Wann hast du das letzte Mal so richtig gut geschlafen? Über ein Viertel aller Deutschen kämpft mit Schlafstörungen und es ist kein Ende in Sicht. Ob du an der Hauptstraße wohnst, dir auf einem Festival einen Tinitus geholt hast oder dein Nachbar einen Säugling hat, der jede Nacht nach Liebe und Mamas Milch schreit—es gibt immer ein Geräusch, das dich wachhält und dir die Nacht und den nächsten Tag versaut.
Ein üblicher Lösungsweg, um die Geräusche zu übertönen, ist den Fernseher einzuschalten oder Musik zu hören, falls deine Nachbarn mal wieder lauten Sex haben. So ähnlich funktioniert auch White Noise: diese entsteht durch mehrere Tonfrequenzen, die zur selben Zeit gleich laut abgespielt werden und somit andere Geräusche maskieren, deren Frequenz sich irgendwo im selben Bereich befindet. Es ist das Klangmekka aller leichten Schläfer und Säuglingsgeplagten. Angeblich lässt es sich mit diesem Sound wunderbar einschlafen. Deswegen konnte ich mir als schlafgeplagter THUMP-Redakteur die Gelegenheit natürlich nicht entgehen lassen, eine Woche lang jeden Abend Beispiele anzuhören, um herauszufinden, was mich gut schlafen lässt und was nicht.
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Natürliche Whitenoise / Ventilator
Am ersten Abend beginne ich mit einem Klassiker. Maschinen, die sich sehr schnell bewegen, erzeugen eine natürliche White Noise und überdecken andere Klänge. Ventilatoren eignen sich dafür also sehr gut. Ich mache es mir mit einem Drei-Stunden-Video im Bett bequem und setze die Kopfhörer auf. Der Klang übertönt sofort jeden anderen Sound im Mehrfamilienhaus, lässt unter anderem das schreiende Baby der Nachbarn und das fröhliche Zuprosten der Kneipe in meiner Straße verschwinden. Nach fünf Minuten gebe ich mich einfach dem Klang hin. Weitere fünf Minuten später ist mir schwummrig—aber auf eine angenehme Art. Es ist dasselbe Gefühl, wie nach einem langen Partywochenende endlich bei kompletter Stille mit einem Tee in eine weiche Decke gewickelt zu sein.
Länger als 15 Minuten kann es nicht gedauert haben, bis ich weggenickt bin. Am nächsten Morgen fühle ich mich wahnsinnig ausgeruht, trotz meiner aufgekommenen Rückenschmerzen.
Brown Noise
Wenn dir Licht weiß erscheint, besteht es in Wahrheit aus allen sichtbaren Farben des Lichtspektrums. Dasselbe gilt für White Noise mit Tonfrequenzen. Wenn du allerdings einige der höheren Frequenzen wegnimmst, entsteht dabei ein dumpfer Matsch aus Sound. Der Name Brown Noise hat nichts mit dem braunen Ton aus South Park zu tun, sondern mit dem Botaniker Robert Brown, nach dem diese Form des statischen Rauschens benannt ist.
Mit den Kopfhörern in den Ohren mache ich es mir in einer Embryo-Schlafposition bequem und drücke auf Play. Die ersten 20 Minuten sind ertragbar, ein statisches Rauschen, das klingt wie das Geräusch eines Fernsehers nach Sendeschluss, zu dem deine Mutter schon oft vor dem Fernseher eingeschlafen ist. Doch nach längerer Zeit entwickelt sich eine Kackophonie aus Summen und Brummen in meinen Ohren, bedrohlich wie ein Bienenschwarm. Wie soll man denn dazu erholsamen Schlaf finden? In dieser Nacht wache ich mehrmals schweißgebadet auf. Am Morgen danach begrüßt mich mein Chef mit den Worten: “Mensch, du siehst ja scheisse aus.” So fühle ich mich auch.
Most Relaxing Song Ever
Dieses Lied wurde mit Hilfe von Audiotherapeuten entwickelt und soll nicht nur den Blutdruck und den Herzschlag verlangsamen, sondern auch die Gehirnaktivität reduzieren und dafür sorgen, dass man weniger Cortisol ausschüttet, was das Stresslevel senkt. Ich wusste schon immer, dass die Wissenschaft auch einen Nutzen für das alltägliche Leben hat. Bevor ich auf Play drücke, lese ich die YouTube-Kommentare unter diesem Video:
“I’ve just woke up… In Bolívia, with a banana up my ass and a goat licking my genitals. I don’t remember anything that may have led to this or why I’m dressed as Carmen Miranda and smell of vinegar.“
Aus dem VICE-Netzwerk: So geht nüchtern Feiern
Natürlich machen sich die YouTube-Kommentatoren hier einen Spaß daraus, zu übertreiben, aber übertreiben ist auch nur dann möglich, wenn zumindest irgendetwas passiert. Erinnerst du dich daran, als du das letzte Mal tanzen warst und die Musik einfach irgendwann die komplette Kontrolle über deinen Körper übernommen hat? So ähnlich habe ich es mir vorgestellt—nur mit Schlaf-Paralyse.
Nach weniger als einer Minute mit den Kopfhörern bemerke ich wie meine Atmung langsamer wird. Sehr viel langsamer. So langsam, dass ich mich ziemlich unwohl fühle und gerne die Kopfhörer abnehmen würde. Ich muss gegen dieses Gewicht, das auf meine Brust drückt, ankämpfen. Langsam beginne ich mich zu fühlen, als hätte ich versehentlich jede Menge Hasch-Brownies gegessen, und stehe an der Grenze zum Green Out. “Diese verdammten Audiotherapeuten, das ist doch Hexerei!”, ist das Letzte, was ich denken kann, bevor ich endlich einschlafe.
ASMR Binaural Microphone Brushing
Bei meinen Recherchen bin ich auf ASMR gestoßen, kurz für autonomous sensory meridian response, was soviel bedeutet wie das “Kribbeln im Kopf”. Es gibt eine riesige YouTube-Community, bei denen Leute teilweise mehrere Stunden vor der Kamera und ihrem Hi-Tech-Mikrofon stehen, leise flüstern und sich gaaaaanz vorsichtig bewegen, um möglichst leise Geräusche zu machen. Wenn du nicht darauf stehst, dass Wildfremde so tun, als wärst du ein Kunstwerk oder ihnen nicht dabei zusehen möchtest, wie sie in einem Lovecraft-Cosplay eine Ananas sezieren, solltest du dir sowas nicht ansehen.
Als ich mich durch die verschiedenen Kategorien und Leute auf YouTube geklickt habe, bin ich bei einem Video hängengeblieben, in dem das Mikrofon mit einem Pinsel gestreichelt wird. So seltsam das klingt, das Video hat über 400.000 Aufrufe. Nach sehr kurzer Zeit hat es mich komplett in seinen Bann gezogen. Wieso habe ich das nicht schon früher entdeckt? Das Schöne an dem Ganzen ist die absolute Konzentration auf den Klang—eine Einstellung, die ich mir bei so manchem DJ schon wünschen würde. Ein genaues Fazit zu ASMR kann ich nur schlecht ziehen—ich bin sehr schnell eingeschlafen.
ASMR Ear Licking Sounds
Kurz darauf habe ich erfahren, dass es auch abstrusere ASMR-Videos gibt, in denen gestöhnt wird oder Frauen ihre eigenen Brüste massieren (NSFW). Ein Animebild von einem Schulmädchen mit sehr seltsamen Brüsten? Check. Eine erforderliche Altersbestätigung, dass ich über 18 bin? Check. Das Experiment beginnt: Die ersten 5 Minuten redet eine Frau auf japanisch. Sie hat eine angenehme Stimme und die Tatsache, dass ich kein Wort verstehe, ist in Ordnung. Doch dann: Ein seltsames Geräusch—es klingt nach einer Hose, die geöffnet wird—und ich komme mir vor, wie in einer Orgie, umzingelt von Schmatz- und Leckgeräuschen. Es hört sich an, als würde jemand genüsslich den Dreck, der sich den Tag über ansammelt wegschlabbern—entweder zentimetertief aus meinem Ohr oder von einem Penis, der sich direkt neben meinem rechten Ohr befindet.
Dieses feuchte Schmatzen in meinen Ohren hypnotisiert mich gegen meinen Willen—ich werde 5 Stunden später vom Wecker aus dem Schlaf gerissen, die Kopfhörer in den Ohren, verklebte Augen und ziemlich viel Sabber auf meinem Kopfkissen. Vielleicht sollte ich mal mein nächtliches Zähneknirschen und blubberndes Schnarchen aufnehmen, damit könnte ich auf YouTube bestimmt gut Geld verdienen. Zumindest wenn ich dazu ein Animebild hochlade.
Villalobos—”Fizheuer Zieheuer”
Ich würde nicht an die Grenzen der mentalen Belastbarkeit kommen, wenn ich mir nicht das fast 40 Minuten lange Werk “Fizheuer Zieheuer” von Ricardo Villalobos beim Einschlafen anhören würde. Als gebürtiger Bayer fühle ich mich auch sehr wohl bei den gesampelten Blasinstrumenten, es ist fast wie damals als Kind im Bett, wenn man durch das Fenster noch das Dorffest gehört hat. Nur irgendwie ist der ganze Minimal ganz schön schnell. Etwas zu schnell. Ich möchte mich dazu zwingen, einzuschlafen aber scheitere kläglich. Wann hast du das letzte Mal mit geschlossenen Augen Musik gehört und nichts anderes getan? Wahrscheinlich, so wie ich, als Kind. Wenn man sich in den modernen Zeiten der Reizüberflutung ausschließlich auf etwas konzentriert, das nur einen Sinn abverlangt—das Gehör—langweilen sich die anderen Sinne sehr schnell. Obwohl mir die Genialität dieses Tracks aufgeht, rutsche ich im Bett umher, drehe und wälze mich, schaffe es aber nicht, einzuschlafen. Nach 37 Minuten ist der Spaß vorbei.
Ich komme zu dem Entschluss, dass Villalobos doch nicht eintönig genug ist, um dabei einzuschlafen. Nach ein paar Minuten der Stille nehme ich mein Handy und suche nach einem Ventilatoren-Video.
Wenn Vincent nicht schlafen kann, ist er auf Twitter.