Als ich 17 Jahre alt war, wurde ich zusammen mit meinem jüngeren Bruder und unserem Freund in der Schule verhaftet. Die Polizisten entschieden sich dazu, uns einzeln zu befragen. Unsere Rechte wurden vorgelesen und dann verhörte man uns noch an Ort und Stelle.
Der Polizeibeamte, der mich befragte, stellte gleich eins klar—ich würde ins Gefängnis wandern. Zu diesem Zeitpunkt befand ich mich nicht nur im Besitz von einer verbrechenswürdigen Menge LSD, ich hatte auch schon verschiedenste Drogen an meine Klassenkameraden, ihre Freunde und jüngere Schüler (einige von ihnen waren erst 14 Jahre alt) verkauft. Ich war 17 und der Polizist sagte: „Du wirst als Erwachsener angeklagt. Dir werden mindestens vier verschieden Verbrechen vorgeworfen—jedes mit mehreren Anklagepunkten—und dadurch ist dir ein Gefängnisaufenthalt sicher. Du wirst im Oregon State Penitentiary landen.”
Videos by VICE
Ich hatte Angst. Im Vergleich zu den anderen Schülern meiner High School und den Leuten allgemein hielt ich mich für tough, aber ein Freund von mir war schon mal im Gefängnis und ich wusste, dass es da ganz anders zugeht. Verglichen mit dem durchschnittlichen Insassen eines staatlichen Gefängnisses war ich überhaupt nicht tough. Ich war klein, soft und grün hinter den Ohren.
Meinem Bruder und mir wurde ein Hausarrest auferlegt, weshalb wir eine Woche bei einem Freund unseres Vaters verbrachten. Wir warteten auf unsere Verhandlungen und darauf, in Untersuchungshaft genommen zu werden. Aber nichts davon ist je eingetreten.
Bevor ich zu einer Anhörung vor der Gerichtsverhandlung beordert wurde, sprach mein Vater mit dem Staatsanwalt. Sie handelten einen Deal aus: Ich sollte bei einem neunmonatigen „Life Challenge”-Bewährungs-und-Rehabilitationsprogramm mitmachen, um meine Zeit sinnvoll zu nutzen. Für meine Verbrechen sollte ich neun Monate in einer Einrichtung im Osten von Texas verbringen. Ich ging auf den Deal ein, denn ich hatte genügend Geschichten über die Alternative, das Strafgefängnis, gehört.
Drei Wochen später flüchtete ich jedoch aus der osttexanischen Life-Challenge-Anstalt, wo ich mir eine Hütte mit Mehrfachmördern, einem Vergewaltiger und einem Bombenleger teilte—sie alle waren unter Auflagen aus dem texanischen Staatsgefängnis freigekommen.
Ich rannte, weil ich wusste, dass man sofort das Büro des Sheriffs anrufen würde, wenn mein Fehlen auffällt. Da ich aber in Oregon und nicht in Texas angeklagt wurde, hoffte ich, dass mir genügend Zeit zur Flucht blieb, bevor alles geklärt war.
Ich fuhr den ganzen Tag per Anhalter und endete schließlich unter einer Brücke in Dallas. Ab der nächsten Nacht war eine Fernbus-Haltestelle mein neues Zuhause, wo ich kostenlos Salzcracker mit ein wenig Ketchup essen und tagsüber auf den gepolsterten Stühlen schlafen konnte. Nachts zog ich durch die Straßen von Dallas und machte Nickerchen auf warmen Lüftungsschächten, wenn ich mich sicher genug fühlte, um meine Augen zu schließen. Nach zwei Wochen überwies mir ein Freund etwas Geld und ich setzte mich in einen Bus zurück in meine Heimat Oregon.
Und jetzt wird die Geschichte komisch. Ich wurde verhaftet, ging auf einen Deal mit dem Staatsanwalt ein und hielt mich dann nicht an meinen Teil der Abmachung. Ich habe meine neunmonatige Strafe nicht abgesessen. Wieder zurück in Oregon wartete ich also auf eine erneute Anklage durch den Staatsanwalt. Ich wusste, dass es noch eine andere Möglichkeit gab: Ein Streifenwagen könnte mich abholen und direkt ins Gefängnis bringen.
Ich wartete erstmal ab und hielt mich bedeckt.
Schließlich bekam ich einen Brief von den Behörden. Ich sollte zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Jugendstrafanstalt auftauchen. Ich wusste nicht, was dort mit mir passieren würde, aber ich war froh darüber, dass es sich um die Jugendstrafanstalt handelte. Das bedeutete, dass ich nicht als Erwachsener angeklagt wurde.
Vor dieser Bestrafung hatte ich keine Angst. Ich war schon mal in einer Erziehungsanstalt in Tennessee. Ich hab schon viel Gewalt gesehen und auch schon viel Gewalt mitgemacht—ich musste schon viel einstecken, habe aber auch schon ordentlich ausgeteilt. Jugendliche machten mir keine Angst. Deshalb war ich zum gewünschten Datum auch wirklich da.
Und jetzt ratet mal, wie viele Tage ich in der Jugendstrafanstalt verbrachte. Genau einen.
Bei meiner Verhaftung sagte man mir, dass ich auf jeden Fall in den Knast gehen würde. Ich wurde nicht mal einem Richter vorgeführt. Mein Vater war nicht reich genug, um irgendjemanden zu bestechen—das kann man also ausschließen. Ich frage mich jedoch, was man gemacht hätte, wenn ich kein Jugendlicher aus der Mittelschicht mit guten Noten und der Aussicht auf ein Stipendium gewesen wäre.
Eine noch wichtigere Frage stelle ich mir allerdings heute noch: Was wäre passiert, wenn ich eine andere Hautfarbe hätte?
Ich weiß, dass man diese Frage nach 1968 in den USA nicht mehr stellen sollte, ich muss es aber einfach tun.
Letztens habe ich mir die erste Folge der Serie The Wire angeschaut (ich weiß, ich hänge ziemlich hinterher) und habe mich und meinen Bruder in den West Side Pit Boys wiedererkannt. Wir trugen Handfeuerwaffen bei uns, vertickten Drogen, bauten abgesägte Schrotflinten, verprügelten Leute mit verschiedenen Gegenständen, gingen der Polizei aus dem Weg, betrogen Andere um ihr Geld und hielten uns gegenseitig den Rücken frei. Niemand legte sich mit uns an. Während meinem High-School-Abschlussjahr mied uns jeder, denn sie hatten Angst davor, uns wütend zu machen. Um ganz ehrlich zu sein, ich wusste selbst nicht genau, was dann passiert wäre—und zu was ich allem fähig war.
Einmal war ich richtig drauf und klopfte mit einer Axt gegen das Autofenster eines Footballspielers meiner High School, während er und seine Freundin sich vor Angst im Fahrzeug eingesperrt hatten. Ich fragte mich nicht mal, was ich da überhaupt machte. Für mich war das an einem Freitagabend ein ganz normaler Zeitvertreib. Natürlich klopfte ich mit einer Axt gegen die Scheibe seines Autos. Der Typ war ein Arschloch, warum also nicht? Er wollte es ja nicht anders.
Ich traf viele falsche Entscheidungen und als man mich endlich verhaftet hat, wurde ich nicht zur Rechenschaft gezogen. Mein Fall wurde nicht verhandelt und ich wurde nicht verurteilt. Ich muss mich einfach fragen: Wenn sich das alles in den sozialen Brennpunkten von West Baltimore abgespielt hätte, wäre ich dann genau so behandelt worden wie im vorstädtischen Oregon? Hätte man mich einem Richter vorgeführt, wenn ich ein schwarzer Teenager gewesen wäre? Hätte man mich dann verurteilt, so wie es mir der Polizist damals prophezeit hat?
Einmal—und wirklich nur einmal—habe ich in Tennessee Speed verkauft, drängte ein Auto von der Straße ab, hielt einem Fremden eine Waffe ins Gesicht und warf sogar Müll aus meinem Fahrzeug. Letztendlich wurde ich von einem Polizeibeamten angehalten. Aber keines der eben genannten Vergehen war der Grund dafür.
Warum wir angehalten wurden? Wahrscheinlich weil einer meiner Mitfahrer schwarz war. Der Polizist wollte wissen, was er machte, warum er im Auto saß und was er vorhatte. Es war völlig egal, dass ich mich als Fahrer zu dem Zeitpunkt im Besitz der Waffe und der Drogen befand. Ich wurde nicht mal durchsucht, er interessierte sich kaum für mich.
Vor vier Jahren habe ich meine Memoiren veröffentlicht. Davor rief mich meine Lektorin aus New York an und sagte: „Willst du wirklich deinen Job verlieren?”
„Was?”
Sie meinte: „Du bist Lehrer und viele deiner Aktionen als Jugendlicher waren illegal und gewalttätig. Und selbst die Sachen, die du nicht durchgezogen hast, waren geprägt von mörderischen Absichten und Gedanken. Ich will dir bloß sagen, dass du nach der Veröffentlichung dieses Buchs vielleicht gefeuert wirst.”
Es stimmt: Früher war ich ein Drogendealer und gewalttätiger Teenager, heute bin ich ein High-School-Lehrer.
Mein Argument war, dass ich in der Vergangenheit zwar viele Fehler gemacht, diese aber nie verschwiegen habe. Ich bin danach aufs College gegangen und erhielt dort einen Abschluss und anschließend noch einen Master. Ich stehe zu meinen Fehlern und sage in Interviews immer, dass mir diese wahrscheinlich dabei helfen, eine Verbindung zu meinen Schülern aufzubauen. Ich habe nie vorgegeben, perfekt zu sein und das muss dir auch bewusst sein, wenn du mich einstellst. Ich bin nicht perfekt, dafür aber einfühlend.
Nachdem meine Memoiren in Druck gingen, wurde ich nicht gefeuert. Meine Vorgesetzten haben das Buch nicht gelesen, sie haben wahrscheinlich nicht mal davon gehört. Ich bin mir gar nicht sicher, ob sie überhaupt davon wissen. Es gab also keinen Aufschrei und keine Bestreben, mich zu entlassen. Ein Journalist der Lokalzeitung meinte zwar, dass ich gefeuert werden sollte, aber anscheinend hat auch niemand diesen Artikel gelesen. Ich habe meinen Job also behalten.
Dafür bin ich sehr dankbar. Ich bin auch dankbar für meine Möglichkeiten und das Vertrauen, das mir bei der Arbeit entgegen gebracht wird. Aber zu meiner Dankbarkeit gehört auch eine schmerzhafte Erkenntnis: Nicht jeder bekommt die Chance, die sich mir bot und nicht jeder kommt so leicht davon wie ich. Die Gnade, die mir widerfuhr, ist eine privilegierte Gnade.
Ich stelle hier nun die Frage: Wäre ich mit einer anderen Hautfarbe heute ebenfalls Lehrer? Könnte ich dann mit meiner Vergangenheit immer noch vor jungen, beeinflussbaren Schülern stehen? Würde man mich dann immer noch selbstständig arbeiten lassen und mich respektvoll behandeln?
Ich hoffe es. Ich hoffe, dass ich dann immer noch die gleichen Möglichkeiten hätte, denn ich bin nicht mehr so wie damals. Ich bin nicht gewalttätig. Ich verkaufe und nehme keine Drogen mehr. Ich bin allgemein immer ehrlich und vernünftig und bin mir sicher, dass viele ehemalige Straffällige mit verschiedenen Hintergründen das auch sind. Ich glaube an die Möglichkeit der Wiedergutmachung, denn ich habe sie persönlich erlebt.
Einmal wurde ich diskriminiert, lange nach meinem letzten Verbrechen. Ich war Mitte 20—Lehrer, Vater und ohne Vorstrafenregister. Aber an diesem Tag beging ich die Straftat, an einem Polizisten vorbeizufahren und dabei eine nach links gedrehte Baseball-Mütze mit geradem Schirm zu tragen, quasi das Hut-Äquivalent zu einer Kapuze.
Der Polizeibeamte hielt mich an, weigerte sich dann aber, mit mir zu reden. Ich wartete eine halbe Stunde und rief dann aus dem Fenster: „Würden Sie bitte mir mir über diese Fahrzeugkontrolle reden?”
Das tat er nicht. Er rief Verstärkung. Ich wartete weitere 15 Minuten und stieg schließlich aus meinem Auto aus.
Ich weiß, dass ich in meinem Fahrzeug hätte bleiben sollen, aber stattdessen ging ich auf sein Polizeiauto zu, hob meine Hände weit über meinen Kopf und rief ihm zu: „Es ist Ihre Pflicht, mir zu sagen, warum sie mich hier angehalten haben!”
Der Polizist zog seine Waffe. Er benutzte sie, um mich zurück in meinen Wagen zu scheuchen.
Damals und beim späteren Gespräch mit der Dienstaufsichtsbehörde hielt ich mich für den Pechvogel in dieser Situation. Jetzt denke ich darüber anders. Was, wenn ich nicht weiß gewesen wäre? Was wäre passiert, wenn ich als Schwarzer ungerechter Weise von einem Polizisten angehalten worden wäre, genug gehabt hätte und aus meine Auto ausgestiegen und schreiend auf den Beamten zugegangen wäre? Hätte er dann auf mich geschossen? Hätte man dieses Schießen dann später gerechtfertigt? Was wäre passiert, wenn ich zum Beispiel in Ferguson, Missouri, meine Hände hoch genommen hätte, um zu zeigen, dass ich unbewaffnet bin?
Peter Brown Hoffmeisters Erinnerungen an seine verdrogte, gewalttätige Zeit an der High School sind unter dem Titel The End of Boys erschienen.