Seit Beginn des Coronavirus-Lockdowns ist unser Alltag auf das Notwendigste beschränkt. Was genau als notwendig gilt, unterscheidet sich von Land zu Land und Mensch zu Mensch. In Deutschland sind es Baumärkte und Gartencenter, in Kanada ist es Gras. Die Corona-Krise hat jedenfalls die Frage aufgeworfen, was systemrelevant und notwendig ist – die Antworten werden auch nach Corona zu spüren sein.
Die größten Auswirkungen dürfte die aktuelle Krise auf das Berufsleben haben. Wenn du deinen Job von zu Hause erledigen kannst – wie viele gerade feststellen müssen –, warum dann noch jeden Tag zum Büro pendeln? Wenn Unternehmen internationale Meetings per Webcam abhalten können, braucht es dann noch internationale Geschäftsreisen?
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Hat der momentane Zwangsstillstand vielleicht sogar schon positive Auswirkungen auf unseren Planeten? Und wenn ja: Könnte eine weltweit orchestrierte Aktion, wie wir sie aktuell zur Pandemie erleben, eine Vorlage für gesellschaftliches Handeln liefern, das den Menschen, dem Planeten und der Wirtschaft hilft?
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Saubere Luft
Als Forschende uns ermahnten, dass die Emissionen ab 2020 sinken müssen, damit wir die schlimmsten Auswirkungen des Klimawandels noch verhindern können, hatten sie wahrscheinlich nicht an eine Pandemie gedacht. Wie es scheint, beschert uns COVID-19 den größten Rückgang von Kohlenstoff-Emissionen seit dem Zweiten Weltkrieg.
Satelliten-Aufnahmen der NASA zeigen einen dramatischen Rückgang der Luftverschmutzung in China – in ganz Wuhan, wo das Virus ausgebrochen war, in Peking und in Shanghai. Grund sind die gedrosselten Wirtschaftsaktivitäten. Und auch wenn der Auslöser denkbar falsch ist, so gibt uns diese Entwicklung einen Funken Hoffnung. Auch in der restlichen Welt sind zwischen Januar und März die Emissionen deutlich zurückgegangen.
Dem Global Carbon Project zufolge war eine Steigerung des CO2-Ausstoßes erwartet worden. Stattdessen sind die Emissionen um fünf Prozent gesunken, das sind etwa 2,5 Milliarden Tonnen. Damit sind sie auf dem niedrigsten Stand seit der Wirtschaftskrise von vor zehn Jahren.
Eine der großen Kohlendioxidschleudern ist natürlich der Flugverkehr. Laut der Seite FlightRadar24, die den weltweiten Luftverkehr in Echtzeit abbildet, hat sich die Anzahl der täglichen Flüge über die vergangenen Monate im Schnitt mehr als halbiert. Von 183.890 am 10. Januar auf 71.809 am 14. April. Momentan sind 71 Prozent weniger Flugzeuge am Himmel als vor der Pandemie.
Doch sobald die weltweiten Reisebeschränkungen aufgehoben sind, werden die Airlines wieder zum Normalbetrieb übergehen. Viele Menschen werden ihren abgesagten Urlaub nachholen wollen. Aber aus den vergangenen Monaten lässt sich auch einiges lernen: Allein in den USA gibt es jedes Jahr rund 65 Millionen berufliche Langstreckenflüge. Wie viele davon sind wirklich notwendig? 2018 gaben in einer Umfrage 67 Prozent der Befragten an, dass sie es schwierig fänden, Beziehungen über Video aufzubauen. Wenn die anderen 33 Prozent zufrieden mit Videokonferenzen sind, könnte man zumindest darüber nachdenken, die Zahl der Geschäftsreisen um dieses Drittel zu kürzen.
Die Reduktion der Emissionen ist nicht nur gut fürs Klima, sondern auch für die Gesundheit. Laut der WHO tötet Luftverschmutzung weltweit etwa sieben Millionen Menschen. Neun von zehn Personen atmen Luft, die stark verschmutzt ist. In China und Indien, wo die Luftqualität besonders schlecht ist, hat der Lockdown Stadtbewohnern zum ersten Mal seit Langem ermöglicht, einen klaren Himmel zu sehen.
Daten des Centre for International Climate Research, CICERO, zeigen, dass im Februar in China die Luftverschmutzung um 20 bis 30 Prozent zurückgegangen war. Wenn diese Werte auf lange Sicht so blieben, könnten wir 50.000 bis 100.000 Leben retten. Doch das werden sie nicht.
Die Welt muss sich wieder öffnen. Die wirtschaftlichen Folgen eines anhaltenden weltweiten Lockdowns wären verheerend und würden die Lebensqualität von Millionen Menschen verringern. Trotzdem könnten verantwortungsbewusste Unternehmen aus dieser Zeit lernen, sich anschauen, wie viele unnötige Flugmeilen sie anhäufen, und ihr Vorgehen entsprechend anpassen.
Entschleunigung
Googles COVID-19 Community Mobility Report, der anonyme Geodaten verwendet, zeigt, dass wir uns weniger bewegen. In Deutschland, Italien, Großbritannien, den Vereinigten Staaten und Kanada sind die öffentlichen Aktivitäten zurückgegangen. Immer mehr Menschen sind dazu gezwungen, zu Hause zu bleiben.
Das hat auch zu einer Verringerung des Verkehrsaufkommens in Metropolen auf der ganzen Welt geführt. In Großbritannien ist der motorisierte Verkehr am 29. März um 73 Prozent zurückgegangen. Auch in Deutschland ist das Verkehrsaufkommen stark gesunken, in einigen Städten um 40 Prozent.
Weniger Auto- und Flugverkehr bedeutet auch einen geringeren Treibstoffbedarf. Laut den Daten von Rystad Energy, einer norwegischen Energie-Beratungsfirma, könnte die weltweite Nachfrage nach Öl um mehr als das Fünffache sinken. Auch der Bedarf nach Benzin und Diesel 2020 dürfte um durchschnittlich 9,4 Prozent sinken. Das sind 2,6 Millionen Barrel Öl weniger – pro Tag.
Fernverbindungen
Die Umweltvorteile von weniger Berufspendlern sind eindeutig, aber Unternehmen profitieren auch finanziell. Ein Bericht von Abintra Consulting zeigt, dass große Unternehmen in England und Wales zehn Milliarden Pfund pro Jahr für unausgelastete Geschäftsräume verschwenden. 30 bis 50 Prozent dieser Immobilien könnten durch flexibles Arbeiten zusätzlich eingespart werden.
In einer Erhebung des US-Software-Unternehmens Citrix von 2019 sagten 62 Prozent der Befragten, die nicht außerhalb des Büros arbeiteten, dass sie mindestens einen Tag pro Woche von zu Hause aus arbeiten könnten.
Rob Jackson, der Vorsitzende des Global Carbon Projects, sagt: “Homeoffice, auch wenn es nur ein oder zwei Tage die Woche sind, würde den Ausstoß von Treibhausgasen verringern, die Luft in unseren Städten reinigen und am Ende Leben retten.”
Notwendiges für die Zukunft
Auch wenn wir erste positive Veränderungen beobachten können, warnen Expertinnen und Experten davor, dass diese nur kurzlebig sein könnten. Ein paar Monate mit verringertem CO2-Ausstoß sind Nichts im Vergleich zu den ganzen Treibhausgasen, die sich über Jahrzehnte angesammelt haben und sich immer noch in unserer Atmosphäre befinden. Nur strukturelle Veränderungen können nachhaltig etwas bewegen. Wenn Regierungen mit der gleichen Dringlichkeit auf den Klimawandel reagieren würden wie auf COVID-19, verhindern wir vielleicht zukünftige Katastrophen, die größer und verheerender sein könnten als eine Pandemie.
COVID-19 hat bereits großes Unheil auf der Welt angerichtet – und vergessen wir nicht die bevorstehende Wirtschaftskrise. Dennoch sind ein paar Kollateralvorteile nicht zu leugnen.
Weniger Autos auf den Straßen, mehr Menschen im Homeoffice und weniger Geschäftsreisen haben dem Planeten auf jeden Fall kurzfristig gutgetan. Ob diese Veränderungen langfristig Vorteile für uns haben können, kommt darauf an, was wir draus machen.
VICE berichtet auch in Zukunft weiter über die globale Klimakrise. Hier findest du alle unsere Artikel zum Earth Day 2020 und hier noch mehr zum Thema Klimawandel.
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