Erste Bekanntschaft mit der russischen Unterwelt machte Mark Galeotti während seiner Doktorarbeit. 1988 traf er Veteranen des sowjetischen Afghanistankriegs, kurz nachdem sie von der Front zurückgekehrt waren. Ein Jahr später traf er sich erneut mit ihnen. Er wollte wissen, ob sich die Ex-Soldaten wieder in der sowjetischen Gesellschaft eingefunden hatten. Einige hatten sich angepasst, aber erschreckend viele, so stellte Galeotti fest, arbeiteten für fragwürdige Geschäftsleute, die sich mit unlauteren Methoden Staatseigentum unter den Nagel rissen.
Der Historiker fand es faszinierend, dass in einem Polizeistaat, wie die Sowjetunion damals einer war, die Organisierte Kriminalität derart florieren konnte. Und diese Faszination ist seit über 30 Jahren ungebrochen. Galeotti, der mit The Vory: Russia’s Super Mafia ein umfassendes Buch zum Thema veröffentlicht hat, erzählt uns alles, was man über die russische Mafia wissen muss.
Videos by VICE
VICE-Video: Sand, Speed und Adrenalin – Neun Tage Off-Road-Racing in der Wüste vor Abu Dhabi
VICE: Beginnen wir am Anfang. Sie sagen in Ihrem Buch, der Grundstein für die russische Mafia wurde in Stalins Gulags gelegt?
Mark Galeotti: Schon im Zarenreich gab es eine kriminelle Untergrundkultur, die sogenannte Welt der Diebe. Diese Leute waren auch schon tätowiert und sprachen einen eigenen Slang, aber erst die sowjetischen Gulags haben diese Gruppen so mächtig gemacht. Stalin wollte die Lager kostengünstig betreiben und machte den Dieben ein Angebot: Wer mit dem Staat zusammenarbeitet, bekommt das Leben in den brutalen Gulags erleichtert.
Stalin hatte schon vor der Revolution von 1917 mit Verbrechern zusammengearbeitet, Banküberfälle organisiert und sogar Piraterie betrieben, um Geld für die Bolschewiken zu sammeln. In den Gulags setzte er die Kriminellen nun ein, um die politischen Gefangenen in Schach zu halten und ihnen das Leben zur Hölle zu machen. Das widersprach allerdings einem Grundsatz der Diebe: unter keinen Umständen mit den Behörden zusammenarbeiten.
Trotzdem gingen viele auf den Deal ein. Für die Traditionalisten waren die Kollaborateure “Suki”, was “Hündinnen” oder “Schlampen” bedeutet. Sie selbst nannten sich die “Diebe im Gesetz”. In den 1930ern und der ersten Hälfte der 40er interagierten die beiden Fraktionen kaum. Für beide stand zu viel auf dem Spiel.
Lange konnte das aber nicht gut gehen, oder?
Nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich die Machtdynamik. Immer mehr Gefangene kamen in die Lager, plötzlich explodierte die Gewalt. Zwischen den Kriminellen herrschte ein Krieg, der bis Anfang der 50er in den Gulags ausgetragen wurde. Menschen wurden gelyncht, jeder spitze Gegenstand zur Waffe gemacht. Am Ende gewannen die Diebe im Gesetz – nicht zuletzt, weil sie den Staat im Rücken hatten.
Nach Stalins Tod 1953 wurde das Gulagsystem reformiert, viele dieser Kriminellen kamen frei und kolonialisierten die sowjetische Unterwelt. Sie waren keine Gangsterbosse im klassischen Sinne, sondern traten als Schlichter auf und legten die Regeln fest. Das war wichtig, weil jede Verbrechensorganisation einen Weg finden muss, um Streitereien zu schlichten.
Wie sind die Gangs nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion so groß geworden?
Es war plötzlich ein ganz neues Land. Bis dahin hatte die kommunistische Partei alles bestimmt, die Wirtschaft zentral geplant. Quasi über Nacht gab es Demokratie und einen freien Markt. Die alten Regeln und Strukturen zerfielen. Es herrschte totales Chaos. Für die Organisierte Kriminalität war das eine riesige Chance.
Während der Sowjetzeit hatten die Gangs im Verborgenen agiert. Sie fürchteten Staat und KGB, aber nun waren sie frei und konnten alles für sich beanspruchen: Industriezweige, Grundstücke, Immobilien und die Kontrolle über ganze Gebiete. Es gab noch keine abgesteckten Reviere und etablierten Hierarchien. Die Gewalt explodierte. Es war ein Fall von “alle gegen alle”.
Aus diesem Chaos gingen rund ein Dutzend Allianzen hervor. Anders als bei italienischen Mafiafamilien mit einem Paten handelte es sich um Zusammenschlüsse kleinerer Gangs. Vor allem die Moskauer Gangs verbündeten sich gegen alle anderen. Sie verstanden sich selbst als die Elite und hatten eine Menge Geld und Macht. Ende der 1990er zeichneten sich schließlich Reviere ab. Die Hackordnung war etabliert und die Gewalt ebbte langsam ab. Das alles geschah, bevor Putin 2000 an die Macht kam.
In Russland scheint die Mafia besonders eng mit Politik und Wirtschaft verbunden zu sein. Wie ist es so weit gekommen?
Die Kriminellen hatten das neue System in den 1990ern maßgeblich mitgeformt. Seien wir ehrlich: Russland wird von Menschen regiert, die an allen Ecken und Enden stehlen. Es ist eine Kleptokratie. Auch heute noch, aber jetzt läuft das über Regierungsaufträge und Vetternwirtschaft. Das Vorgehen der Gangster und das der Eliten überschneidet sich stark. Die Grenzen zwischen beiden Welten verschwimmen.
Ein funktionierender Kapitalismus braucht Institutionen, Gesetze, Eigentumsrechte und vor allem Vertrauen ins System. In Russland sah man das anders. Alle wollten nur Geld verdienen und kriminelle Methoden kamen ihnen da gerade recht. Ich bin immer noch erstaunt, dass Erpressung in Russland eine anerkannte Geschäftstaktik ist.
Was in russischen Politik- und Wirtschaftskreisen als normal gilt, ist von einer Mentalität beeinflusst, die auf Gesetze pfeift. Das alles ist sehr ergebnisorientiert. Ich würde fast so weit gehen und sagen, dass jeder russische Geschäftsmann ein Gauner ist. Die Diebe im Gesetz gehören zu den Gründungsvätern des Neuen Russland. Wir sollten uns also nicht wundern, dass ihre Werte das Land so sehr geprägt haben.
Wladimir Putin werden enge Verbindungen zur Organisierten Kriminalität nachgesagt, aber er hat die Diebe im Gesetz auch maßgeblich in Schach gehalten. Wie passt das zusammen?
Als Putin Mitte der 1990er Bürgermeister von Sankt Petersburg war, war er Ansprechpartner für alle – für Ausländer, Geschäftsleute und für Kriminelle. Er war dafür verantwortlich, dass in der Stadt alles rundlief. Dadurch hatte er auch einiges mit Waldimir S. Barsukow zu tun, mehr als ihm heute wahrscheinlich lieb ist. Barsukow, auch bekannt als Waldimir Kumarin, war der inoffizielle Herrscher über die Unterwelt von St. Petersburg. Bei Tage hatten die Behörden das Sagen in der Stadt, bei Nacht herrschte Barsukow, den man deswegen auch Nacht-Gouverneur nannte.
Das war nicht zwangsläufig ein Problem, solange Barsukow seine Grenzen kannte und sich an die Spielregeln hielt. Irgendwann stand er aber zu sehr im Rampenlicht und die ganze Sache wurde Putin, der inzwischen Präsident war, ein bisschen peinlich. Barsukow war quasi die Leiche in Putins Keller. 2007 entschied sich der Kreml dazu, das Problem zu lösen: Polizeieinheiten flogen von Moskau nach St. Petersburg, nahmen Barsukow fest und brachten ihn nach Moskau. Die Botschaft war eindeutig: Der Staat hat wieder das Sagen – egal, wie groß du bist.
Sie beschreiben Russland als Kleptokratie, in der nicht zwischen Verbrechen, Politik und Strafverfolgung unterschieden wird. Was bedeutet das für die internationale Zusammenarbeit?
Es ist ein Problem, weil Russland eine wichtige Rolle in der globalen Wirtschaft und Politik spielt. Die engen Verbindungen zwischen Kreml, Geschäftswelt und dem Organisierten Verbrechen können sich auch auf andere Länder auswirken. Dazu kommt, dass Putin sich momentan in einer Art politischem Krieg mit dem Westen befindet, in dem anscheinend auch die russische Mafia mitmischt.
Das sind alles ernsthafte Probleme, aber es gibt auch etwas Hoffnung. Ich glaube, in Russland wächst langsam der Druck für Veränderungen. Die Bevölkerung ist die Korruption leid und die Elite ist den Gangstern über den Kopf gewachsen. Ich bezweifle, dass es große Veränderungen geben wird, solange Putin im Kreml ist. Aber danach – und das kann zugegeben noch ein paar Jahre dauern – wird die russische Regierung wahrscheinlich verstärkt gegen die Organisierte Kriminalität vorgehen. Bis dahin bleiben die Verstrickungen von Wirtschaft, Politik und Mafia in Russland ein Problem für uns alle.
Folge VICE auf Facebook, Instagram und Snapchat.