Wie ich 100 Pizzen gegen den Diätwahn gegessen habe

Die Autorin isst Pizza

“Aufpassen, wenn du so viel isst, wirst du irgendwann zunehmen”, schreibt mir vor ein paar Wochen ein Instagram-User, als ich wieder ein Foto einer Pizza poste. Da ist er also: Der Prototyp eines Internet-Dudes, der glaubt, seine Meinung zu meinem Essverhalten würde mich auch nur im Geringsten interessieren. Die süß verpackte Drohung, der gut gemeinte Rat. Männer wie er sind einer der Gründe, warum ich dieses Jahr 100 Pizzen gegessen habe. Es ist meine Art, gegen das gängige Schönheitsideal zu rebellieren.

Aber meine Rebellion ist nur deswegen so erfolgreich, weil ich Pizza wirklich sehr liebe. Pizza ist meine Konstante; mein Anker, wenn alles aus den Fugen gerät. Wenn ich einen schlechten Tag habe, bestelle ich abends Pizza und sehe mir die Folge von King of Queens an, in der Doug einen Song über sich und Pizza “komponiert”. Zu einem perfekten Abendprogramm gehört für mich: eine Yoga-Einheit und danach Pizza auf der Couch. My kind of balance. Und weil das die meistgestellte Frage überhaupt ist: Meine Pizzeria des Vertrauens in Wien ist die Disco Volante.

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Die beste Pizza meines Lebens habe ich dieses Jahr in Tokio gegessen. “Seirinkan” heißt das Restaurant und hat nur zwei Pizza-Sorten: Marinara oder Margarita. Kein unnötiger, an Blasphemie grenzender Schnickschnack wie Ananas, dafür extra viel Olivenöl und Knoblauch. Nein, ich habe meine Pizza-Routine auf einer Reise ans andere Ende der Welt nicht unterbrochen und ja, ich habe selbst in Tokio die beste Pizzeria aufgespürt.

Am 1. Jänner 2018 entscheide ich mich für einen einzigen Vorsatz. Ich möchte 52 Pizzen essen – pro Woche eine. Von nun an dokumentiere ich jede Pizza mit einem simplen, digitalen Pizzatagebuch, das ich in den Notizen meines iPhones laufend aktualisiere. Am 20. Juni 2018 esse ich die 52. Pizza, gehe einen Schritt weiter und esse Nummer 100 am 20. Dezember 2018 – der bedeutendste Tag meines Lebens. Wer glaubt, dass ich damit übertreibe, der bestellt auch Pizza Hawaii.

Mein Pizzatagebuch
100 Pizzen in einem Jahr: Alle dokumentiert und fotografiert

Der Zuspruch, den ich für meine relativ spontan entschiedene Aktion erhalte, ist überwältigend. Junge Frauen bezeichnen mich als Vorbild. Meine Follower und Followerinnen assoziieren mich mit Pizza. Sie schicken mir alle Instagram-Beiträge weiter, die im entferntesten etwas mit Pizza zu tun haben: Pizza-Kalender, Pizza-Tattoos, Pizza-Kunst, Pizza-Shirts. Die Illustratorin Stephanie Anouk Doujak zeichnet mich – wie könnte es anders sein – mit einem Pizzastück in der Hand. Freundinnen schenken mir zum Geburtstag Bücher, die von Pizza handeln.

Fremde schreiben, dass ich ihnen die Augen geöffnet hätte und dass sie aufhören würden, sich selbst Essen zu verbieten. Sie fühlten sich ermutigt, das zu essen, worauf sie Bock haben – ganz unabhängig von den Kalorien. Auf den ersten Blick ist mein Pizzatagebuch nichts weiter als eine lustige Idee. Aber die Wahrheit ist: Mein öffentlich dokumentierter Pizzakonsum hat mir – und vielen anderen – geholfen, festsitzende, gefährliche Selbstzweifel zu überwinden.

Was an mir ist zu dick, schlaff oder behaart?

Und die trage ich mit mir herum, seit ich ein Teenager bin: Ich plage mich ein Leben lang mit Diäten. Selbst in meinen dünnsten Phasen finde ich meine Oberarme zu dick. Ich nehme mir mindestens einmal im Monat vor, jetzt aber wirklich auf Kohlenhydrate zu verzichten. Ich werde den besorgten Blick meiner besten Freundin nie vergessen, als sie mir an einem dieser Tage sagt, dass sie erst jetzt merkt, was für ein verzerrtes und falsches Bild ich von mir selbst habe.

An einem “dieser” Tage: So bezeichne ich Phasen, in denen ich mein Spiegelbild nicht ertrage. In solchen Momenten kann ich mich selbst nicht ausstehen. Ich fühle mich im eigenen Körper fremd und hasse mich dafür, dass ich in diesem Denkmuster festhänge wie ein zappelnder Fisch. Ich reduziere mich selbst auf mein Aussehen und verurteile mich im selben Atemzug dafür.

Dabei weiß ich es eigentlich besser. Aber an diesen Tagen hilft kein rationales Argument der Welt: Ich breche in Tränen aus, weil ich es nicht auf die Reihe kriege, endlich abzunehmen. Es sind nur ein paar Kilo; so schwer ist das doch nicht. Gedanken, die mich erdrücken. Das Pizza-Tagebuch hilft, diese Verzweiflung abzuschütteln. Aber manchmal, abhängig von meinem Gemütszustand, verunsichert es mich, wenn mich Bekannte belächeln oder irritiert den Kopf schütteln. Das erklärt etwa die Lücke in meinem Tagebuch zwischen 3. und 15. November.

Glücklich und gesund? Das bedeutet in unserer Gesellschaft: dünn und schön.

Ich verstehe und hinterfrage das gesellschaftliche Konstrukt, in dem wir Frauen aufwachsen. Ich weiß, dass der Magerwahn eine der vielen Folgen des Patriarchats ist, und trotzdem beschäftige ich mich ständig mit meinem Erscheinungsbild: Was an mir ist zu dick, schlaff oder behaart? Passt mir diese Jeans wirklich? Im Sommer trage ich keine ärmellosen T-Shirts und wenn doch, schäme ich mich dafür. Diese Selbstzweifel nagen immer seltener an mir. Überkommen sie mich doch mal – ich glaube, ganz los werde ich sie nie –, so kann ich besser mit ihnen umgehen. Es dauert nicht mehr Wochen, bis ich mich wieder wohl fühle.

Immer und überall geht es nur darum, wie Frauen aussehen. Glücklich und gesund? Das bedeutet in unserer Gesellschaft: dünn und schön. Wie tiefsitzend diese Annahme bei vielen Frauen ist, erkenne ich schnell. Dutzende schreiben mir, dass sie Pizza lieben, es sich aber nicht “leisten können”, so viel davon zu essen. “Mein Stoffwechsel lässt das nicht zu”, schreibt eine Userin. Eine andere fragt, ob ich ihr meinen “Ernährungsplan” geben kann und ob ich Tipps für sie habe, wie sie – trotz Pizza-Konsum – abnehmen kann. Eine Frau schreibt mir per E-Mail, dass ich sie dazu motiviert habe, an ihrem “Cheatday” Pizza zu essen. So als bräuchte sie einen Tag in der Woche, an dem sie sich Pizza erlauben “darf”. So als wären Gerichte, die aus mehr als Quinoa und Salat bestehen, etwas Verbotenes.

Obwohl das Feedback zum riesigen Teil positiv ausfällt, kritisieren manche – und zwar ausschließlich Männer – meine Entscheidung, 100 Pizzen zu essen. Sie schreiben mir auf Instagram und Facebook, dass es falsch ist, einen Zusammenhang zwischen Sexismus und Kommentaren am Essverhalten von Frauen zu ziehen. Oder, dass ein “pyknisches Aussehen” auf einen ungesunden Lebensstil hindeutet. Ein Twitter-User schreibt mir, dass Frauen “dünn” und “dumm” sein müssen. Es sind die Ratgeber, die niemand je um Rat gefragt hat. Wo bleibt ihre Sorge, wenn es um die psychische Gesundheit von Frauen geht? Wo bleibt ihre Sorge, wenn ich daran erinnere, dass Frauen häufiger Opfer von sexualisierter und häuslicher Gewalt sind?

Aber es ist ihnen wohl zu anstrengend, darüber zu sprechen. Zu viel müssten sie verändern; allen voran sich selbst und ihre festgefahrenen Ansichten. Da fällt es leichter, das Essverhalten und das Aussehen von Frauen zu kommentieren.

Instagram unterstützt dieses krankmachende Frauenbild. Früher war es noch der Kate-Moss-Look, heute steht alles unter dem Cleaneating-Stern, der nur ein weiterer krankmachender Trend ist, bei dem es – Überraschung – um das Aussehen von Frauen geht.

Social Media ist für Menschen, die an einer Essstörung erkrankt sind, extrem gefährlich, vor allem auf Instagram wird der Magerwahn glorifiziert. Hashtags wie #thighgap oder Aktionen wie Collarbone-Challenge, bei der Userinnen Münzen auf ihren Schlüsselbeinen balancieren, trendeten in der Vergangenheit. Nicht umsonst hat Instagram seine Richtlinien verschärft und verbannte Hashtags wie #proana.

Mein Pizzatagebuch ist mehr als ein Instagram-Gag oder eine witzige Anekdote, die ich auf Partys erzähle.

Als Kind kapiere ich sehr früh, dass sich alles um das Gewicht und das Aussehen von Frauen dreht. Wer abnimmt, kriegt Komplimente. Wer zunimmt, kriegt Mitleid. Verwandte kommentieren ständig das Aussehen meiner älteren Schwestern und anderer Frauen in meiner Familie. “Du wirst nie einen Freund finden, wenn du nicht auf deine Ernährung achtest” oder “Du solltest nicht so viel essen, du bist ein Mädchen”, hieß es dann. Frauen definieren sich über ihren Körper und der ist nicht viel wert, wenn er nicht dem gängigen Ideal entspricht: So wurde ich sozialisiert. Dass man uns so unseren Platz in der Gesellschaft verwehrt, sehe ich erst später ein. Möglichst klein sollen wir uns machen; hungern, bis wir verschwinden, und schweigen, bis wir an unseren eigenen Worten ersticken.

Mein Pizza-Tagebuch ist also mehr als ein Instagram-Gag oder eine witzige Anekdote, die ich auf Partys erzähle. Es ist mehr als eine Liebeserklärung an Pizza. Es ist ein Aufruf zur Rebellion. Ich wünsche mir, dass Frauen ihren Körper nicht mehr auf den unwichtigsten Faktor reduzieren: das Gewicht. Ich wünsche mir, dass Frauen essen, was sie wollen, wann sie wollen, wie oft sie wollen. Und nebenbei knabbern wir dann noch am kleinen Ego von Männern, die Frauen dafür shamen, dass sie 100 Pizzen im Jahr essen.

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