Drogen

Wie ich mit 24 feststellte, dass ich Alkoholiker bin

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Ich sitze verheult in der letzten Reihe einer Schule irgendwo in Berlin-Mitte. Vorne am Lehrerpult erzählt ein trockener Alkoholiker seine Geschichte. Er erklärt, wie er früher trank, wie seine Beziehungen darunter litten und wie er trocken wurde. Als ich das höre, mit gerade einmal 24 Jahren, denke ich: “Scheiße, ich bin Alkoholiker. Mein Leben ist vorbei.”

Dass ich ein Alkoholproblem habe, dämmerte mir schon Monate vor meinem Besuch in der Selbsthilfegruppe. Im September 2017 war die YouTube-Dokumentation Simply Complicated von Demi Lovato erschienen, in der ich mich wiedererkannt habe. Die Sängerin erzählt darin von ihren Süchten, von ihrem alkoholkranken Vater und von ihrer traumatischen Kindheit. Ihre erste Sucht war die Bulimie. Meine das Binge-Essen. Später kam der Alkohol hinzu.

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Ich war nie jemand, der jeden Tag getrunken hat. Ich habe nie billigen Fusel unter irgendeiner Brücke aus einem Tetrapack hinuntergestürzt – und doch bin ich genau das: ein Alki. Ich hatte lange überlegt, diesen Text unter einem Pseudonym zu schreiben. Aber ich habe mich dagegen entschieden. Ich teile meine Geschichte, weil ich mit der Scham brechen und dem Stigma nicht nachgeben möchte.

Alkohol ist in unserer Gesellschaft eine zelebrierte Droge. In fast jeder Netflix-Serie saufen die Charaktere ständig oder stehen mit einem Glas in der Hand rum. Besoffen sein ist lustig und toll und, woohoo, kotzen gar nicht so schlimm. Alkoholismus hingegen ist verpönt. Alkoholiker oder Alkoholikerinnen gelten als schwach und undiszipliniert. Ein Thema, über das man lieber schweigt. Ein Paradoxon: Wer die Droge verherrlicht, muss sich auch mit ihren Konsequenzen auseinandersetzen.

Der Alkohol und ich

Meinen ersten Rausch hatte ich mit 13. Wir haben Mischbiergetränke getrunken. Später kamen Vodka und Co. hinzu. Die erste Alkoholvergiftung hatte ich mit 15 oder 16. Darauf sollten viele weitere folgen. Als ich mal wieder im Krankenhaus aufwachte, sagte einmal eine Pflegerin zu mir: “Ach, du schon wieder, dich kennen wir doch.” Meist holten mich Freundinnen oder Freunde ab. Oder ich war auf mich allein gestellt – zu Hause hat das anscheinend niemanden interessiert. Ich schämte mich dafür.

Für mich war zu trinken keine bewusste Wahl, es passierte einfach. Wenn ich als Jugendlicher trank, fühlte ich mich zugehörig und leicht. Ich hatte betrunken keine Angst und keine Probleme. Ich musste all die Trauer nicht spüren, die in meiner Kindheit entstanden war. 

Ich komme aus einer dysfunktionalen Familie. In der Schule wurde ich erst für mein Übergewicht und dann für meine Homosexualität ausgegrenzt. Ich hatte keinen Zufluchtsort, niemanden, der mich in den Arm genommen hat und mir sagte, dass ich gut war wie ich war und dass alles gut werden würde. Ich bekam das Gegenteil vermittelt. Trost suchte ich erst im Essen und dann in der Flasche. Mein Leben lang hatte ich Angst, meine Gefühle könnten mich umbringen, so intensiv waren sie.

In den Medien wurde Alkohol schon in meinen Teenagerjahren idealisiert. In Bad Teacher zum Beispiel spielt Cameron Diaz eine Lehrerin, die offensichtlich ein Problem mit Alkohol und Drogen hat. Das Ganze wird total witzig ausgelegt. So habe ich das auch immer gesehen: Ich habe doch nur Spaß. Dass dahinter aber ganz andere Beweggründe standen, war mir als junger Mensch nicht klar. Welcher 16-Jährige sagt schon: Ich trinke aufgrund jahrelanger traumatischer Erfahrungen und der andauernden Trauer und Angst, die ich empfinde? Als Jugendlicher habe ich die Sucht nicht kommen sehen, also musste mein erwachsenes Ich einspringen, um sie zu besiegen.

Ein Alkoholproblem haben immer nur die anderen

Als ich Jahre später weinend in der letzten Reihe zwischen all den Alkoholikerinnen und Alkoholikern sitze, mein Gesicht in meiner Armbeuge verberge, denke ich über die Leute dort nach: Alles gepflegte Menschen, die meisten jung und hip – sie entsprechen so gar nicht dem Klischee des Alkis, der unter der Brücke liegt. Genau dieses Klischee ist für viele, die ein Alkoholproblem haben, ein Grund zum Weitersaufen: Sie glauben im Vergleich ihr Leben mehr oder weniger unter Kontrolle zu haben. Vielleicht wenden sich Menschen von ihnen ab, wegen der Kontrollverluste und dem ständigen Alkoholkonsum, aber sie haben noch eine Wohnung, ein Auto und einen Job. Eigentlich geht es ihnen doch gut.

Ich kann doch kein Alki sein, dachte auch ich, der alles hatte und sich doch immer irgendwie verloren fühlte. Nachdem ich die Demi-Lovato-Doku über die Monate bis zu meinem ersten Meeting etwa 20 Mal gesehen hatte, dämmerte es mir: Ich habe ein Problem. Die Jahre zuvor hatte ich ständig Blackouts, verlor betrunken die Kontrolle und hörte von Freundinnen und Freunden, dass ich ein anderer war, wenn ich trank. Die Sucht ist hinterfotzig. Man bemerkt nicht, dass sie entsteht – erst als es zu spät und sie so präsent war, dass ihre Gegenwart alles einnahm, fiel bei mir der Groschen.

Bevor ich mir aber Hilfe suchte, kündigte ich meinen Job. Ich dachte, dass er der Grund war, wieso ich soviel trank. Dann ließ ich meine Partyfreunde zurück, weil sie der Grund für meine ständigen Kontrollverluste sein mussten, glaubte ich. Beziehungen konnte ich nie führen, weil jedesmal die ganze Trauer rauszukommen drohte, die sich seit meiner Kindheit in mir aufstaute. Wenn ich jemanden datete, fing ich manchmal einfach an zu weinen und konnte es mir nie erklären. Ich dachte, ich sei beziehungsabhängig. Freundschaften konnte ich ebenfalls nur schwer pflegen – sobald mir jemand zu nah kam, brach ich den Kontakt einfach ab. Mir tat es zu sehr weh, mir selbst nah zu sein, weil dann all diese aufgestauten, schmerzhafte Gefühle rauskamen. Die Floskel ist wahr: Wer sich selbst nicht nah ist, der kann auch anderen nicht nah sein.

Mir kam es gar nicht in den Sinn, dass wirklich der Alkohol das primäre Problem war. Er war der Deckel auf meinem emotionalen Kochtopf. Als ich schließlich abends allein in meiner Küche saß und ein oder zwei Flaschen Wein köpfte, um zu entspannen und schlafen zu können, wurde der Gedanke aber immer lauter: Nicht die Umstände sind das Problem, sondern der Scheißalkohol.

In der Nacht zum 22. Januar 2018 ging ich alleine in Bars. Ich dachte, selbstständige Menschen die niemanden brauchen, würden das so tun. So wollte ich auch sein. Als ich am nächsten Morgen mit einem Kater samt Filmriss aufwachte, erinnerte ich mich selbst immer mehr an eine Person, die ich lange kannte und bei der sehr offensichtlich war, dass sie alkoholabhängig ist. Ich griff nach meinem Handy und rief einen Freund an, von dem ich wusste, dass er trocken ist. Er geht offen mit dem Thema um, postet öfter in sozialen Medien darüber. Nur Stunden später nahm mich dieser jemand mit zu dem Treffen der Selbsthilfegruppe.

Ich schließe einen Pakt mit mir

Dort in der Schule sitze ich also und höre zu. Als der Sprecher fertig ist, klatschen die anderen Teilnehmenden. Danach geht es reihum. Andere dürfen sprechen und erzählen, wie sie es geschafft haben trocken zu bleiben und mit welchen Erfahrungen der Anderen sie sich identifizieren konnten. Manche sind schon ein oder zwei Jahre, andere zwanzig oder dreißig Jahre abstinent. Bei jeder Person kommen mir die Tränen. Es fühlt sich wie nach Hause kommen an, endlich verstanden zu werden und mich selbst zu verstehen. Wenn die das schaffen, schaffe ich das auch, denke ich und schließe einen Pakt mit mir: Es ist mein Job, auf mich aufzupassen, sonst gibt es niemanden, der das tut. Also werde ich jetzt alles daran setzen, um dieser Verpflichtung nachzukommen. Ich möchte nicht so weiterleben, ständig die Kontrolle verlieren und mich in Isolation verlieren. Mein größter Wunsch aber ist in diesem Moment, glückliche Beziehungen zu führen. Die fehlen mir seit meiner Kindheit.

Einen Monat später besuche ich eine Freundin in Los Angeles und sitze in einem Uber. Der Fahrer bringt mich zu einem sogenannten Recovery Center in West Hollywood, wo täglich und rund um die Uhr Treffen von Selbsthilfegruppen stattfinden. An seinem Rückspiegel baumelt ein Chip, den die Anonymen Alkoholiker ausgeben, um zeitliche Meilensteine der Abstinenz zu feiern. Ich spreche ihn darauf an und wir quatschen über die Sucht, die Genesung und wie der Alkohol uns beeinflusst hat, als wäre es Small Talk über das Wetter. Ich bewundere auch heute noch die offene Art der Amerikanerinnen und Amerikaner im Umgang mit Süchten und wie normal es für sie ist, in Meetings zu gehen und sich Hilfe zu suchen. Das wünsche ich mir auch für Deutschland.

Wenn ich mich als Alkoholiker oute, dann höre ich meist sowas: “Nein, das kann doch nicht sein. Du siehst doch gar nicht aus wie ein Süchtiger. Du kannst doch nach dem ersten Glas einfach aufhören!” Und “Na, selber schuld, wer so viel trinkt, der muss sich nicht wundern, dass er ein Problem bekommt.” Ich glaube, Menschen benutzen diese Vorurteile, um sich abzugrenzen. Man muss unter der Brücke leben, um süchtig zu sein, also bin ich fein raus. Ich kann nach einer Flasche aufhören, bei mir ist alles gut. Ich nehme nur manchmal Drogen, meine Freunde nehmen viel mehr – ICH habe kein Problem.

Diese Gedankenmuster sind in unserer Gesellschaft weit verbreitet. Dabei stigmatisieren sie Süchte nur weiter und verhindern, dass sich Betroffene Hilfe suchen. 6,7 Millionen Menschen konsumieren laut Bundesgesundheitsministerium Alkohol in bedenklichen Mengen, 1,6 Millionen gelten als abhängig. Etwa 74.000 Menschen sterben jedes Jahr in Deutschland an den Folgen ihres Alkoholkonsums.

Tatsache ist, dass die meisten alkoholkranken Menschen mit dem ein oder anderen Trauma zu kämpfen haben und sich mit Alkohol selbst medikamentieren. Suchttendenzen sind vererblich und somit Familiensache. Die Frage der Schuld stellt sich nicht. Wenn Alkoholikerinnen und Alkoholiker ein Glas trinken, dann will der Körper mehr. Die neuronalen Suchtbahnen im Gehirn sind gelegt und der Autopilot springt beim ersten Tropfen an. Kontrolliertes Trinken gibt es für alkoholabhängige Menschen somit nicht – es hilft nur die Abstinenz. Wer ihnen wirklich helfen möchte, der spricht über das Thema und all das, was darunter liegt. 

Das Leben als trockener Alkoholiker

Über dreieinhalb Jahre Abstinenz zähle ich mittlerweile. Diese dreieinhalb Jahre vergingen manchmal wie im Rausch, so wahnsinnig schön und aufregend, und manchmal wie die längste Depression der Welt. Betäubte Gefühle verschwinden nicht einfach, sie warten in einem kleinen Kämmerchen um herauszukommen, wenn du dich nicht mehr so stark gegen die Tür lehnst. Genau das passierte mit mir: Meine Gefühle stießen die Tür auf, die ich jahrelang mit so viel Kraft versperrt hatte.

Seit über einem Jahr gehe ich wieder zur Therapie, um meine Familiengeschichte und meine Beziehungen aufzuarbeiten. Sie sind einige der Gründe, wieso ich als Kind angefangen habe, meine Gefühle zu betäuben. Andere Menschen kann ich nicht ändern, genauso wenig die Vergangenheit. Auch das Label “Alkoholiker” gefällt mir bis heute nicht, aber ich muss damit leben, denn trinken kann ich nicht. Der Alkohol war immer ein Symptom für das, was darunter lag. Genau um diese Sachen muss ich mich jetzt kümmern.

Zu Beginn der Therapie weinte ich jeden Tag und merkte, dass ich eigentlich ein sehr sensibler Mensch bin, der oft Angst hat und den ich unter all dem Alkohol versucht habe zu verstecken. Das Kind von damals ist noch da und möchte getröstet werden. Ich war für ein paar Jahre nicht ich selbst, sondern ein Alter Ego, das ich erschuf, um mein Leben zu bewältigen. Je mehr ich die Angst und Trauer jedoch annehme, desto leichter wird es. Der Autor Eckhart Tolle hat einmal geschrieben: Abhängigkeiten entstehen dort, wo Schmerz nicht gefühlt werden möchte.

Letzten Endes will ich das, was alle wollen: Freiheit. Freiheit für mich als erwachsener Mensch, für das Kind in mir, das sich mit Essen vollstopft, weil es Angst vor Gefühlen hat und sich einsam fühlt, und für den Jugendlichen, der lernte sich selbst zu hassen und Zuflucht in materiellen Dingen und Alkohol suchte. Ich habe mich vollgepinkelt, vollgekotzt, Dinge getan, für die ich mich schäme und die ich am liebsten ausradieren würde. Das kann ich aber nicht. Stattdessen versuche ich, die Vergangenheit so gut anzunehmen, wie es eben nur geht. Ich versuche, all diese Erfahrungen als Stärke und nicht als Schwäche zu sehen. Raus aus der Opferrolle.

Heute bin ich stolz auf mich, dass ich die Sucht geschlagen habe. Wenn mir vor dreieinhalb Jahren jemand gesagt hätte, wie geil sich mein Leben als trockener Alki entwickeln würde, hätte ich in der letzten Reihe des Klassenzimmers gelacht und nicht geweint: Ich konnte mir berufliche Wünsche erfüllen, die ich nie für möglich gehalten habe. Ich komme immer besser mit mir selbst klar. Ich habe tolle Freunde und eine feste Beziehung. Mit der Nüchternheit war mein Leben nicht zu Ende. Es hat gerade erst angefangen.

Der Name des Autors ist ein Pseudonym

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