Music

Wie Genesis Breyer P-Orridge elektronische Musik für immer veränderte

Gender-Ikone, Industrial-Pionier(-in), Schrecken der Boulevardzeitungen, Liebling der Kunstwelt, Autorin und Protagonistin einer der stärksten, ergreifendsten und wichtigsten Liebesgeschichten, die die Welt je erlebt hat. Das alles und noch viel mehr ist Genesis Breyer P-Orridge. Sie schreibt eine andauernde Geschichte über Geschlechtsidentitäten, Kunst und so ziemlich alles andere – und das auf eine Art, die sich nur die wenigsten trauen würden.

Bei so einer so beeindruckenden Liste vergisst man schnell, wie wichtig P-Orridges Erbe für heutige Elektronik-Künstler ist. Von den gespenstischen Cut-Ups von Hype Williams über Mykki Blancos Gender-Spiel bis hin zu Percs schneidender Kombination aus EBM und Techno, Genesis’ diverse Projekte – Psychic TV, Throbbing Gristle, COUM Transmissions und Pandrogyny – haben ihren Weg in einige der aufregendsten Ecken der Musik des 21. Jahrhunderts gefunden.

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Wir werden Gens anhaltenden Einfluss nachverfolgen, indem wir ihr Leben und Werk in fünf Kategorien einteilen. Wir werden untersuchen, wie aus einer Zerstörerin der Zivilisation eine auf einzigartige Weise geschätzte Persönlichkeit wurde. Geschätzt, aber immer herausfordernd.

1. Der Flirt mit dem Okkultismus und den Schwarzen Künsten

Die Geschichte der Musik ist in gewisser Weise auch eine Geschichte der Hexerei und des Teufels. Doch nur wenige haben ihre Beschäftigung mit alternativen Glaubenssystemen mit einer solchen umfassenden, ernsten und überlegten Art betrieben wie Genesis. Zu sehen ist dies in dem rührenden und farbenprächtigen Film Bight of the Twin von Hazel Hill McCarthy III. Die Dokumentation folgt Genesis auf eine Reise nach Benin in Westafrika, während der sie sich einem Voodoo-Ritual unterzieht, das einen verstorbenen Zwilling mit seinem lebendigen Gegenstück wiedervereint – in diesem Fall ist der Zwilling Genesis’ verstorbene Ehefrau, Lady Jaye.

Über ihre ganze Karriere hinweg war Genesis von Persönlichkeiten wie Aleister Crowley, dem Okkultisten und Künstler Austin Osman Spare und der Santería-Gottheit Eshu Elegguá fasziniert. Außerdem praktizierte sie diverse Rituale wie Sexualmagie – “Wo der Orgasmus der Moment ist, in dem zeitweise alle Formen des Bewusstseins in deinem Geist zusammenfinden und du deshalb eine Botschaft weitergeben kannst”. Auf Psychic TVs Joy ist auch der Gründer der Church of Satan, Anton LaVey, zu hören, wie er das Vaterunser rückwärts spricht. Genesis’ tolles Buch Thee Psychick Bible von 2010 beschreibt außerdem viele ihrer Ideen und Methoden der Sigillisierung.

Heutzutage sind die visuellen Zeichen einer zum Okkulten neigenden musikalischen Unterwelt auf Plattencovern, in Texten und natürlich auf dem Merch-Tisch überall zu finden. Du musst nur ein paar Jahre zurück an Witch House denken – ein Genre, das viel zu schlecht gemacht wurde –, an Künstler wie Salem, Ritualz (†‡†), Balam Acab und oOoOO. Es gibt hier mehr als ein paar Anleihen bei Psychic TV; nicht zuletzt die ungewöhnlichen Samples, Gesang, der so verzerrt ist, dass er beinahe auf komische Weise unheimlich ist, und durch modifizierte religiöse Symbole geformte Identitäten (ja, ich meine dich, †‡†).

Die grafischen Referenzpunkte, die üblicherweise mit okkulten Genres wie Goth assoziiert werden – schwarze Schrift, monochrome und verzerrte Foto-Negative – bahnen sich dank Designern wie Hassan Rahim auch ihren Weg in die zeitgenössische HipHop-Kultur. Unzählige andere Künstler und Künstlerinnen wie Austra und Zola Jesus beziehen Rituale und Sigillen in ihre Prozesse und textlichen Referenzen mit ein.

Einer der faszinierendsten Acts des Gegenwart, Hype Williams, verdankt Gen ebenfalls eine Menge. Wie TG, PTV und COUM scheut sich die Band in ihren Texten, klanglichen Referenzen und den grenzwertigen und schauderhaften komplexen Strukturen von Drones, Spoken Word, traurigen Soundcollagen und Gesangslinien nicht vor dem Tod. Wenn PTV ein farbenfroher Rausch chemisch entwickelten Serotonins sind, dann sind Hype Williams das schmerzhaft schöne Runterkommen.

Genesis mit Psychic TV vor mittlerweile 13 Jahren. Foto: Seth Tisue/Flickr, CC By 2.0

2. Die industrielle Revolution

Dass Gen mit Throbbing Gristle Mitte der 1970er Industrial-Musik erfunden hat ist unbestritten. 1976 gründete die Band das Label Industrial Records und bezeichnete ihr Debüt-Album The Second Annual Report als “industrial music for industrial people”. Zu den Acts, die die Fackel der aggressiven Kombination aus Rockmusik-Tropen, elektronisch erzeugten Samples, Noise und allgemein provokativem Experimentieren heute weitertragen, gehören Death Grips, dälek und Factory Floor – Letztere sind eine Band aus London, die regelmäßig mit Chris Carter und Cosey Fanni Tutti kollaboriert.

“Es gab in der Industrial-Musik damals eine Art schamanistischer, sympathischer Magie”, so der multidisziplinäre Künstler Barry Hale. “Die Produktion in Fabriken fand in Großbritannien ihr Ende und es gab eine massive Rezession. Der Klang von Industrial war eine Art rituelle Nachahmung davon, wie es klingt, in einer Industriestadt zu leben – fast als würden wir versuchen, die Straßen wieder mit den Klängen der Fabriken zu füllen, um der britischen Fertigungsindustrie wieder Leben einzuhauchen.”

Genesis mit Terres Green und Terry Goldstein anno 1976. Foto von Imago

3. Das Eintauchen in Acid House

In Thee Psychick Bible behauptet Genesis, sie habe den Begriff “Acid House” entscheidend geprägt – und wer sind wir, da zu widersprechen? 1988 veröffentlichten Psychic TV Tekno Acid Beat, eine von zwei Fake-Compilations, die sinnbildlich für die großartige Fähigkeit der Band ist, eine Szene zu erkennen und nachzubilden – wodurch sie alle anderen bei ihrem eigenen Spiel schlagen.

“Die Gigs von Psychic TV nannten wir Raves”, erinnert sich Genesis in einem Interview mit The Wire, “und wir waren recht gut mit den E-Dealern befreundet, wenn du zu unseren Gigs kamst, gab es kostenlose Tabletts mit Pillen. Unsere Sachen wurden wie Partys, also gab es für eine Zeit eine große Überschneidung. Dann arbeitete ich an dieser Single ‘Turn On, Tune in to the Acid House’, die meiner Meinung nach die erste Platte war, die Acid House im Titel hatte, auch wenn der Begriff aus Amerika kam.”

Die berauschenden Tage voller Roland-Synthesizer, riesigen Mengen MDMA, geschmacklosen Hüten und Neon-Insignien sind aber noch nicht vorbei. Acid House feiert mittlerweile sein 30-jähriges Bestehen. Künstler wie Luca Lozano, Legowelt und Helena Hauff halten die Fahne dieses Sounds heute noch hoch.

4. Das Verschwimmen von Geschlechtsidentitäten und Sex-Positivismus

Es gibt vielleicht keinen anderen Künstler, der so lange wie Genesis die Schnittstelle von elektronischer Musik und Gender-Politik besetzt. Künstler wie Mykki Blanco setzen dieses Erbe fort und machen elektronische Musik, während sie Gender-Normen zurückweisen.

In Genesis P-Orridges Pandrogyny-Projekt unterzogen Genesis und Lady Jay sich Operationen, um wie die jeweils andere Person auszusehen, ein Wesen zu werden und letztendlich körperliche Repräsentationen von “männlich” und “weiblich” aufzubrechen. Das war, und ist immer noch, entscheidend dafür, dass sich heute mehr Künstler als jemals zuvor als nicht-geschlechtsbinär identifizieren.

Die Trans-Aktivistin und Musikerin Terre Thaemlitz, die auch unter dem Namen DJ Sprinkles spielt, ist eine ebenso wichtige wie lautstarke Person wie Genesis, wenn es um die Diskussion von Gender-Politik geht. Sie spricht regelmäßig zu Themen wie Trans-Rechten, Sexualität und Klasse. Auch sie hat ein breites Spektrum an musikalischen Stilen in ihre Arbeiten einbezogen, von Deep House über Ambient bis zu “computer-composed neo-expressionist piano solos”. Zusätzlich zur musikalischen Arbeit arbeitet sie mit Grafik, Video, Fotografie und Illustrationen.

5. Der lebensverändernde Cut-up

Gens anhaltender Einfluss kann direkt auf das Sampeln als Form der Instrumentierung zurückgeführt werden. “Sleazy hat im Prinzip den ersten Sampler erfunden, 1975 gab es keine Sampler”, so Genesis darüber, wie Peter Christopherson von Throbbing Gristle – den meisten als Sleazy bekannt – entdeckte, dass er Walkman-Kassettenspieler auseinandernehmen und in Keyboards speisen konnte, um Sampler und später Sequenzer zu erschaffen. Tracks von TG, wie der herrlich betitelte “Five Knuckle Shuffle“, verwendeten Rhythmen, die beinahe ausschließlich mit Geräuschen von Kassetten erschaffen wurden. Unter den “Found Sounds”, die er heimlich aufnahm und dann verwendete, fanden sich auch Aktivitäten in einem Bordell in Soho und Diskussionen aus einem Büro für Söldner, die er verwanzt hatte.

Er nahm “zeitgenössische Technologie und verfälschte sie, baute sie um, damit sie etwas komplett anderes macht, als die technischen Spezifikationen vorsahen”, so Genesis. Diese Art der Veränderung ist in der elektronischen Musik mittlerweile weit verbreitet und wird überall verwendet, von riesigen amerikanischen EDM-“Raves” über HipHop-Beats bis zu den eifrigen Bedroom-Produzenten, die die Wellen des britischen Radiosenders Resonance FM füllen.

Gens Erforschung musikalischer Cut-ups war unausweichlich, bedenkt man ihre Beziehung zu Künstler Brion Gysin und dessen Kollaborateur, dem Autor William Burroughs, den sie lange Zeit verehrte und mit dem sie 1981 für Nothing Here Now But The Recordings zusammenarbeitete, eine Compilation von Burroughs Spoken-Word-Cut-Ups, Field Recordings und “Flirts mit Aufnahmetechniken mit Tonbandstimmen“.

Still aus Bight of the Twin

Erinnerst du dich noch an “Hypnagogic Pop”? Die merkwürdig benannte Bewegung mit Spät-2000er-Acts wie James Ferraro, John Maus, Oneohtrix Point Never und Ariel Pink, die mit seltsam herzzerreißendem Ergebnis 1980er-TV- und -Gaming-Nostalgie mit Noise und Drones kombinierten? Auch sie haben mit ausgedientem oder eigentlich für andere Zwecke gedachtem Equipment experimentiert und sich an den seltsamen Zufällen erfreut, die dadurch entstehen, mit Dingen auf eine Weise zu arbeiten, für die sie eigentlich nicht gedacht sind. Das “hypnagogisch” in diesem Namen bezieht sich auf einen traumähnlichen Zustand, irgendwo zwischen Schlaf und Wachzustand; sicherlich eine Verbindung zu Gens Faszination mit (Un-)Bewusstsein oder einem höheren Bewusstsein.

Nicht nur die direkte musikalische Aneignung von Cut-up-Techniken, sondern auch Genesis’ Anwendung des Prozesses auf breitere Ideen in Bezug auf das Leben und Lieben ist interessant: Sie vergleicht die Idee, verschiedene Einheiten zu nehmen und sie zu einer “dritten Sache” zu kombinieren, mit der Erschaffung des Pandrogynen und bringt dies in eine Reihe mit dem gnostischen Konzept des “Divine Hermaphrodite“. Es ist auch Teil eines viel breiteren, erfrischend idealistischen Blicks darauf, wie wir die Welt individuell formen können, indem wir unsere Kräfte bündeln, um unsere kollektiven Leiden zu heilen.

“Wenn du Cut-ups machst, hast du nicht die Kontrolle, was du bekommst”, so Genesis nach dem Auftritt beim Berliner CTM Festival. “Wir machen Cut-ups, um die Natur der Existenz zu sehen und das dritte Wesen zu erschaffen; ohne Cut-ups wären wir nicht bei der Idee von Pandrogyny gelandet. Binäre Vorstellungen sind Fallen, Anker.”

Genesis besitzt eine fortwährende Neugierde bezüglich der Welt und ihren Möglichkeiten und hat uns diese seltsamen und esoterischen Ideen durch unheimliche und hypnotische Musik näher gebracht. Und so überrascht es wenig, dass die Kreationen von Genesis so einen Einfluss auf andere Künstler ausgeübt haben. “Wir alle fragen dauernd Fragen und suchen nach Bedeutungen, wir müssen wirklich offen für Dinge ohne vorgefasste Meinungen sein”, so Gen. “Nimm nicht an, dass es eine Wahrheit gibt – es gibt nicht eine Wahrheit“.

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