Berlin. Ein junger Mann in grüngrauem Pullunder und mit schmaler Mathelehrer-Brille auf der Nase nähert sich langsam einem Baum. Er blickt sich kurz um, umarmt schließlich entschlossen den Stamm und beginnt, seinen Unterleib an ihm zu reiben. Im Hintergrund läuft der sehr euphorische Abwasch-Popsong “Stimme” von Eff, es könnte aber auch irgendwas von Mark Forster sein. Dreimal, viermal schubbert der Teenager seinen Schritt am Baum, mit geschlossenen Augen, offensichtlich erregt. Dann wendet er sich ab, blickt mit einer Hand am Stamm verträumt zurück und sagt: “Das hat gut getan.”
“Frotteurismus – Anders muss zwanghaft seinen Unterleib reiben” heißt das YouTube-Video, aus dem diese Bilder stammen. 2,4 Millionen Views hat es seit Anfang August gesammelt, 22.000 Menschen haben Rubbelfan Anders einen Daumen nach oben gegeben. Ein echter Erfolg für RTL2 – denn was nach heimlich gefilmtem Fail-Video oder YouTube-Prank klingt, ist eine Szene aus Hilf Mir! Jung, pleite, verzweifelt. Die Sendung läuft seit 2013 im RTL2-Nachmittagsprogramm. Um die angepeilte junge Zielgruppe, die kein Fernsehen mehr guckt, aber auch wirklich erreichen zu können, werden mehrmals die Woche zusammengeschnittene Versionen der Folgen auf dem Hilf Mir!-YouTube-Kanal zweitverwertet. Und der hat mittlerweile 215.000 Abonnentinnen und Abonnenten. Wirklich interessant ist allerdings, wie viele Menschen das Ganze auch regelmäßig gucken. Im Schnitt erreicht so ein Video knapp eine Million Views. Der erfolgreichste Clip, “Mein Freund mästet mich!”, wurde über 4,3 Millionen Mal angesehen.
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Das sind Zahlen, die selbst YouTube-Stars wie Sami Slimani oder Bibis Beauty Palace nur in Ausnahmefällen erreichen. Die neuesten Hilf Mir!-Uploads landen regelmäßig unter den meistgesehenen YouTube-Videos Deutschlands. YouTuber wie AlexV (896.000 Abos), EsKay (527.000 Abos) oder ConCrafter (3,4 Millionen Abos) laden Reaction-Videos zu besonders absurden Folgen hoch, und auch in den Kommentaren unter den Videos fragen sich Nutzerinnen und Nutzer immer wieder: Warum gucke ich mir das eigentlich an?
Eine berechtigte Frage. Schließlich schien die Zeit vorbei, in der sich Trash-Junkies von billig produzierten Scripted-Reality-Formaten noch ernsthaft schocken lassen. Wer sich früher über das RTL-Nachmittagsprogramm lustig gemacht hätte, guckt heute Pranks und Fail-Compilations auf YouTube. Die Realität ist im Zweifelsfall immer noch ein bisschen absurder und grausamer als innerlich tot bis verzweifelt wirkende Laiendarstellende, die sich in unglaubwürdigen Storylines an den Trash-Themen unserer Zeit abarbeiten: Übergewicht, Sex, Nacktheit, “Promis” und irgendwas mit Hartz IV.
Hilf Mir! sieht sich selbst übrigens nicht als Trash-, sondern als Ratgeber-Format, das Jugendlichen Lösungswege aus Krisensituationen zeigen soll, die “im Leben eines normalen Teenagers vorkommen” könnten. Das ist natürlich Quatsch. Hilf Mir! steht sinnbildlich für die Art von Sendung, die den Begriff “Unterschichtenfernsehen” prägte, also Formate fürs vermeintliche Nicht-Bildungsbürgertum. Obwohl es gerade die vermeintliche “Unterschicht” ist, die in diesen Formaten erniedrigt wird.
Wie bei allen Scripted-Reality-Formaten, die nachmittags im deutschen Privatfernsehen laufen, geht es auch hier darum, sowieso schon stigmatisierte Gesellschaftsgruppen weiter abzuwerten. Eine Hartz-IV-Empfängerin bestiehlt ihre Freundin, um sich eine Carmen-Geiss-Perücke kaufen zu können, und bekommt deswegen Probleme mit ihrer Tochter. Eine Auszubildende prostituiert sich für Arschimplantate. Ein dickes Teenager-Mädchen schmeißt sich in reduzierte Reizwäsche, um ihren Freund zum gemeinschaftlichen Geschlechtsakt zu bewegen. Ein anderes wird von ihrem Partner mit Discounter-Chips und Sprühsahne gemästet, bis sie ohnmächtig im Flur zusammenbricht – und mit ihrem Körper so ungünstig die Tür blockiert, dass die salatessende Freundin, die ihr zur Hilfe eilt, sie nicht alleine aus der Wohnung befreien kann. Ab und an werden Expertinnen und Experten eingeblendet, die das Offensichtliche aussprechen, wie: Klauen ist keine gute Idee. Oder: Eine Beziehung, in der einen der Partner oder die Partnerin in der gemeinsamen Wohnung einsperrt, ist nicht gesund. Soviel also zum vermeintlichen Bildungsauftrag.
Die Geschichten bei Hilf Mir! sind so menschenverachtend und absurd, dass man beinahe übersieht, wie wenig sie mit der Realität von Teenagern im Jahr 2018 zu tun haben. Social Media? Spielt kaum eine Rolle. Die Klamotten? Scheinen seit zehn Jahren für sämtliche Trash-Sendungen recycelt zu werden und unabhängig von tatsächlichen Modetrends zu existieren. Die Verantwortlichen von RTL2 scheinen in einer Parallelwelt zu leben, in der Teenager Kay One anhimmeln. KAY ONE! Kein Wunder, dass sich die angepeilte Zielgruppe vor der YouTube-App totlacht.
Was Hilf Mir! sein könnte, wenn es RTL2 mit der Lebenshilfe für Jugendliche denn wirklich ernst meinen würde, zeigt das Video “Fußballer Jan ist schwul – doch niemand weiß es”. Jan, Schulabbrecher aber fußballerisch talentiert, hat ein Problem: Er hat eine Affäre mit einem Teamkollegen, von der niemand etwas erfahren darf. Auch seine Freundin Jessica nicht, die Tochter seines Fußballtrainers. In der Folge, runtergeschnitten auf 12 Minuten, wird deutlich, wie innerlich zerrissen und verzweifelt junge Menschen sind, deren sexuelle Orientierung scheinbar nicht zu dem passt, was sie nach außen darstellen wollen oder müssen. Eine Expertin betont mehrfach, wie viel Druck auf Teenagern in solchen Situationen lastet, und dass die Suizidrate bei Lesben und Schwulen, gerade im jungen Alter, deutlich über dem Durchschnitt liegt.
Ein Ausweg aus der Situation wird nicht aufgezeigt, das Video endet wie viele der YouTube-Zusammenschnitte von Hilf Mir! im erzählerischen Nichts. In den Kommentaren wird aber trotzdem nicht nur über die unterirdischen Schauspielleistungen diskutiert, sondern auch ganz ernsthaft über den Inhalt der Folge. Dass es eben nicht nur schwul und lesbisch gibt, sondern Jan ja auch einfach bisexuell sein könnte, wird von mehreren Nutzerinnen und Nutzern angemerkt. Andere kommentieren mit dem Hashtag #LoveisLove oder sprechen darüber, selbst homosexuell zu sein.
Auch wenn sich die Inhalte des vermeintlichen “Unterschichtenfernsehens” nicht geändert haben, Formate wie Hilf Mir! immer noch in “normale Menschen” und “die, die eben anders sind” unterscheiden, weil sie nicht heterosexuell sind oder dick oder sexuell sehr aktiv – das Publikum hat sich verändert. Wir leben in einer Zeit, in der junge Menschen mit Instagram-Stars aufwachsen, die sich gegen Diskriminierung einsetzen, und Serien gucken, die Lebensrealitäten abseits der weißen, heterosexuellen TV-Mittelschicht zeigen. Die zu großen Teilen wissen, was Body Positivity ist, und keine Schnappatmung mehr bekommen, wenn Männer Gesichtspflegeprodukte verwenden. Und die machen sich vielleicht immer noch gerne über absurde, schlecht gespielte Storylines lustig, die so billig produziert sind, dass jeder YouTube-Vlog hochwertiger aussieht. Kritisch sehen sie bestimmte Scripted-Reality-Stereotype aber trotzdem, was die Reaktionen auf den schwulen Fußballer Jan beweisen. So dumm, wie Hilf Mir! Jung, pleite, verzweifelt Jugendliche darstellt, sind die nämlich nicht. Zum Glück.
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