Alle Fotos: Jamie Lee Curtis Taete
Nicht-monogam leben kann kompliziert sein. Man kann polyamor sein, Swinger, eine „erweiterte Freundschaft” eingehen, eine offene Beziehung haben, die „New Monogamy” leben, eine Gruppenehe führen oder in Triaden, einer Kommune oder einem Clan leben. Die Beziehung kann sexueller oder emotionaler Natur sein, irgendetwas mit Fetisch zu tun haben oder auch eine Mischung aus allem darstellen. Man kann bereits eine feste Beziehung führen und trotzdem andere treffen, verheiratet sein und trotzdem mit einigen Freunden schlafen, Single und sich trotzdem bewusst sein, dass man mit konventioneller Monogamie nicht glücklich wird. Allerhand also. Damit ihr und euer Clan keine Angst haben müsst, den Überblick zu verlieren, gibt es hier unsere allumfassende Anleitung zur Polyamorie.
Ausnahme-Szenario
Paare, die erste Erfahrungen mit nicht-monogamen Partnerschaften sammeln wollen, wünschen sich oftmals eine Art Dreiecks-Beziehung mit einer weißen, heteronormativen, nicht-monogamen Cisgender: einer attraktiven bisexuellen Frau, die bereit ist, quasi als Sexsklavin ausschließlich mit einem Paar zusammen zu sein und vielleicht auch mit diesem zusammen zu leben. Diese Frauen werden Einhörner (also Fabelwesen) genannt, weil man bisexuelle Frauen, die zu so etwas bereit sind, mit der Lupe suchen kann. Ein anderer Begriff für die dritte Person dieses Ausnahme-Wunschszenarios ist „Hot Bi Babe“ (HBB).
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Banalität
Auch wenn offene Beziehungen häufig die Vorstellung von Clans mit 40 Partnern und wilden Orgien in Swinger-Clubs hervorrufen, ist die Wirklichkeit doch weitaus banaler. Offene Beziehungen verlangen den Beteiligten dieselbe Arbeit ab wie normale Beziehungen, nur eben häufiger. Im Kern haben wir es in offenen Beziehungen mit denselben Bedürfnissen zu tun wie in konventionellen Beziehungen (Liebe, Sicherheit, Sex). Es ist also nicht so spannend, wie man glaubt (zu Ausnahmen von der Regel: siehe weiter unten).
Chemie
Wenn zwischen zwei Menschen eine ganz besondere Chemie herrscht, kann es irgendwann zu dem Punkt kommen, an dem man sich aufrichtig darüber freut, wenn der Partner emotionales oder sexuelles Interesse an jemand anderem zeigt. Mitfreude, so der Begriff für diese selbstlose Empfindung, wird manchmal auch als Gegenteil von Eifersucht bezeichnet und ist ein bisschen wie stellvertretende Verliebtheit. Ob ihr euch auch von dieser anderen Person angezogen fühlt, spielt keine Rolle. Das Glück eures Partners/eurer Partnerin macht euch glücklich.
Dialog
Wie schon unter B wie Banalität erwähnt, muss in nicht-monogamen Beziehungen mehr und besser kommuniziert werden als in konventionellen. Weil es nicht besonders viele Vorbilder gibt, an denen man sich orientieren kann, müssen sich die Beteiligten selbst darauf einigen, was am Besten funktioniert. Neuland in Beziehungsdingen zu betreten, verlangt nach vielen ernsten Gesprächen. Dialog trifft hier allerdings nicht ganz zu, da man ja mit mehreren Menschen spricht und dass immer und immer wieder. Eine nicht-monogame Beziehung zu führen, bedeutet also, häufiger über die eigenen Gefühle (und die Gefühle anderer zu sprechen), als ihr es euch je hättet vorstellen können.
Eifersucht
Das gängigste Argument gegen nicht-monogame Beziehungen lautet: „Das könnte ich nicht. Ich bin zu eifersüchtig.” Menschen in polyamorösen Partnerschaften werden auch eifersüchtig! Es ist völlig normal, eifersüchtig zu werden, wenn euer Partner oder eure Partnerin euch eröffnet, dass er/sie sich zu jemand anderem hingezogen fühlt—besonders in einer Gesellschaft, in der Ehebruch als das Furchtbarste angesehen wird, das man einem geliebten Menschen antun kann. Denkt man aber genau nach (und führt einige der zuvor erwähnten Gespräche), stellt sich Eifersucht häufig als Deckmantel anderer Gefühle heraus, allen voran der Unsicherheit.
Flüssigkeiten
Der etwas abgehoben klingende Begriff „fluid-bonded”, auch Barebacking genannt, bezeichnet ungeschützten Geschlechtsverkehr.
Google Calendar
In Beziehungen mit mehreren Partner ist es nicht ungewöhnlich, einen gemeinsamen Kalender zu pflegen. Schließlich muss man wissen, wann jemand Zeit hat, arbeiten muss oder gerade mit einem anderen Partner rumhängt. So erspart man sich Ausreden. Wollt ihr nicht-monogam leben, ist effektives Zeitmanagement das A und O.
Hierarchien
In einigen nicht-monogamen Beziehungen gibt es Hierarchien, um deutlich zu machen, welchen Status die jeweilige Partnerschaft für die anderen hat. Mit dem „Hauptpartner” führt man eine halbwegs konventionelle Beziehung, in der man zusammen lebt oder zumindest langfristig zusammen bleiben möchte. Daneben kann jemand noch zahlreiche andere Liebschaften haben. Der offensichtliche Einwand gegen diese Begrifflichkeit ist, dass man im wahrsten Sinne des Wortes eine Rangliste erstellt. Allerdings macht man ja auch nichts anderes, wenn man jemanden zu seinem besten Freund oder seiner besten Freundin erklärt. Das tut ja den anderen Freundschaften auch keinen Abbruch.
Intime Fragen
Die werden euch zuhauf gestellt, sobald ihr erwähnt, dass ihr in einer nicht-monogamen Beziehung lebt. Vergesst dabei nicht, dass ihr nicht darauf antworten müsst. Ihr könnt auch zum Gegenangriff übergehen: „Ihr seid also seit sieben Jahren verheiratet—wie und wie häufig schlaft ihr miteinander? Macht ihr euch je Gedanken darüber, dass ihr euch irgendwann nicht mehr anziehend finden werdet? Erzähl mir doch von deinen intimsten Erfahrungen, am besten in aller Öffentlichkeit in dieser Bar.”
Ja
Wie in jeder anderen sexuellen Situation auch, sollte eure Zustimmung nicht halbherzig sein. Wir alle haben Bekannte, die „eine offene Beziehung” führen, wobei es offensichtlich ist, dass nur einer der Partner diese offene Beziehung führt, während der andere traurig und häufig allein ist. Eine Trennung ist da vorprogrammiert. Wenn ihr jemanden kennenlernt, der überzeugt ist, eure Polyamorie wäre nur eine Phase, dann lasst die Finger davon. Diese Beziehung würde definitiv in die Brüche gehen.
„Kinky”
Nicht jeder, der polamourös lebt, hat auch ungewöhnliche sexuelle Vorlieben, aber es gibt unbestreitbar Überschneidungen. Das liegt vermutlich daran, dass diese Vorlieben sehr ungewöhnlich sein und ein Nischendasein fristen können. Es kann schwierig werden, jemanden zu finden, der mit euch zu Abend essen möchte und es ok findet, wenn ihr euch danach auf ihm erleichtert. BDSM und Fetisch müssen auch nicht zwangsläufig sexuell sein. Deswegen kann jemand seinem Partner theoretisch auf emotionaler und sexueller Ebene treu bleiben, und sich am Wochenende trotzdem mit einem deutlich älteren „Daddy“ vergnügen.
Langzeitbeziehungen
Ich spreche jetzt ausschließlich aus meiner eigenen Erfahrung als junge, weiße Cisgender-Frau unter 30, die in einer Großstadt lebt, aber ich kenne nur sehr wenige Langzeitpaare, die nicht irgendeine Art von Absprache haben, was sexuelle Treue angeht—seien es sporadische Seitensprünge oder sehr seltene Dreier. Die Vorstellung, romantische Zweierbeziehungen durch Gelegenheitssex oder emotionale Untreue dauerhafter zu machen, wurde „New Monogamy” getauft.
Milleniums-Generation
Die Generation, die zwischen 1980 und 2000, also um den Höhepunkt der Scheidungsrate in den USA herum geboren wurde, scheint gegenüber konventioneller Monogamie genauso misstrauisch zu sein wie gegenüber traditionellen Arbeitszeiten, Mainstream-Politik und Vorurteilen gegenüber Hochsteckfrisuren bei Männern. Ob die jungen Erwachsenen heutzutage sich selbst als nicht-monogam sehen oder auch nicht, sie heiraten auf jeden Fall später und haben mehr und teilweise längere Beziehungen, was sie offener für alternative Beziehungsformen macht.
Nerds
Wir haben das schon mal erklärt. Zu den ersten, die nicht-monogame Lebensformen übernommen haben, gehören harte Nerds. Was für Kinks gilt, gilt auch für Nerds: nicht alle nicht-monogam lebenden Menschen sind Nerds, aber sie haben sicherlich überdurchschnittlich häufig Doctor Who-Tattoos.
Orgien
Orgien sind kein Relikt aus den 70er Jahren. Sie finden im wahren Leben an verschiedenen Orten und in verschiedenen Formen statt. Von klischeehaften Schlüsselpartys alternder Schwinger über Pile-Ons in Sexclubs bis zu privaten Partys für eine Gruppe von Freunden—Gruppensex erfreut sich auch im Jahr 2014 größter Beliebtheit.
Polyamorie und Selbstgefälligkeit
Das gilt bei weitem nicht für alle, aber es gibt mit Sicherheit Gruppen in der nicht-monogamen Community, die Monogamie für eine Form von Unterdrückung halten, die letztlich zu Enthaltsamkeit und Unglück führt. Vielleicht wird nicht jeder in einer monogamen Beziehung glücklich, aber Polyamorie ist eben auch nicht für jedermann die Lösung. Zu glauben, man habe damit den heiligen Gral der Beziehungen gefunden, ist falsch.
Queer
Die LGBTQ-Community hatte nicht-monogame Beziehungen schon lange vor Heterosexuellen für sich entdeckt. Die entspanntesten Menschen, die ich kenne, sind schwule Männer in Langzeitbeziehungen, die trotzdem mit allen schlafen, mit denen sie schlafen möchten.
Regeln
Regeln sind, genauso wie Hierarchien, ein heikles Thema in der nicht-monogamen Welt. Während es manchen widerstrebt, ihren Partnern in puncto Benehmen überhaupt Grenzen aufzuzeigen, sind für andere Regeln elementar wichtig. Mit ihnen soll die Fülle an potentiellen Konflikten im Griff behalten werden, die sich allein schon dann ergeben, wenn nur zwei Menschen eine Beziehung eingehen—geschweige denn vier oder fünf, von denen jeder seine eigenen anderen Beziehungen führt. Meiner Erfahrung nach entstehen Regeln mit der Zeit von selbst. Es ist aber durchaus wichtig, bestimmte Vereinbarungen zu treffen, auf deren Basis man diskutieren kann, was funktioniert und was eben nicht.
Swinging
Swinging ist eine rein sexuelle Form nicht-monogamer Lebensweise. Genauso wie ungewöhnliche Vorlieben, Polyamorie und eigentlich alles andere gibt es sie in tausend verschiedenen Formen. Beim „Soft Swinging” zum Beispiel machen Paare mit andere herum, haben aber nur mit ihren Partnern penetrierenden Sex. Swinger haben außerdem den Begriff „Adult Buffet” geprägt, der eine Privatparty bezeichnet, bei der die Gäste untereinander Sex haben.
The Ethical Slut
Schlampen mit Moral, Dossie Eatons und Janet Hardys Buch über verantwortungsvolle, nicht-monogame Lebensweise, liest sich etwas mühsam. Das liegt daran, dass es in einer Sprache geschrieben ist, die man von einem Text über alternative Sexualität aus den späten 90er Jahren erwartet—geschrieben von zwei Menschen, die sich selbst in der Einleitung als „Geliebte, gute Freundinnen, Mitautorinnen und Mitverschwörerinnen” bezeichnen. Wenn man aber in der Lage ist, das Hippie-Vokabular zu ignorieren, findet man eine großartige Einführung in das Thema polyamoröse Beziehungen und einen praktischen Leitfaden zu Kommunikation und Ehrlichkeit im Allgemeinen.
Überfluss
Wenn wir nicht-monogame Lebensformen auf den simpelsten Nenner bringen wollen, dann ist es der: es gibt genug von allem. Genug Platz im Bett für drei. Genug Liebe im Herzen eurer Partnerin/eures Partners, dass ihre/seine Liebe zu euch nicht durch die Liebe zu einem anderen Menschen eingeschränkt wird. Es gibt genug Begierde in euren Lenden, um mit jemandem zu schlafen und danach nach Hause zu gehen und mit jemand anderem zu schlafen und danach vielleicht wieder auszugehen, um mit einer dritten Person zu schlafen, denn „Hey, die Nacht ist jung und ihr seid quicklebendig!” Dieses Überflussbewusstsein steht im Gegensatz zum Mangelbewusstsein—einer Denkweise, die davon ausgeht, dass eure Freundin euch plötzlich weniger anziehend findet, nur weil sie auch jemand anderen anziehend findet.
Vokabular
Wie euch vermutlich schon aufgefallen ist, gibt es ein reiches Vokabular zum Thema nicht-monogame Beziehungen. Zusätzlich zu weit verbreiteten Begriffen wie „poly” oder „erweiterte Freundschaft”, gibt es auch individuelle Bezeichnungen für Gefühle und Beziehunge: „wibbles” für Augenblicke, in denen wir eifersüchtig sind, „Throuple” für eine Beziehung dreier gleichberechtigter Partner (aus three—drei und couple—Paar), „spice” (Würze) als Plural von „spouse” (Ehefrau) und so weiter.
World Wide Web (der Liebe)
Allgemein ist das Internet eine treibende Kraft, wenn es darum geht, das Bewusstsein der Allgemeinheit für die unzähligen alternativen Lebens- und Beziehungsformen da draußen zu wecken. Wenn ihr Gleichgesinnte finden wollt und nicht wisst, wo ihr anfangen sollt, sind Finya und Tinder ein guter Anfang. Wappnet euch aber gegen obszöne Nachrichten.
(E)X-Partner
Wenn ihr mit mehreren Menschen auf einmal zusammen seid und die noch dazu alle Teil der verhältnismäßig kleinen Poly-Community in eurer Stadt sind, werdet ihr viele Ex-Partner haben. Stellt euch drauf ein und seid fair.
Y-Chromosom
Neben der Aussage, dass Männer schon rein hormonell nicht zur Monogamie geeignet seien, gibt es viele andere Argumente, die dafür sprechen, dass Polyamorie ein natürlicher Zustand ist. Viele Menschen argumentieren, dass in frühen Gemeinschaften—wie bei den Bonobos—die Partner gewechselt wurden, die Kinder gemeinsam großgezogen wurden und alle glücklich und froh die Erdoberfläche bevölkerten, bevor Grundbesitz, Patriarchat, Kapitalismus und all die anderen Übel die Monogamie hervorgebracht haben. Obwohl sie teilweise etwas zu sehr vereinfachen, schildern Christopher Ryan und Cacilda Jethá’s dies in ihrem Buch Sex at Dawn überzeugend (wenn auch kontrovers)—mit zahlreichen Informationen zu Bonobo-Sex als Schmankerl.
Zeitgeist
Ihr interessiert euch für nicht-monogame Lebensformen? Super! Das tun auch zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften (und zwar schon seit etwa zehn Jahren). Meistens ist das Interesse zwar auf Artikel in der Lifestyle-Sparte beschränkt, aber das Feuilleton greift das Thema immer häufiger auf. Slate beispielsweise hat in den vergangenen zwei Jahren über siebzehn Artikel zum Thema Polyamorie veröffentlicht. Und mit diesem Artikel bei VICE kommt jetzt ein weiterer hinzu.