Im August 2015 setzte The Hollywood Reporter sechs Schauspielerinnen an einen Tisch. Sie sollten vor allem über ihre Erfahrungen als Comedy-Darstellerinnen sprechen, landeten aber schließlich beim Thema Grenzüberschreitung. Amy Schumer erzählte, dass ein Schauspieler sie gefragt habe, ob sie ihren Filmkuss nicht schon einmal abseits der Kamera üben sollten. Ellie Kemper aus der Serie Unbreakable Kimmy Schmidt, hatte dafür keinerlei Verständnis. “Das klingt jetzt vielleicht vereinfachend”, sagte sie, “aber wenn man jemandem im Film tötet, dann tötet man diese Person ja auch nicht wirklich”. Warum sollten Intimitäten vor der Kamera also echt sein?
“Irgendwie versteht jeder, dass ein Schauspieler alles nur spielt. Die einzige Ausnahme sind Sexszenen”, sagt die Bewegungs- und Intimitäts-Koordinatorin Ita O’Brien. “Da kommt immer die Frage auf, wie es denn sexy aussehen kann, wenn nur geschauspielert wird. Eine Sexszene ist und bleibt aber gestellt.” Seit 2015 entwickelt O’Brien Methoden, die Schauspielern und Schauspielerinnen in intimen Drehmomenten ein sicheres Umfeld bieten sollen. Zum ersten Mal setzte sie sich für ein Theaterstück intensiver mit der Dynamik zwischen Täter und Missbrauchsopfer auseinander. Dann ließ das Thema sie nicht mehr los.
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“Mir wurde klar, dass ich klare Richtlinien und Abläufe einführen muss, damit sich meine Schauspieler und Schauspielerinnen sicher fühlen können”, sagt O’Brien. Aus diesem Gedanken entsprangen die “Intimacy On Set”-Guidelines, die zum Beispiel besagen, dass Sexszenen nicht probegefilmt werden oder dass bestimmten Körperstellen nicht berührt werden dürfen. Dabei mitgeholfen hat Vanessa Ewan, eine Bewegungslehrerin an der Central School of Speech and Drama in London. Ihr fiel auf, wie viel Zeit Kampfcheoreografen für die Organisation ihrer Sequenzen bekommen. Daraufhin schlug sie vor, dass man Sexszenen und andere intime Drehmomente auf die gleiche Art angehen sollte.
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O’Brien hat in den vergangenen fünf Jahren Workshops für Mitwirkende in Theater-, Film- und Fernsehproduktionen gehalten. Seit dem Erfolg der Netflix-Serie Sex Education ist sie mit ihrer Arbeit bekannter geworden. Die Serie folgt Otis (Asa Butterfield), der an seiner Schule als Amateur-Sextherapeut agiert. Dabei gibt es viele intime Szenen: erste Küsse, Selbstbefriedigung, Sex auf Hauspartys. Die Darstellerinnen und Darsteller berichten, dass ihre Sex-Szenen wie ein Tanz choreografiert wurden, damit sich alle Beteiligten dabei wohlfühlen.
In den USA hat die HBO-Serie The Deuce die Intimitäts-Koordinatorin Alicia Rodis angeheuert. Das hatte die Schauspielerin Emily Meade Anfang 2018 gefordert, sie spielt eine junge Sexarbeiterin namens Lori Madison. Im Oktober verkündete HBO, der Sender werde in Zukunft Intimitäts-Koordinatorinnen für all Serien mit sexuellen Inhalten engagieren. Zu den Produktionen, die in den USA auf HBO laufen, gehören Game of Thrones, Westworld und Insecure.
“In der Fernsehwelt setzt HBO Maßstäbe”, sagt Claire Warden, eine Intimitäts-Koordinatorin und Sprecherin der Non-Profit-Organisation Intimacy Directors International. Diese Organisation hat mit den “Pillars of Safe Intimacy” ebenfalls eine Reihe an Guidelines für “simulierte Intimitäten” herausgebracht. “Schauspielerinnen und Regisseure realisieren langsam, dass es solche Ressourcen gibt und dass sie bei solchen Szenen Unterstützung anfordern können. Ich hoffe, dass wir so mit gutem Beispiel vorangehen und dass andere Sender es HBO gleichtun”, fügt Warden hinzu.
O’Brien stimmt dem voll und ganz zu. “Diese Entwicklung ist ein positives Zeichen. HBO hat erkannt, dass eine choreografierte Sexszene es den Schauspielern ermöglicht, sich der Szene voll hinzugeben. Sie können so die Bedeutung besser erschließen”, sagt sie. Man stehe aber erst am Anfang, es müssten noch viel mehr Sender, Serien und Produktionen erkennen, wie wichtig dieser Prozess ist.
Wie Ewan bereits erkannt hat, gibt es bei Kampfszenen schon länger gewisse Regeln für den Schutz der Schauspieler und Schauspielerinnen. Das British Stunt Register sorgt beispielsweise schon seit 1973 dafür, dass bei “Stunteinlagen und der Sicherheit die höchsten Standards gelten”. Und die Stuntmen’s Association of Motion Pictures sowie die Stuntwomen’s Association of Motion Pictures wurden 1961 beziehungsweise 1967 gegründet. Insbesondere öffentlichkeitswirksame Bewegungen wie #MeToo zwangen die Filmbranche allerdings, sich auch mit anderen Fragen zur Sicherheit am Set auseinanderzusetzen.
“Früher hat man nicht verstanden, welche psychologischen Schäden es verursacht, wenn jemand nicht gut behandelt wird. Wenn man am Filmset ohne Vorwarnung die Anweisung bekommt, sich auszuziehen und die Szene zu drehen.”, sagt O’Brien. “Nach Harvey Weinstein werden die Menschen endlich ernst genommen, die über diese Negativerfahrungen sprechen.” Die größte Veränderung sei laut O’Brien, dass man sich in der Industrie der eigenen Fehler bewusst wurde.
Bernado Bertouccis Film Der letzte Tango in Paris ist ein Beispiel dafür, wie Sexszenen nicht gedreht werden sollten. Die brutale Vergewaltigungsszene zwischen Maria Schneider und Marlon Brando war ohne Schneiders Zustimmung teilweise improvisiert. “Ich weinte echte Tränen”, erzählte die inzwischen verstorbene Schauspielerin 2007. “Ich fühlte mich erniedrigt und – um ehrlich zu sein – auch ein wenig vergewaltigt. Sowohl von Marlon als auch von Bertoucci.” Léa Seydoux benutzte ähnliche Worte, als sie ihre Erfahrungen mit dem Regisseur Abdellatif Kechiche am Set von Blau ist eine warme Farbe beschrieb.
“Früher machten Regisseure vielleicht schon deutlich, was sie von einer intimen Szene erwarten, und holten nur die nötigsten Mitarbeiter ans Set. Aber von Vereinbarungen dazu, welche Körperteile berührt werden dürfen, wussten sie nichts”, erklärt O’Brien. “Stattdessen sollten die Schauspieler und Schauspielerinnen einfach loslegen und improvisieren. Die legten sich dann richtig ins Zeug, aber waren sich nicht sicher, was am Ende wirklich im Film landet.” Genau hier kommen die Richtlinien zur Intimität vor der Kamera ins Spiel: “Man redet vorher ganz offen über die Szene und spricht mit klaren Worten an, was OK ist und was nicht”, sagt die Intimitäts-Koordinatorin. “Durch diese Transparenz lassen sich Zwischenfälle wie der von Der letzte Tango in Paris vermeiden. Sobald jemand am Set irgendetwas plant und organisiert, das nicht offen vereinbart wird, ist das Missbrauch.”
Für die Zukunft wünscht sich O’Brien, dass alle Produzenten und Regisseure die Guidelines als tatsächliche Verhaltensregeln am Set einführen. Jedes Filmprojekt, das nach Geldgebern sucht, sollte sich laut der Intimitäts-Koordinatorin den Richtlinien verschreiben, um eine Finanzierung zu erhalten. “Alicia Rodis und ich haben das Ziel, dass in fünf Jahren jede Sexszene nur noch nach vorher festgelegten Richtlinien gedreht wird”, sagt sie.
Claire Warden wird bald als erste Intimitäts-Koordinatorin bei einem Broadway-Stück mithelfen. Nicht ohne Stolz erzählt sie: “Mir haben bisher fast alle Schauspielerinnen gesagt: ‘Ich wünschte, du wärst letztes Mal auch schon mit dabei gewesen’ oder ‘Ich mache das nie wieder ohne eine Intimitäts-Koordinatorin’.”
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