Wie Fitness-Apps Essstörungen befeuern

Illustratie door Jacqueline Lin

Schlagwörter wie “Fasten”, “Kalorienzählen”, “Schrittzähler” und “BMI” liefern im App Store Hunderte Ergebnisse. Für jede Trend-Diät gibt es meist auch eine App. Ende 2017 machte das “Wasserfasten” Schlagzeilen – wer diese Methode befolgt, konsumiert nur noch Wasser, entgegen jeden medizinischen Rat. Wasserfasterinnen hielten ihr Vorgehen auf der neuen App Vora fest und präsentierten ihre Ergebnisse stolz auf Instagram. Auf Vora können Nutzer Intervallfasten tracken, Profile erstellen, Freunden folgen, ihre Fasten-Erfolge veröffentlichen und die ihrer Mitnutzer kommentieren. Dass Intervallfasten gesund sein kann, ist bewiesen, auch wenn viele es nur zum Abnehmen nutzen.

Dass diese Apps beliebt sind, ist kein Wunder. Der Wunsch, gesünder zu leben und damit vermeintlich attraktiver zu werden, treibt viele Menschen um. In den Händen von Frauen, die an einer Essstörung leiden, können Abnehm- und Fitness-Apps allerdings zu einem gefährlichen Werkzeug werden.

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“Pro-Ana” (kurz für “Anorexia”) nennen sich Blogs und Nutzerinnen, die Magersucht propagieren. “Ich hab eine neue App, Vora”, schreibt die Betreiberin eines Pro-Ana-Profils auf Instagram. Daneben präsentiert sie einen Screenshot, der zeigt, wie sie an sechs aufeinanderfolgenden Tagen je 15 Stunden gefastet hat. “Mein endgültiges Zielgewicht kann ich bis zum Jahresende noch schaffen, wenn ich meinen fetten Arsch hochkriege.” Eine andere Nutzerin zeigt einen Screenshot von einer 16-stündigen Fasten-Session auf Vora, dazu die Hashtags #thinspiration und #almostskinnygirl. “Ich hab’s noch mal geschafft. 15 Stunden Wasserfasten”, schreibt eine Dritte. “Heute bin ich wieder stolz auf mich. Ich esse jetzt einen Apfel, meine erste Mahlzeit seit 15 Stunden. Heute Abend trainiere ich.” Sie beendet ihren Post mit dem Versprechen, in Zukunft noch länger am Stück zu fasten.


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Frauen mit Essstörungen teilten in Pro-Ana-Foren ihre Vora-Nutzernamen, um sich auf der App zusammenzuschließen und gegenseitig motivieren zu können. “Ihr habt mich dazu gebracht, diese App wieder zu benutzen. Ich hatte vergessen, wie praktisch sie ist”, schreibt eine Nutzerin. Eine andere erklärt: “Mir gefällt die Vorstellung von einem Social-Media-Feed, der nur aus Leuten besteht, die auch fasten. Das hilft dermaßen, bei der Stange zu bleiben!”

Seit sich Menschen sozial im Internet vernetzen, tun das auch Essgestörte in Pro-Ana-Foren. Seit es Social Media gibt, finden sie einander auch auf Plattformen wie Instagram, um Abnehm-Tipps auszutauschen. Fitness- und Abnehm-Apps laden Essgestörte geradezu dazu ein, ihre Störung offen auszuleben.

Nur wenige Studien erforschen bisher den Zusammenhang zwischen Apps und Essstörungen. 2017 stellte eine Umfrage unter 493 Studierenden eine mögliche Verbindung zwischen Kalorienzählen (wie mit FitBits und ähnlichen Geräten) und gestörtem Essverhalten fest. Die Teilnehmer sollten ihre Fitness oder ihre Kalorienzufuhr mit Tracking-Geräten verfolgen. “Personen, die Kalorienzähler einsetzten, machen sich mehr Sorgen über ihr Essverhalten”, schrieben die Forscher. Sie kamen zu dem Schluss, dass solche Geräte Menschen, die bereits an Essstörungen leiden, vermutlich mehr schaden als nützen.

Die 22-jährige Gráinne leidet seit mehr als einem Jahrzehnt an einer Essstörung. Vor fünf Jahren fing sie an, ihr Fasten zu tracken. “Ich will nicht, dass die Leute wissen, dass ich faste”, erklärt sie. “Sie nerven mich dann ständig damit, also muss ich es so heimlich wie möglich machen.”

Der Schöpfer von Vora glaubt dagegen, seine App könne Menschen mit Essstörungen helfen. Mark Halonen sagt, er habe sie ursprünglich entwickelt, um diesen Menschen genaue Daten zu ihrem Fasten zu liefern – und eine Gemeinschaft zu schaffen, in der sie sich gegenseitig Halt geben können. “Intervallfasten ist die beste Methode, um sein Gewicht zu halten oder zu reduzieren, und Vora ist die beste App, um Daten zum Fasten festzuhalten”, schreibt er Broadly per E-Mail. “Menschen mit Essstörungen haben meines Wissens nach bisher nichts als Ermutigung und Unterstützung auf Vora bekommen.” Das mag sein, die Frage ist nur: Treibt diese Art der “Unterstützung” Menschen mit Essstörungen noch tiefer in ihre verzerrte Selbstwahrnehmung?

“Essstörungen saugen den Betroffenen das Leben aus. Ich lebte sieben Jahre in einer Art Blase.”

Vora ist nicht die einzige App, die so missbraucht wird. Wenn sich Nutzerinnen in Pro-Ana-Foren über ihre liebsten Programme austauschen, fallen immer wieder die gleichen Namen: MyFitnessPal, Eating Thin, Toilet Tracker, CalorieKind, Plant Nanny, Chronometer. Auch Carrot Fit erwähnen sie; eine App, die ihre Nutzer beleidigt und einem übergewichtigen Avatar Stromstöße verpasst, wenn die Nutzerin ihre Abnehmziele nicht erreicht.

Erin Rose Puttock ist 21, Studentin und setzt sich gegen Essstörungen ein. Mit 14 Jahren wurde sie magersüchtig, mittlerweile geht es ihr besser. Sie nutzte regelmäßig die Sport-Tracker-App MyFitnessPal. “Essstörungen saugen den Betroffenen das Leben aus”, sagt sie. “Ich lebte sieben Jahre in einer Art Blase.”

Vora-Screenshot eines Pro-Ana-Accounts auf Instagram

Puttock sagt, sie habe von MyFitnessPal gewusst, bevor sie krank wurde. Schon sehr früh habe sie Probleme mit ihrem Aussehen gehabt und sich gewünscht abzunehmen. Mit 14 bekam sie ein iPhone – und lud sofort die App runter. “Ich war nicht augenblicklich besessen davon, aber ich wurde schrittweise süchtig danach, meine Kalorienzufuhr zu überwachen”, sagt sie. Schnell entwickelte sich aus der Nutzung der App eine Essstörung. “Ich checkte ständig auf MyFitnessPal, was ich noch essen kann, damit meine Kalorienzufuhr im ‘akzeptablen’ Bereich bleibt”, sagt Puttock Broadly.

Auch von der Gesundheits-App auf dem iPhone wurde sie abhängig – und die lässt sich aktuell noch nicht einmal löschen. “Vor etwa zwei Jahren wurde mir klar, dass diese App deine Schritte zählt. Zur Magersucht gehören obsessives und zwanghaftes Verhalten, also wurde daraus schnell eine weitere Sucht.” Puttock entwickelte den Zwang, täglich eine Mindestzahl von Schritten zu gehen und eine gewisse Entfernung zurückzulegen. Wenn sie ihre normale Zahl überschritt, machte sie diese neue Zahl zu ihrem täglichen Minimum. “Irgendwann geriet es außer Kontrolle, ich kam zu nichts mehr, weil ich meine Schrittanzahl erreichen musste.”

Puttock schrieb Apple und bat die Firma, die vorinstallierte Gesundheits-App optional zu machen. Sie bekam keine Antwort. “Ich hasse die App”, sagt sie. “Solche Apps gehören zu der Diätkultur, in der wir leben. Es ist sehr schwer, sich von einer Essstörung zu erholen, wenn die ganze Gesellschaft versucht, sich eine anzugewöhnen.” Auch auf Broadlys Nachfrage reagierte Apple nicht.

Eilish leidet an Magersucht, seit sie 12 ist. Die 19-Jährige fing ebenfalls damit an, MyFitnessPal zu nutzen. Statt nur ihre Fitness und Kalorienzufuhr zu tracken, entwickelte auch sie eine zwanghafte Sucht. “Ich loggte mich ständig ein, um jede Kleinigkeit festzuhalten”, erinnert sie sich. “Es waren wohl mindestens zehn Mal am Tag.”

Früher haben sich Menschen in den Online-Communitys für Esstgestörte darüber beschwert, dass MyFitnessPal Nutzern kein tägliches Kalorienziel unter 1.200 Kalorien erlaubt. Weil viele von ihnen weniger zu sich nehmen wollten, fanden Mitglieder der Community eine Methode, um die App zu hacken und ein niedrigeres Ziel zu setzen. (Auf wiederholte Anfragen von Broadly hat MyFitnessPal nicht reagiert.)

Viele der Frauen mit Essstörungen, die mit Broadly gesprochen haben, sind selbst der Meinung, dass die Apps ihre Krankheit verschlimmern. “Wenn eine App mir zeigt, wie weit ich schon gegangen bin, dann will ich nur noch weiter gehen”, sagt Gráinne. Aufgrund des Fastens habe sie schon ins Krankenhaus gemusst, mit extremem Herzrasen und gefährlich niedrigen Blutzuckerwerten.

Die gemeinschaftliche Komponente dieser Apps ist für manche ein besonders starker Auslöser. “Magersucht ist eine wetteifernde Krankheit, und diese Apps ermöglichen eine Art Wettbewerb mit anderen”, sagt Puttock.

“Wenn jemand versucht, weniger zu essen, dann aber sieht, dass andere ‘bessere’ Ergebnisse gepostet haben, sieht er das als Versagen.”

“Bei den allermeisten Nutzern haben solche Apps positive Auswirkungen auf den Lebensstil”, sagt Bryony Bamford. Sie ist klinische Psychologin und auf Essstörungen spezialisiert. “Aber für Menschen, die schon mit extremen Diät- oder Fitness-Regeln zu tun hatten, können sie problematisch werden.” Aber warum sind die Apps für Betroffene so motivierend?

Hinter Wellness-Apps steckt oft der Gedanke der “Gamification”: Nutzer bekommen Abzeichen oder Preise, wenn sie Gesundheitsziele erreichen, und werden so dazu motiviert, noch mehr für ihre Gesundheit zu tun. Eine Studie von 2016 kam zu dem Ergebnis, dass diese Technik Nutzern “erhebliche” Vorteile bringen kann. Doch genau dieser Gamification-Effekt motiviert Menschen mit Essstörungen, noch ungesunder zu handeln.

Die Psychologin Stacey Rosenfeld sagt, der wetteifernde Aspekt der Essstörungen zwinge die Betroffenen dazu, Vergleiche zu ziehen. “Früher konnte man sich nur im echten Leben mit anderen vergleichen, und nur in Echtzeit. Mit der modernen Technik steht die ganze Welt zum Vergleich zur Verfügung, Zeit spielt keine Rolle.


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Rosenfeld erklärt, Betroffene seien oft perfektionistisch und würden recht schwarz-weiß denken. “Wenn jemand versucht, weniger zu essen, dann aber sieht, dass andere ‘bessere’ Ergebnisse gepostet haben, sieht er das als Versagen und bemüht sich noch mehr.” Puttock bestätigt diesen Effekt. “MyFitnessPal hatte oft Updates auf der Homepage, wo Leute ihre Abnehmerfolge zeigten”, sagt sie. Diese Posts hätten ihren Essstörung befeuert.

“Ich hatte sowieso vor, Kalorien zu zählen, und das hätte ich auch im Kopf machen können”, sagt hingegen Eilish. Hätte es diese Methode nicht gegeben, hätte sie eine Alternative gefunden.

Wie können Entwickler ihre Software gegen Missbrauch sichern und gleichzeitig noch Nutzern Abnehm- und Fitnesshilfen bieten? Die Psychologin Bamford stellt sich ein Warnsystem vor: “Ich hätte gern, dass diese Apps Menschen warnen, wenn ihr Verhalten zu extrem wird oder ihr Gewicht außerhalb des gesunden Bereichs liegt”, sagt sie. Puttock schlägt vor, Nutzerverhalten auf Risikofaktoren zu überwachen und bei Bedarf auf Hilfsstellen für psychische Krankheiten zu verweisen.

Auch wenn sie für Menschen mit Essstörungen gefährlich sein können, wird es Apps wie Vora und MyFitnessPal wohl immer geben. Die Technik an sich darf nicht nur im negativen Licht erscheinen, animiert sie doch mindestens genauso viele Nutzer zu gesünderem Verhalten – oder hilft ihnen sogar, eine Essstörung zu überwinden.

Recovery Record ist eine App, die genau das zum Ziel hat. Sie animiert Nutzer, ihre Mahlzeiten aufzuzeichnen und festzuhalten, wie sie sich nach dem Essen gefühlt haben. Mit Gamification-Methoden belohnt sie User für positives Verhalten. Cognitive Diary ist eine App, die Methoden aus der kognitiven Verhaltenstherapie einsetzt, um Betroffenen ihre Krankheit verständlich zu machen.

Auch auf regulären sozialen Plattformen gibt es Gemeinschaft für Genesende. Sowohl Puttock und Eilish gehören zu einer lebhaften Community auf Instagram. Sie besprechen ihr schwieriges Verhältnis zu Essen und dokumentieren ihre Gewichtszunahme oder ihre Zeit in stationärer Behandlung. Puttock bloggt außerdem über ihr Gesundwerden, um andere Menschen mit Essstörungen aufzuklären und zu unterstützen.

“Ich bin fest entschlossen, so weiterzumachen, bis ich vollkommen gesund bin”, schreibt Puttock auf ihrem Blog. “In der Zwischenzeit kann ich meine Erfahrungen teilen, ein paar Stereotypen um psychische Krankheit zerstreuen und hoffentlich ein bisschen Hoffnung schenken.”

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