Ein riesiger behaarter Mann, seine Arme dicker als meine Oberschenkel, knallte die Wodkaflasche auf den Tisch. Es war kurz nach Mittag. Zum Glück musste ich nicht gegen ihn antreten.
„Na zdrowie”, sagte er im Befehlston. Zum Wohl.Wir kippten den Wodka hinter, Soplica, eine der ältesten Wodkamarken Polens. Dann schenkte er uns nach.
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Während unsere Mägen von der ganzen Wurst und pyzy, Kartoffelklößen mit Fleischfüllung, immer größer wurden, folgte ein Glas Wodka auf das andere. Ich musste nachmittags irgendwie noch bei Bewusstsein sein, also trank ich das Glas nur zur Hälfte aus. „Du trinkst wie ‘ne Frau”, brummt mich der Gastgeber an. Das war eigentlich ein Kompliment. Polnische Frauen trinken weltweit mit am meisten.
Wer nach Polen fährt, sollte überall und jederzeit bereit sein für Wodka. Ein Essen mit der Familie? Und zack, wird die Flasche rausgeholt. Wandern im Naturschutzgebiet? Flasche natürlich dabei. Omas Geburtstag? Die Flasche steht schon auf dem Tisch. Abends am Lagerfeuer sitzen? Unglaublich viele Flaschen und der gnadenlose Druck, mittrinken zu müssen.
In einigen osteuropäischen Ländern wird so viel Alkohol getrunken wie sonst nirgends auf der Welt. Das liegt auch mit an der Mischung aus kalten Wintern und erschreckend vielen Begegnungen mit der russischen Armee in der Vergangenheit – ganz zu schweigen von Schweden, Germanen und Reitervölkern aus Zentralasien, die in regelmäßigen Abständen in der Region gewütet haben. Polen liegt mit 10,67 Litern reinem Alkohol pro Kopf und pro Jahr im weltweiten Vergleich auf Platz 14. Und nicht ganz zufälligerweise ergattern die Nachbarn Estland, Weißrussland und Litauen respektive Gold, Silber und Bronze.
Man kommt einfach nicht um Alkohol herum, selbst nicht in der Wildnis. Während einer anstrengenden Wanderung in der Tatra, in der Nähe des Ferienorts Zakopane, ließ ich mich vor einer Berghütte erschöpft mit einem Kaffee auf eine Picknickbank plumpsen. Ein paar Wanderer setzten sich neben mich und einer von ihnen hauteeine Flasche Bols-Wodka auf den Tisch – niederländischer, kein polnischer, aber mit derselben Wirkung. Ich versuche abzulehnen, das ließen sie nicht durchgehen, wir schlossen schnell Freundschaft. Das Wandern wurde etwas schwummriger danach, wenn nicht sogar einfacher.
Wenn ältere Polen eine Party schmeißen, ist es nur eine Frage der Zeit, bevor alle aus vollem Halse „Sto lat” singen, ein traditionelles Lied, mit dem man den Besungenen ein 100 Jahre langes Leben wünscht. Wenn ein paar junge Leute aufs Land fahren und bei einem Lagerfeuer feiern, dann lief das, wie ich erfahren durfte, etwas anders ab: Ein Typ mit Haartolle schnappte sich eine Gitarre und schmetterte Nirvana-Klassiker, während der Haufen mit den leeren Flaschen in rasantem Tempo wuchs.
Um bei der Party überhaupt dabei zu sein, musste man erstmal drei Kurze trinken. Wir scherzten über den Saufzwang. „Kipp den Schnaps einfach über deine Schulter”, schlug ich vor.
„Nein, das sieht man doch”, meinte der Gitarrero. „Am besten tut man so, als würde man den Schnaps danach mit einem Glas Cola runterspülen, aber eigentlich spuckt man den Wodka in das Glas.”
Wir konnten unser Gift selbst auswählen. Es gab verschiedene Selbstgebrannte, einer schmeckte angenehm nach Kaffee. Ein klassischer wódka weselna, Hochzeitswodka, den die Einheimischen in großen Mengen brennen, damit bei den Hochzeiten auch ordentlich gefeiert werden kann, obwohl sich keiner Schnaps aus dem Laden leisten kann. Ein kleines Gedicht auf dem Etikett wünscht den Frischverheirateten alles Gute. Auf der Rückseite eine witzige Beschreibung, der Schnaps sei von höchster Qualität und wird von der feinen Gesellschaft geliebt. Hochzeiten in Polen dauern bekanntlich bis in die frühen Morgenstunden und von den Gastgebern wird erwartet, dass pro Gast gut eine Flasche Wodka da ist, damit auch was zum Feiern da ist.
Der Wodka dieses Abends jedoch war Żubrówka – benannt nach den Wisenten, die im nahegelegenen Nationalpark grasen. Ein Stück Bisongras in der Flasche gibt dem Wodka seinen Namen und auch seine gelbliche Farbe. Er schmeckt angenehm süß, diese Raffinesse geht jedoch bei den schieren Massen an Wodka, die wir trinken, irgendwann unter.
Während die Eltern um das Feuer herumtanzten und ein Gelage feierten, spielten die Kinder in der Nähe ganz ruhig für sich: „Papa, vorsichtig”, meinte eine niedliche Dreijährige zu ihrem Vater, der gerade dabei war, über das Feuer zu springen. Der Wodka-Nachschub riss nicht ab.
Mit den anderen mithalten zu können ist eine echte Bewährungsprobe für die Neuen. Wenn man die besteht, ist man Teil der Familie. Als ich kurz zum Pinkeln wegging, strahlte mich jemand mit einer Taschenlampe an, um sicherzugehen, dass ich auch nicht kotzte. Alle bemitleideten sich schon jetzt gegenseitig wegen des heftigen Katers am nächsten Morgen. Ich wollte eigentlich um sechs Uhr morgens auf stehen, um jagen zu gehen.
Zum Glück bin ich in Leberangelegenheiten ziemlich erfahren. Vier Jahre Studium waren schließlich nicht umsonst. Dank viel Wasser und ein paar illusionistischen Tricks konnte ich am nächsten Morgen in aller Frühe vorsichtig über meine schlummernden Mitstreiter steigen, die die Auswirkungen ihrer nationalen Lieblingsbeschäftigung weiter mit Schlaf bekämpften.