Dieses unerträgliche Geräusch, wenn Metall auf Metall schabt. Es kreischt und kratzt in Natashas ganzem Kopf, als der Arzt ihr mit einer Pinzette das glänzende Objekt aus der offenen Wunde in ihrem Hinterkopf entfernt. Mit einem Klirren landet das Metallstück im Stahlbehältnis.
“Was ist das?”
“Das ist eine Pistolenkugel, Frau Stieger*.”
“Wieso lebe ich dann noch?”
“Das kann ich Ihnen auch nicht sagen.”
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Stunden zuvor: Natasha begleitet eine Freundin zu einem Friseurtermin, die beiden verbringen den ganzen Tag gemeinsam. Es ist ein kühler Tag im Juli 2012. Gegen Mitternacht fahren sie mit der S-Bahn vom Schweizer Städtchen Aarau, das auf halber Strecke zwischen Basel und Zürich liegt, wieder heim ins Dorf Hirschthal. Nachdem es die letzten Tage warm war, bis zu 33 Grad wurden gemessen, hatte es sich nun endlich angenehm abgekühlt. Die beiden damals 18-jährigen Frauen beschließen, den restlichen Nachhauseweg zu Fuß zu gehen.
Da ihre Freundin in die andere Richtung muss, verabschiedet sich Natasha noch an der Haltestelle und geht alleine weiter. Auf dem Weg zum 1.100 Einwohner-Dorf ist es komplett still. Kopfhörer rein, Musik an. In zehn Minuten wird sie zu Hause sein.
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Plötzlich bemerkt sie, dass jemand wenige Meter hinter ihr hergeht. Komisch, denkt Natasha, sie hatte gar nicht bemerkt, dass sonst noch wer ausgestiegen war. Der Unbekannte ist ihr so nahe, dass sie durch das Licht der Straßenlaterne seinen Schatten vor ihrem sieht. Sie steigert ihr Tempo, normalerweise hängt sie so alle ab. Nicht ihn. Auch er geht plötzlich schneller.
“Das bildest du dir doch nur ein”, denkt sie erst. Aber sie merkt, dass hier irgendwas nicht stimmt. Sie schaltet die Musik leise, um die Geräusche um sich herum zu hören. In ihrem Kopf geht sie durch, was sie im Falle eines Angriffs machen würde. Schreien. Gezielter Tritt in die Weichteile. Schlag in den Bauch.
Natasha ist angespannt. In den Taschen ihres Hoodies ballt sie ihre Hände zu Fäusten. Dennoch versucht sie, sich gedanklich zu beruhigen: “Das wird schon nichts sein. Da passiert doch nichts.”
Dann spürt sie einen harten Schlag auf ihren Hinterkopf. Im ersten Moment ist sie geschockt, dann spürt sie nur noch Wut. Was erlaubt sich dieser Typ, sie anzufassen, ihr wehzutun. Sie dreht sich um. Er steht direkt vor ihr. Sie überlegt keine Sekunde und stürzt sich auf sein Gesicht. Sie schreit. Sie kratzt ihn. Sie schlägt mit ihren Fäusten auf ihn ein. Im Kampf fallen beide zu Boden. Er drückt sie auf den Asphalt, sitzt auf ihren Brustkorb, seine Hände um ihren Nacken. Natasha gräbt ihre Fingernägel in seine Augenhöhlen, reißt an seinem Ohr, schreit noch immer. Er drückt ihr die Kehle zu.
Sie bekommt kaum noch Luft, kann nicht mehr schreien. Sie will sich einprägen, wie ihr Angreifer aussieht, schaut ihm direkt in die Augen. Ein paar braune Augen starren zurück. Als ob er herausfinden will, wie lange es noch geht, bis sie tot ist. Er wirkt entschlossen.
Natashas Sichtfeld wird kleiner, langsam wird es ihr schwarz vor Augen. Sein Gewicht, das gegen ihren Körper presst, nimmt sie inzwischen nicht mehr wahr. Auch die Schmerzen spürt sie nicht mehr. Ihr Körper will loslassen, sich dem Gefühl ergeben.
Dann hört sie innerlich diese Stimme: “Wach auf oder du bist tot!”
Adrenalin schießt in ihren Körper.
Sie schlägt die Augen wieder auf. Gräbt erneut mit aller Kraft ihre Nägel in seine Augen. Dann plötzlich lässt er von ihr ab und rennt weg.
Sie steht auf. Was zur Hölle ist gerade passiert? Ihr erster Gedanke: “Wo ist mein Handy?” Ihr zweiter Gedanke: “Scheiß auf dein Handy!” Sie schaut ihm hinterher. In der Ferne bleibt er stehen. Auf der Straße ist es wieder still, nur sie beide. Für einen kurzen Moment schauen sie sich noch einmal an. Dann rennt er weiter.
Natasha läuft so schnell sie kann in die entgegengesetzte Richtung nach Hause. Den ganzen Weg lang schreit sie, irgendjemand muss sie doch hören. Als sie in die Nähe ihres Elternhauses kommt, stürzt ihre Mutter zur Tür heraus.
“Was ist passiert?!”
“Jemand hat mich angegriffen!”
“Wollte er dich ausrauben?”
“Nein, Mama. Der wollte mich nicht ausrauben.”
“Was dann?!”
“Ich glaube, er wollte mich umbringen.”
Sie holt ihre Tochter ins Haus, setzt sich mit ihr aufs Sofa. Ihre Mama entdeckt die Wunde an Natashas Kopf und ruft bei der Polizei an. Ob sie einen Krankenwagen brauche? Natasha verneint. Sie habe nur Kopfschmerzen. Wenige Minuten später sitzen eine Beamtin und ein Beamter mit Natasha am Küchentisch und lassen sich von ihr die Ereignisse schildern. Dann stört eine verzerrte Stimme das Gespräch, der Polizist hält sein Funkgerät ans Ohr. “Sieht man dem Typen an, dass Sie sich verteidigt haben?”, fragt er und blickt zu Natasha. “Garantiert.” “Gut, dann haben wir ihn.” Erleichterung.
Die Kleider, die sie bei dem Angriff anhatte, muss Natasha als Beweisstücke abgeben. Im Dorf werden einige Leute später sagen, dass das ja klar war, so wie sie sich angezogen habe. An dem Abend trug sie eine schwarze Jeans und einen Hoodie.
Die Polizisten nehmen sie mit an den Tatort, damit sie den Hergang so genau wie möglich erklären kann. Dort sieht sie, dass die Polizei eine Schusswaffe findet, die ihr Angreifer bei der Flucht offenbar liegen gelassen hatte. “Da hatte ich ja Glück, dass er nicht geschossen hat”, denkt Natasha.
Es ist 4 Uhr morgens, als sie in Begleitung der beiden Polizisten und ihrer Mutter einem Arzt gegenübersitzt. Er tastet ihren Hals ab; als sie dafür den Kopf nach hinten neigt, entdeckt ihre Mutter in der Wunde am Kopf ihrer Tochter etwas Glänzendes und bittet den Arzt, sich das anzuschauen. “Gleich”, vertröstet er die Mutter. Erst als er den Hals fertig untersucht hat, wirft er einen Blick auf ihren Hinterkopf. Dann, so erzählt es Natashas Mutter heute, wird das Gesicht des Arztes weiß. Wortlos verlässt der Mediziner den Raum, kehrt mit einer Pinzette zurück.
Als sie im Spitalbett liegt, schläft sie sofort ein. Das erste, was sie am nächsten Morgen sieht, ist das Gesicht eines Polizisten, der über ihr Bett gebeugt steht, um sie zu den Ereignissen der letzten Nacht zu befragen. Was alle irritiert: Natasha fühlt sich ausgeschlafen, ist gut aufgelegt. Schließlich hatte sie überlebt. Wenige Tage später darf sie nach Hause. Noch immer fühlt sie sich gut.
Ihr Haus wird unterdessen von Journalisten und Fotografinnen belagert. Blumensträuße treffen ein, mit Visitenkarten von diversen Redaktionen. Im Ort ziehen Reporter um die Häuser, die ihren Freunden Geld anbieten, wenn sie weitere Details der Story preisgeben.
Dennoch: Natasha fühlt sich die ersten paar Wochen gut. Bis sie auf dem Nachhauseweg – demselben Weg wie in der Tatnacht – seinen Eltern begegnet. Natasha erkennt sie aus einem Interview, das sie dem lokalen Fernsehsender gegeben haben.
Ihr Sohn sei ein guter Bub, haben sie im Interview gesagt. Er habe nichts gemacht. Und überhaupt gehe es Natasha ja gut. “Total übertrieben” sei die Behandlung ihres Sohnes.
Natasha kannte die beiden vom Sehen, erzählt sie. Die Mutter, eine ältere, gebrechliche Frau, die kaum gehen konnte und auf den Spaziergängen dem Vater hinterherhumpelte. Natasha hatte sie immer freundlich gegrüßt. Jetzt ist es die Mutter, die “Grüezi!” sagt. Das ist das letzte Mal, dass Natasha den Weg alleine und zu Fuß geht.
Von da an fahren sie ihre Eltern überall hin. Verschieben Schichten, damit ihre Tochter nirgends alleine hin muss. Dann kommen die Albträume. Immer geht es dabei um ihn. Wenn nicht er sie in ihren Träumen verfolgt, ist es irgendein anderer Mann, der versucht, sie umzubringen.
Sie geht nicht mehr aus, Freunde lädt sie nur noch zu sich ein. Für rund zwei Monate geht sie ihrer Mutter zuliebe zur Therapie. Das Fazit des Psychologen: Sie meistert die Situation so gut, wie es eben geht.
Ihr Angreifer muss vor Gericht. Natasha entscheidet, vor ihm auszusagen, sie will ihn sehen. Sie hofft, so mit der Sache abschliessen zu können. Als sie im Gerichtsgebäude wartet und ihr Angreifer von Polizisten flankiert das Gebäude betritt, bereut sie ihre Entscheidung. Sie versteckt sich hinter ihrer Mutter, hat Mühe, ihn anzuschauen.
Als sie im Gerichtssaal beginnt, die Geschichte aus ihrer Sicht zu erzählen, wünscht sie sich doch, dass er sie zumindest kurz anschaut. Er ignoriert sie. Sie würde am liebsten schreien: “Registrier mich! Registrier, dass ich auch hier bin!” Aber sie sagt nichts. Erneut sieht sie diese Gleichgültigkeit, die sie bereits gesehen hat, als er in jener Nacht versuchte, sie zu töten.
Er entschuldigt sich nicht. Er zeigt keine Reue. 20 Jahre Gefängnis mit anschließender Verwahrung, so das Urteil. “Eine tickende Zeitbombe” nennt ihn der Staatsanwalt, wie der Blick später schreibt.
Ab und zu fragt sie sich, was damals in ihm vorgegangen sei, sagt Natasha heute. “Wütend bin ich nicht mehr. Ich konnte ihm schon ein bisschen verzeihen.” Dennoch hat sich für sie vieles verändert. Dinge, die sie früher als absolut unwahrscheinlich einstufte, erscheinen ihr heute plausibler. Es war ausgerechnet sie, die angeschossen und Opfer eines versuchten Mordes wurde. Wieso sollte sie nicht Opfer eines Flugzeugabsturzes werden? Hört sie in der Nacht Geräusche, denkt sie als erstes an einen Mörder. Geht sie allein zur Toilette und ein fremder Mann folgt ihr, macht sie das nervös. “Es ist absolut möglich und plausibel, dass er mir auf die Toilette folgt, um mir was anzutun”, denkt sie dann. Auch zu Hause alleine zu sein, fällt ihr oft schwer.
Was ihr hilft: ihre Hündin Elfie bei sich zu haben. Seit sie die schwarze, schwer atmende Französische Bulldogge begleitet, geht sie auch wieder alleine raus. Es ist ein kleiner Sieg. So zwang sie sich auch, drei Wochen lang ihre Lieblings-Krimiserie anzuschauen. “Das wollte ich mir nicht von ihm wegnehmen lassen”, sagt sie. Auch wenn es drei schreckliche tränenreiche Wochen waren. Heute könne sie die Sendung wieder genießen. Außer es geht um einen Fall, der ihrem zu ähnlich sei. “Dann kommen sofort die Tränen.”
Was ihr heute noch wichtig ist: Anderen zu sagen, dass es sich lohnt, sich zu wehren. “In meinem Kopf habe ich ihn besiegt.”
*Familienname der Redaktion bekannt