskussion um Museumsbestände aber vermehrt um kolonialer Raubkunst: Objekte, die während der Kolonialzeit unter zweifelhaften Umständen in den ethnologischen Sammlungen der Herrschaftsländer gelandet sind.

In diese Kategorie fällt auch der Holzstab der Ndyuka. Er sei das Herz der Ausstellung, sagen O’Neill und Jongsma. An ihm zeige sich die emotionale Seite der geraubten Gegenstände. Onias Landveld stammt von den Ndyuka ab und hat mehrere Stücke über seine Herkunft geschrieben. Das Berliner Humboldt Forum hatte ihn eingeladen, um sich den Stab und andere Ndyuka-Gegenstände anzuschauen.

Es sei eine sonderbare Erfahrung gewesen: “Wie kann man etwas vermissen, von dem man nicht mal wusste, dass es existiert?”, sagt Landveld. “Aber sobald man damit in Kontakt kommt, spürt man eine Leere. Es ist sehr sonderbar. Es ist ein Gefühl von Verlust, das ich kaum beschreiben kann.”

Europäische Missionare hatten versucht, die Ndyuka zum Christentum zu konvertieren und ihnen dabei ihre religiösen und rituellen Objekte abgenommen. In den Augen der Europäer waren es Symbole dämonischer Götzenanbetung. Viele Erinnerungsstücke an die Kultur der Maroon sind inzwischen komplett verschwunden.

“Es war nicht direkt der Stab, der mich am meisten bewegte”, sagt Landveld. “Das war der Anblick der Schaukästen mit den ganzen anderen Gegenständen, die sie gesammelt hatten. Als wären meine Vorfahren ein wissenschaftliches Projekt gewesen, als wäre das eine Trophäensammlung.”

Bei seinem Besuch im Museum war Landveld überrascht, auch Schwerter in der Sammlung zu sehen. “Ich musste beim Kurator nachfragen. Soweit ich wusste, hatten meine Vorfahren keine Schwerter besessen”, sagt er. “Aber sie hatten welche, bestätigte der Kurator mir. Das hat in mir eine Mischung aus Wut, Staunen und Trauer ausgelöst, aber auch Freude und Stolz.” Die Schwerter seien nämlich Beweis für eine Kultur, die kunstfertig, intelligent und talentiert war – Menschen, die wussten, wie man im Dschungel überlebt. “Dafür braucht es viel Erfindungsgeist.”

Die Motivation des Ausstellungsmachers O’Neill sei mitunter seine starke Überzeugung gewesen, dass Museen Teile ihrer Sammlungen Repräsentanten der jeweiligen Volksgruppen zugänglich machen sollten, von denen sie ursprünglich stammen. “Man sieht die emotionale Reaktion auf dieses bestimmte Stück kolonialer Raubkunst”, sagt er. “Es gibt möglicherweise allein in derselben Sammlung Hunderte oder sogar Tausende Objekte, die eine ähnliche emotionale Bedeutung für die Menschen aus den jeweiligen Kulturkreisen haben.”

O’Neill und Jongsma wollen mit ihrer Arbeit außerdem Museen dazu motivieren, ihren Umgang mit ihren Sammlungen sowie ihre eigene Funktion zu überdenken. “Dieser Stab ist vor allem wegen seiner Geschichte bemerkenswert”, sagt Jongsma. “Über 100 Jahre wurde er zur Schau gestellt, ohne dass etwas passierte oder darüber gesprochen wurde. Und jetzt geht seine Geschichte plötzlich weiter.”

Für Landveld kann man den Wert greifbarer historischer Objekte nicht zu hoch einschätzen. “Ohne sie existiert man nicht”, sagt er. “Der Sieger schreibt die Geschichte und wenn nichts Greifbares von einer Gruppe bleibt, kann sie wortwörtlich ausgelöscht werden. Jeder kann dann über einen sagen und denken, was er will.”

Viele afrikanische und karibische Kulturen sind schriftlos, ihre Traditionen leben durch mündliche Überlieferung weiter. “Weil etwas nicht niedergeschrieben ist, glauben Menschen, dass es nie existiert hat. Aber das ist falsch”, sagt Landveld. “Politiker können das ausnutzen und so tun, als wäre der Westen die Wiege der Zivilisation, als wären Schwarze und Braune Menschen rückständig. Deswegen ist es so wichtig, Geschichte greifbar zu machen. Es hilft, Menschen auf Augenhöhe zu bringen.”

Landveld möchte, dass Museen und andere Kultureinrichtungen die Objekte wieder den Menschen übergeben, denen sie einst gestohlen wurden. “Versteckt euch nicht hinter Gesetzen”, sagt er. “Manchmal erschweren die politischen Umstände eine Rückgabe. Aber man kann damit anfangen, ihre Eigentümerschaft anzuerkennen. Die Vergangenheit lässt sich nicht mehr korrigieren, aber für die Zukunft kann man etwas tun.”

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