Der Fastenmonat Ramadan ist einer der wichtigsten Bräuche des Islams. Die Regeln sind bekannt: Währenddessen darf man von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang nicht essen, trinken, rauchen oder Sex haben. Aber für jeden einzelnen der vielen Millionen Menschen mit muslimischem Hintergrund hat der Ramadan auch eine persönliche Bedeutung. Für manche ist es ein Monat des Innehaltens und der Reflexion, für andere ist er ein Familienfest, wiederum andere nehmen ihn zum Anlass, ihr Konsumverhalten und ihren Lebensstil zu hinterfragen.
Ich selbst bin die Tochter eines algerisch-muslimischen Vaters und einer belgisch-katholischen Mutter. Früher beschrieb mein Vater unsere Familie immer als “gläubig, aber nicht praktizierend”. Beim Familienessen stand bei uns zum Beispiel regelmäßig Alkohol auf dem Tisch. Die einzige Tradition, die wir beibehielten, war das Fasten während des Ramadans. Meine Eltern begannen während eines Urlaubs bei der muslimischen Seite der Familie damit. Ich war damals noch zu klein und machte erst mit, als ich alt genug war, also mit zwölf oder dreizehn.
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Meine ganze Kindheit und Jugend waren geprägt davon, mich irgendwo zwischen den Kulturen zu fühlen. Auch deswegen begann ich in einem Anflug von teenagertypischer Identitätskrise mit 16 damit, fünfmal am Tag zu beten und mein Leben nach islamischen Prinzipien auszurichten. Ich wollte herausfinden, wohin ich gehöre.
Mein Vater und mein Bruder fingen ebenfalls an, sich an die Gebetszeiten zu halten, und bald konvertierte auch meine Mutter zum Islam. Meine lesbische Schwester aber blieb Atheistin und etwas ausgeschlossen. Ein paar Jahre später, als ich zur Uni ging, hörte ich wieder mit dem Beten auf und fing an, mein Leben losgelöst von der Religion zu leben.
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Wie man sieht, hat sich mein Verhältnis zur Religion im Laufe meines Lebens immer wieder geändert – und damit auch mein Zugang zum Ramadan. Egal, woran man persönlich glaubt, als jemand mit muslimischem Hintergrund steht man jedes Mal wieder vor derselben Frage, wenn der Fastenmonat vor der Tür steht: Soll ich es dieses Jahr machen? Wenn ja: in welcher Form? Und vor allem: warum?
Das Einhalten des Ramadans ist natürlich eine Herausforderung – und das umso mehr, wenn nicht alle in deinem Umfeld es ebenfalls tun. Manche halten sich nicht an die Regeln, aber trauen sich nicht, es ihrer Familie zu sagen. Andere versuchen ihr Bestes, aber halten es nicht bis zum Ende durch. Viele wollen in dieser Zeit unbedingt vorbildliche Muslime sein. Sie gehen jeden Abend in die Moschee und vollbringen Hasanats, also gute Taten. Und dann gibt es die Leute, die zum Ramadan die an sie weitergegebenen Regeln hinterfragen und versuchen, diese mit ihrem eigenen Weltbild zu vereinen.
Eine von ihnen ist meine Freundin Yasmina Tayoub, eine 28 Jahre alte, belgisch-marokkanische Tänzerin, Choreographin und DJ. Bei einer Kanne Pfefferminztee und einem Teller Chebakia-Gebäck sprach ich vor Kurzem mit ihr darüber, dass ich mich kaum noch mit der muslimischen Gemeinschaft verbunden fühle.
Yasmina erzählte mir daraufhin von einer Messenger-Gruppe für lokale und vor allem queere junge Muslime. Dort fand ich dann tatsächlich auch andere Menschen, die mit diesem Problem zu kämpfen hatten. Eine davon ist Miou. Sie ist 28, Tätowiererin und arbeitet im Kommunikationsbereich einer auf Bildung ausgerichteten Hilfsorganisation für Menschen ohne Papiere. Ein anderer ist Abbas. Er ist 26 und arbeitet im Kulturbereich. Beide wollten ihre echten Namen hier nicht nennen, um ihre Privatsphäre zu schützen.
“Meine Eltern benutzten den Islam, um meinen Körper zu kontrollieren.”
Wir vier – Yasmina, Miou, Abbas und ich – sind alle in muslimischen Familien aufgewachsen, einige religiöser als andere. Wir alle haben den Religionsunterricht besucht und wir alle haben eine strengreligiöse Phase durchlebt. Dann kam eine Zeit, in der wir uns von unserem Glauben distanziert oder ihn sogar strikt abgelehnt haben, gefolgt von einer spirituellen, aber areligiösen Phase. Von dort haben einige von uns ihren Weg zurück zum Islam gefunden.
Als Feministin, die viel in queeren Räumen aktiv ist, war mein Hauptargument für die Lossagung vom Islam, dass ich nicht länger den homofeindlichen und sexistischen Diskurs akzeptieren konnte, den sich viele Musliminnen und Muslime aneignen, vor allem die in meiner Familie. Miou, deren Mutter Marokkanerin und deren Vater belgischer Konvertit ist, sagt, dass sie aufgehört hatte, sich als Teil der Religion zu fühlen, je mehr sie darüber las und je mehr Glaubenskonferenzen sie sich anhörte.
“Meine Eltern benutzten den Islam, um meinen Körper zu kontrollieren”, sagt Miou am Telefon. “Ich habe mich entschlossen, mit der Religion und auch mit meinen Eltern zu brechen. Wir haben seit drei Jahren nicht miteinander gesprochen.”
Yasmina hat marokkanische Eltern, beide sehr religiös. Sie sagt, das islamfeindliche Klima, in dem sie aufwuchs, sei der wichtigste Faktor für ihre Distanzierung zum Glauben gewesen.
“Ich glaube, wir unterschätzen den Einfluss von Islamfeindlichkeit und Rassismus auf unseren Glauben”, sagt Yasmina. “Es ist nicht schwer, dich von einem Teil deiner Identität loszusagen, wenn die Medien, die Gesellschaft und dein Umfeld ihn dämonisieren.”
Yasminas Bedürfnis, sich in die Weiße Gesellschaft zu integrieren, habe sie von ihrer Community entfremdet. Mit 27 begann sie dann, sich mit systemischen Rassismus und dessen komplexen Auswirkungen zu befassen, die dieser auf Menschen haben kann. “Mir wurde klar, dass ich versuchte, eine dieser Weißen Personen zu sein, die an nichts glauben – und das brach mir das Herz”, sagt sie.
Ich verstehe Yasmina. In den Jahren nach 9/11 hatte man es als Teenagerin mit muslimischem Hintergrund nicht leicht. In diesem Alter ist man schließlich besonders anfällig für die Meinungen anderer über einen. Ich war zwölf, als der Anschlag auf das World Trade Center passierte, und ich erinnere mich immer noch gut daran, wie sich schlagartig die Einstellung zu meiner Familie und meinen muslimischen Klassenkameraden änderte. Es war der Anfang der Gleichstellung von Islam und Terror, der Anfang vom Ende.
Abbas Eltern stammen beide aus Marokko. In seiner Kindheit und Jugend setzte er sich intensiv mit den verschiedenen islamischen Strömungen auseinander – vom strengen Wahhabismus bis hin zu progressiveren Interpretationen. Als Kind besuchte er regelmäßig die Moschee. Mit 15 entschied er sich dann dazu, einen Hidschab zu tragen. Damals identifizierte sich Abbas noch als Frau.
In seiner Jugend brannte Abbas regelrecht für den Islam und nahm ihn als Wegweiser für all seine Entscheidungen. Das änderte sich allerdings, als er 20 war. Er begann, seinen Glauben zu hinterfragen – vor allem, nachdem er Schriften des griechischen Philosophen Sokrates gelesen hatte.
“Ich hatte den Islam da schon mehrere Jahre studiert und gelehrt, und trotzdem hatte ich noch Zweifel”, sagt Abbas am Telefon. “Also fragte ich mich: ‘Vielleicht bin ich überhaupt kein Muslim?’”
“Der Islam wurde uns mithilfe von Angst und Aberglaube eingetrichtert.”
Das führte zu einer sechsmonatigen Identitätskrise. In dieser Zeit hörte er auf, den Hidschab zu tragen. Ihm wurde auch klar, dass er unterbewusst schon immer einen gewissen Argwohn gegenüber der Religion in sich getragen hatte. Das lag vor allem an dem körperlichen und psychischen Missbrauch, den er in der Moschee erfahren hatte. “Du wurdest bestraft, wenn du Fragen gestellt hast, wie ‘Warum denken Christen das und wir jenes?’”, sagt er. “Es ist doch als Kind normal, neugierig zu sein.”
Für die meisten Menschen ist das Lossagen von einer Religion ein sehr einsamer Prozess. Schließlich war genau das, was wir alle in unserer religiösen Bildung vermissten, Milde und Liebe. “Der Islam wurde uns mithilfe von Angst und Aberglaube eingetrichtert”, sagt Yasmina. “Wir haben gelernt, die Hölle und Gott zu fürchten. Aber das ist nicht der Islam. Der Islam ist Liebe.”
Und trotzdem basiert so viel von dem, was wir über das korrekte Leben als Muslimin oder Muslim gelernt haben, auf Einschüchterung. Viele Lehren verbanden populäre Mythen mit religiösen Prinzipien und hinterließen tiefe Eindrücke bei uns als Kinder. Und diese waren es dann auch, die schließlich unseren Glauben als Erwachsene ins Wanken brachten.
Dazu gehören Sachen wie “geh nicht über Gullideckel, denn darunter lebt der Teufel” oder “wenn du deine Nägel abkaust und wegwirfst, wird der Teufel dich damit in der Hölle kratzen”. Auch während des Ramadans war diese ständige Furcht sehr präsent. Wir alle hatten Angst, in den Augen Gottes nicht perfekt zu sein und für unsere Sünden bestraft zu werden.
Seit ich mich von meinem Glauben distanziert habe, empfinde ich immer wieder doppelte Schuld, insbesondere um die Zeit des Ramadans. Manchmal frage ich mich: Ergibt das überhaupt Sinn für mich, da mitzumachen, obwohl ich nicht regelmäßig bete oder anderen religiösen Regeln folge?
Nachdem wir uns vom Islam gelöst hatten, wandten Yasmina, Miou und ich uns unabhängig voneinander nichtreligiöser Spiritualität zu: Meditation, alternative Medizin, Tarot, Astrologie. Anscheinend brauchen wir Rituale für unsere psychische Gesundheit – egal, wie diese auch aussehen. Aber im Gegensatz zu Miou haben Yasmina, Abbas und ich letztendlich wieder Frieden mit unserer Religion geschlossen, wenn auch in unterschiedlicher Form.
Miou identifiziert sich heute als Trans und als Atheistin. Moral ist immer noch wichtig für sie. Sie will ein guter Mensch sein, aber “nicht aus Angst, sondern weil es normal ist”.
Eine wichtige Veränderung für Yasmina und mich war, dass wir von feministischen und queeren Religionsführern erfuhren, die die sexistischen Interpretationen des Korans infrage stellten und neue vorschlugen. Darin konnten wir uns dann auch wiederfinden.
Eine Sure, wie die Kapitel im Koran heißen, hat viele mögliche Interpretationsmöglichkeiten und kann in den falschen Händen schnell eine schädliche Bedeutung annehmen. Bislang waren es ausschließlich Männer, die uns diese Auslegungen diktiert haben. Aber die neue Generation Gelehrter besteht darauf, dass es in der Heiligen Schrift keine Homofeindlichkeit gibt, die komme erst durch die Interpretationen homofeindlicher Menschen.
Im Religionsunterricht wurde mir früher beigebracht, dass ich nicht während meiner Periode fasten dürfe, weil ich dann “unrein” sei. Aber man kann diese Koranstellen auch so interpretieren, dass das Fasten während der Periode schlecht für die Gesundheit ist – körperlich und mental. Diese Auslegung fußt auf Mitgefühl und nicht auf Scham und Ausgrenzung. Außerdem erlauben die Neuinterpretationen es mir, einige meiner anderen spirituellen Praktiken mit dem Islam zu vereinen. Ein Gebet ist letztendlich auch eine Art von Meditation.
Abbas begann 2018, wieder zur Religion zu finden, nur ein paar Monate, nachdem er sich komplett von seinem Glauben losgesagt hatte. Einer seiner ehemaligen Koranlehrer lud ihn zu einem religiösen Retreat mit starkem Sufismus-Einfluss ein. Bei dieser Strömung des Islam stehen spirituelle Praktiken im Vordergrund und nicht gesellschaftliche Regeln und Verbote.
“Zuerst lehnte ich ab”, sagt Abbas. “Ich sah mich nicht länger als Muslim und ich mochte diese Strömung des Islam auch nicht wirklich.” Aber schließlich ging er doch.
Bei dem Retreat traf Abbas auf eine offenherzige Gemeinschaft, in der Homosexualität kein Tabu war, Menschen verschiedenen Geschlechts gemeinsam in der Moschee sitzen konnten und das Tragen des Hidschabs nicht vorgeschrieben war. “Das war für mich alles undenkbar gewesen”, sagt er.
Sich beim Ramadan nicht an die Regeln zu halten, ist eine schwierige Entscheidung, in manchen Fällen kommt es einem Outing als Nichtmuslimin gleich.
Der Islam besteht aus fünf Säulen: das Glaubensbekenntnis, die fünf Gebete am Tag, soziale Spenden, das Fasten während des Ramadans und die Pilgerreise nach Mekka. Die Fastenzeit ist buchstäblich der sichtbarste Teil von allen.
Auch wenn viele Menschen immer wieder für sich ihren Glauben hinterfragen, sehen andere schnell, ob du fastest oder nicht. Während des Ramadans sind deine Zweifel und dein Hadern mit dem Glauben für alle in deinem Umfeld klar zu sehen. Wenn du dich nicht an die Regeln hältst, wird dein Umfeld das kommentieren. Es ist eine schwierige Entscheidung, in manchen Fällen kommt es einem Outing als Nichtmuslimin gleich.
Heute haben Yasmina, Miou, Abbas und ich eine unterschiedliche Beziehung zum Ramadan. “Früher habe ich ungeduldig darauf gewartet”, sagt Miou. “Jedes Jahr war ich sehr emotional und weinte beim ersten Gebiet, das ich immer an Palästina richtete.” Für Miou war dieser Monat eine Zeit der Reinheit, der erneuten Verbindung, der Familie und des Friedens. Kontakt zur Familie hat Miou heute nicht mehr. “Es tut weh, weil ich mich so allein fühle.”
Yasmina hat vor ein paar Jahren wieder angefangen, den Ramadan zu begehen, aber sie legt jetzt Wert darauf, nicht zu hart mit sich zu sein, da sie in der Vergangenheit Probleme mit einer Essstörung hatte. “Ich höre auf meinen Körper und wenn ich das Gefühl habe, das etwas nicht stimmt, dann esse ich”, sagt sie. Eine Regel, die wir auch während unserer Unterhaltung diskutierten, war das Verbot, während des Fastens Wasser zu trinken. Wie kann das gut für einen sein? Und wo kommt diese Regel überhaupt her?
Yasmina neuer Ansatz ist ähnlich wie ihre Herangehensweise ans Gebet. “Meine Schwester fing wieder an zu beten, aber ich traute mich nicht, weil ich nicht wusste, ob ich das über einen längeren Zeitraum regelmäßig machen konnte”, sagt sie. “Aber ich denke mehr und mehr, dass ich mir nicht diesen Druck machen sollte. Bereits ein Gebet pro Tag ist gut für dich und für deinen Pfad zu Allah.”
Mein Motto für den diesjährigen Ramadan: einfach chillen.
Abbas musste noch nie zum Ramadan fasten, weil er Diabetes hat. Das machte es allerdings schwerer für ihn, eine Bindung zu dieser Tradition aufzubauen. Heute versteht er die Fastenzeit als Gelegenheit, in sich hineinzuhorchen. “In diesem Monat möchte ich an meiner Verbindung zu Gott und mir selbst arbeiten”, sagt er. “Es heißt, während des Ramadans ist der Teufel nicht unter uns, aber unser Ego ist es noch. In diesem Licht möchte ich mein Verhalten beobachten.”
Was mich angeht, habe ich mich zum ersten Mal seit Jahren dazu entschieden, den ganzen Ramadan zu fasten. In der Vergangenheit hat mich der Prozess eher verwirrt. Ich habe es ein paar Tage hier und dort getan und bin dann häufig doch auf einer Party gelandet, auch wenn ich es gar nicht wollte. Ich sag es mal so: Verkatert fasten ist grauenvoll.
Neben dem Fasten habe ich mir auch andere Ziele gesetzt: meditieren, sozial und beruflich die Dinge langsamer angehen und einen kritischen Blick auf mein Konsumverhalten werfen. Ich möchte dieses Mal auch nicht ausgehen und stattdessen entspannt Zeit mit engen Freunden und Familie verbringen.
Aber gut, während ich diesen Artikel schreibe, ist der Ramadan noch nicht vorbei. Es ist also immer noch möglich, dass ich irgendwann mit meinem Vorhaben scheitere – wenn du es so nennen willst. Und das ist OK. Ich glaube nicht, dass man diese Interpretation irgendwo im Koran findet, aber mein Motto für den diesjährigen Ramadan ist: einfach chillen.
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