Wie ich versucht habe, mit Hilfe "der Sekte" vom Heroin wegzukommen
Nicht der Protagonist | Foto: imago | Sabine Gudath

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Wie ich versucht habe, mit Hilfe "der Sekte" vom Heroin wegzukommen

Ich hörte, man müsse "der Sekte" angeblich sein ganzes Geld geben. Schön – ich hatte bloß Schulden. Ich hörte, man müsse seine Wohnung auflösen. Ich hatte keine. Ich hatte nichts zu verlieren.

Dass ich wieder mal am Ende war, erkannte ich an einem kühlen Maimorgen. Ich hatte auf einer Couch geschlafen, die unter einem Baum stand. Eine verwirrte Frau um die 30 hatte ihren gesamten Hausrat in einem Park aufgestellt, nachdem sie aus ihrer Bude geflogen war – darunter mehrere Sofas. Ich hatte sie am Kotti getroffen, direkt um die Ecke, als sie Heroin vertickte. Weil sie ihr Essen immer auf dem Boden liegen ließ, wohnte sie unter dem Baum zusammen mit einem Haufen Ratten.

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Es war 2015 und ich mal wieder obdachlos, denn sogar aus dem besetzten Haus, in dem ich zuletzt wohnte, hatten sie mich rausgeschmissen – die wollten keine Junkies. Ich hatte keinen Cent mehr, dafür aber drei offene Bewährungsstrafen. Um an Geld für Heroin zu kommen, klaute ich.

Der Verwirrten hatte ich mein Handy gegeben, dafür bekam ich mal einen Zug von der Folie, mal dort eine winzige Line. Auf einem der anderen feuchten Sofas pennte ein junger Vietnamese, der kaum redete und um jedes noch so kleine bisschen Heroin bettelte.

Schon länger wusste ich, dass sich mein Leben ändern muss. In allen Entgiftungsstationen und Therapien war von dieser einen Organisation die Rede, die gestrandete Abhängige rund um die Uhr aufnimmt: Synanon. Unter Junkies hieß es einfach nur "die Sekte". Die Leute wussten alle etwas darüber zu sagen, meist Schlechtes. "Du wirst dort gebrochen, das ist Psychoterror", sagten die einen. "Die werden doch von Scientology finanziert", die anderen.

Mir war das egal, ich hatte nichts zu verlieren. Man muss "der Sekte" angeblich sein ganzes Geld geben? Schön – ich hatte ohnehin bloß Schulden. Man muss seine Wohnung auflösen, um dort einzuziehen? Ich hatte keine.

Auf seiner Homepage schreibt Synanon: "Bewerbung? Unnötig. Warteliste? Existiert nicht. Kostenübernahme? Nicht erforderlich." Das ist wichtig, denn in Deutschland zahlt zwar die Rentenversicherung für Drogentherapien, aber nur begrenzt. Die Therapiezeiten werden kürzer und normalerweise hat man nur zwei Versuche. Wer es danach nicht schafft, clean zu bleiben, ist auf sich allein gestellt.

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Bliebe noch ein stationärer Entzug im Krankenhaus, doch dort ist laut dem Verein Junkies, Ehemalige und Substituierte (JES) "die Rückfallquote fast 100 Prozent".

Bei "der Sekte" hingegen ist ein Entzug immer möglich.

Als ich in der S-Bahn saß, dachte ich darüber nach, wie ich in Saarbrücken ein Junkie geworden war, dann nach Berlin kam, weil ich mir von der großen Stadt so viel Aufregung versprach, dass ich keine Drogen mehr brauchen würde. Außerdem sollte es hier endlich mit der Schriftstellerkarriere klappen. Jetzt war ich bereits fünf Jahre hier und was war passiert?

In der ersten Therapieeinrichtung bereits rückfällig mit Tramadol, einem Opioid, das nicht in den Urinkontrollen auftauchte, und schließlich rausgeflogen wegen Kokain. Alle möglichen verrückten Internetdrogen durch einen Mitpatienten kennengelernt und mich so abgeschossen, dass mich die Polizei abgeholt und in eine geschlossene Psychiatrie gebracht hat. Obdachlosenheim, Methadonprogramm, U-Bahn-Heroin – die komplette Absturzschiene. Nun hatte ich nur noch zwei Optionen: Therapie oder Knast.

Also trank ich meine letzte Dose Bier aus und schmiss sie auf den gepflegten Rasen vor dem Gebäude der "Sekte". Von ein paar Details aus dem Programm, das mich erwartete, hatte ich schon gehört: keine Therapeuten, sondern nur ehemalige Abhängige, viel Arbeit, um das Ganze auch ohne Rentenversicherung zu finanzieren. Und ich hatte gehört, dass es sogenannte Schreigruppen gebe, in denen dir im Prinzip alle sagen, was für ein verkommener, asozialer Scheißjunkie du doch seist und dass du dich komplett ändern müsstest.

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Seit 1971 gibt es Synanon in Deutschland, damals noch unter anderem Namen und als Verein. Die heutige Stiftung Synanon gibt es seit 1999. Kritik am Konzept gibt es immer wieder, darunter der Vorwurf, dass Synanon eigentlich eine Sekte sei. Experten widersprechen dem aber.

Die Bewohner dürfen in den ersten drei Monaten keinen Kontakt zu Angehörigen haben, später wird das aber erlaubt. Diese Zeit ist erforderlich, damit du dich auf dich selbst besinnen und in deinem neuen Lebensumfeld zurechtfinden kannst. Aber auch deine Angehörigen, Freunde und Bekannten brauchen diese Zeit des Abstandes, schreibt die Organisation.

Umstritten ist auch die komplette Abstinenz, die Synanon von seinen Bewohnern verlangt, selbst Rauchen und Kopfschmerztabletten sind verboten. Stefan Gutwinski, Leiter der Arbeitsgruppe Psychotrope Substanzen an der Charité, sagt: "Man weiß, dass bei Opiaten eine Abstinenz leider für sehr viele Menschen kein realistisches Ziel ist. Der Entzug ist so anstrengend, dass man sich bei einem Großteil der Patienten für eine Opioid-Substitution entscheidet." Aber auch das ist bei Synanon nicht drin.

Deshalb sei das Risiko eines Rückfalls hoch, sagt Marco Jesse von Vision, einem Verein für Drogenselbsthilfe: "Das Problem bei Abstinenzprogrammen ist sehr oft: Die Leute gehen rein, sind nach einigen Wochen abstinent, kommen raus und sind dann wieder zurück in ihren gewohnten Lebenskontexten, mit allen Problemen. Dadurch ist der Rückfall vorprogrammiert."

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Ich kannte den problematischen Ruf der Stiftung, als ich mich auf die hölzerne Bank setzte, auf der man auf seine Aufnahme wartet. Sie war durchgesessen von Generationen komplett zerstörter Menschen.

Ich erinnere mich, dass mich als Erstes die NDÜ erwartete, das "Nach Drogen Überprüfen". Ich musste mich vor zwei Jungs, ehemaligen Abhängigen, komplett ausziehen, sogar mein Arschloch spreizen und dazu husten, damit sie sicher waren, dass ich keine Drogen aufs Gelände schmuggelte.

In einem Nebenraum war ein anderer Neuankömmling, ein Pole, der wegen des Alkoholentzugs schon nicht mehr zitterte, sondern wankte.

Mein Zimmer war karg eingerichtet mit IKEA-Möbeln, klinisch sauber und mit alten Spiegel-Ausgaben als einzige Unterhaltung. Ich musste den ganzen Tag auf einem ungemütlichen Stuhl sitzen, immer bewacht von einem älteren Mitbewohner. Hinlegen, erinnere ich mich, durfte ich mich erst um neun Uhr abends.

Am nächsten Morgen traf ich den Hausverantwortlichen (HVA – es gab hier viele Dienstgrade). Er trug einen Bart, doch mein Schnurrbart, der musste ab. Auch Schmuck sollte ich in den ersten drei Monaten nicht tragen. Meinen Nasenring zog ein dicker Hooligan in der Zimmermannswerkstatt mit einer Kneifzange raus, der wegen seiner Schmerzmittelsucht schon das dritte Mal hier war.

Alle persönlichen Dinge nahmen sie mir ab. Keine Bilder von Partnern oder Eltern durften wir behalten, nicht einmal unsere Unterhosen. Stattdessen bekamen wir gespendete Sachen und das, was ehemalige Bewohner zurückgelassen hatten.

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Für alles brauchte ich eine Erlaubnis. Denn Junkies sind wie kleine Kinder und tun grundsätzlich das, was sie nicht dürfen, oder das, was ihnen Spaß macht – meist Heroin. Das hier war das Gegenprogramm. Es ging sofort los mit der Arbeit: spülen, putzen, Tische decken und bis zu dreimal täglich Toilette putzen. Körperlich ging es mir gut, aber psychisch war ich am Ende. Andere waren in noch schlechterer Verfassung, ich habe Leute mit Kotzeimer in der Linken gesehen, die mit der Rechten Tische gedeckt haben.

Nach drei Tagen das nächste Gespräch mit dem HVA: Ich solle meine Wohnung und mein Konto auflösen und alles Geld der Organisation "spenden". Ein Konto hatte ich nicht, nur Schulden. [Synanon widerspricht dieser Darstellung per E-Mail: "Hilfesuchende Menschen (müssen) ihr Vermögen bei uns nicht abgeben. Selbstverständlich können sie auch ihre Wohnung behalten." Anm. d. Red.]

Das gesamte Arbeitslosengeld, das ich während des Aufenthalts bezog, ging an die Organisation. Mir blieb nur ein Taschengeld von anfangs 25, später 75 Euro im Monat. [Synanon dazu: "Das Taschengeld staffelt sich entsprechend der Verweildauer und beträgt maximal 200 Euro im Monat."]

Wir mussten auch alle zwei Monate für einen Computerkurs unterschreiben, der die Bewohner für den Arbeitsmarkt qualifizieren sollte. Die Mittel dafür kamen vom Europäischen Sozialfonds. Nur gab es diesen Kurs gar nicht. [Synanon widerspricht dieser Darstellung und schreibt: "Die Stiftung Synanon verwendet die ihr zur Verfügung gestellten Fördergelder des ESF zweckgemäß." Anm. d. Red.]

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Foto: imago | ZUMA press

Eine Untersuchung in den 90er Jahren fand heraus, dass nur jeder fünfte Neuankömmling länger als zwei Wochen bleibt. Sofort am nächsten Tag wieder gegangen ist zum Beispiel der Chefarzt, der nachts im BMW ankam, sturzbesoffen, die Socken voller Valium und in der Brieftasche eine goldene MasterCard. Er hatte vielleicht doch zu viel zu verlieren.

Ein Bayer ist während der sechzehn Monate, die ich dort war, sieben Mal gegangen und wieder aufgekreuzt, jedes Mal kaputter, rotköpfiger und mit fortgeschrittenerer Leberzirrhose. Rückfälle, Beleidigungen, sogar Diebstähle, wurden als Teil der Sucht akzeptiert.

Unzählige Male wollte ich gehen. Einmal hatte ich mich sogar mit einem jungen Portugiesen verabredet, der aus der Küche ein großes Fleischermesser geklaut hatte, um Leute zu überfallen und so Geld für Heroin zu machen. Jede Nacht hatte ich Selbstmordgedanken.

In den berüchtigten Schreigruppen fühlte ich mich anfangs verpflichtet, den Angegriffenen zu Hilfe zu eilen. Das wurde mir allerdings schnell ausgetrieben, es war nicht erlaubt, "den Anwalt zu spielen". Mich haben sie selten angeschrien. Aber andere Leute habe ich heulend rauslaufen sehen: Über einige von ihnen erfuhr ich, dass man sie mit einer Überdosis gefunden hatte.

Ich habe andererseits auch erlebt, wie Straßenjunkies, welche die Zeit in Gefängnissen und Jugendheimen extrem uneinsichtig gemacht hatte, auf einmal nicht mehr gewalttätig waren oder selbstzerstörerisch.

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Noch eine Sache unterschied Synanon von allen Therapien und Entgiftungen, die ich mitgemacht hatte: Ich konnte den Leuten hier nichts vormachen. Es war unmöglich, einen Haufen alter Drogenabhängiger zu belügen, die selbst jahrelang gelogen, getrickst und getäuscht hatten.

Ich war es gewohnt, negative Stimmung mit Chemikalien zu beseitigen. Das ging nun nicht mehr. Selbst eine Kippe nach dem Essen hätte als Rückfall gegolten und sie hätten mir die Rechte entzogen, die ich mir mühsam erarbeitet hatte: allein vor die Tür gehen, ein Telefon, eigene Klamotten. Da überlegte man schon, bevor man das aufs Spiel setzt. Deshalb funktioniert die Organisation.

Außerdem gaben kleine Erfolge bei der Arbeit den Leuten Selbstbewusstsein zurück, das sie durch ständiges Versagen meist komplett verloren hatten.

Nach drei Monaten führte ich die Drogenkontrollen bei der Aufnahme durch. Mir wurde klar, dass das Konzept von Synanon darin bestand, Verantwortung für sich selbst und die eigenen Handlungen zu übernehmen, indem man Verantwortung für andere übernahm.

Doch mit der Zeit wirkte es, als missfiel den Hausbevollmächtigten immer mehr, dass ich versuchte, mir draußen ein Leben aufzubauen. Ich hatte den Eindruck, sie wollten, dass sich das gesamte Leben nur um die Organisation und ihre Mitglieder drehte, sich niemand irgendwo anders in Berlin aufhielt – außer zu Gruppenaktivitäten. Ich wollte nicht wie manche jahrzehntelang bleiben, sondern ein eigenständiges Leben führen. Also traf ich alte Freunde (die keine Drogen nahmen), hielt Lesungen meiner Gedichte, veröffentlichte Artikel in Magazinen und fand sogar eine Freundin.

Als ich fast jede zweite Nacht bei ihr schlief, verlor ich meine Führungsposition in der Reitschule, die ich mir in der Zwischenzeit erarbeitet hatte. Es schien, als sei es nicht das Ziel von Synanon, mich auf ein Leben nach dem Aufenthalt vorzubereiten, sondern mich so lange wie möglich dort zu behalten.

Damit irgendjemand den Laden am Laufen hielt und weil jeder Bewohner monatlich Geld vom Jobcenter brachte, ist meine Theorie. Also ging ich nach 16 Monaten, der längsten drogenfreien Zeit, seit ich 14 war. Aufgehalten hat mich niemand, insofern ist die Organisation also keineswegs mit einer richtigen Sekte vergleichbar.

Alles schien endlich wieder normal. Ich zog zu meiner Freundin, wir schlenderten durch die Stadt und gingen Essen. Zwei Wochen später, als meine Freundin gerade arbeiten war, fuhr ich zu meinem alten Dealer und kaufte eine Kugel Heroin.

Gastons Buch, Mythos Ficken, könnt ihr hier bestellen.

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