Freundlich, unscheinbar, ja, durch und durch normal. Das ist das erste, was einem zu dem jungen, blonden Mann mit Brille und blauem Pulli einfällt, der sich per Livestream vor einem kleinen Hotel in Finnland filmt. Er heißt Jarmo Ekman, sein YouTube-Kanal hat 11.000 Abonnenten.
Kurz darauf tritt eine Frau aus dem mit Blumen geschmückten Hoteleingang, auf ihrem Kopf eine rote “Make America Great Again”-Mütze. Sie winkt in die Kamera, macht einen Kussmund und präsentiert den Zuschauenden stolz ihre Kopfbedeckung.
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“Eine wunderschöne Mütze”, sagt Ekman mit finnischem Akzent. Er lächelt viel. “Wie ihr seht, gibt es hier eine Menge Trump-Fans. Natürlich, es ist ja auch ein Q-Treffen.”
Es ist Samstag der 11. Juli und rund 50 Menschen haben sich an diesem Wochenende in einem Hotel in der kleinen Gemeinde Kemiönsaari, zwei Stunden westlich von Helsinki, zu einem QAnon-Festival zusammengefunden.
Dann betritt Ekman das Hotel, wo sich die anderen Teilnehmer gerade über das Büffet hermachen. Die Atmosphäre ist entspannt, das Geschlechterverhältnis halbwegs ausgeglichen. Immer wieder spricht Ekman von “Freunden”. Schließlich bleibt er bei einem Mann mit einem Dutt und langem, grauem Kinnbart stehen. Auf seinem Namensschild steht “Bono”.
“Das ist das erste Q-Wochenendfestival der Welt”, sagt Bono. Auch er lächelt viel. Auf seinem T-Shirt steht “QAnons Army Finland”.
Solche sogenannten Armeen gibt es auch in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Kanada, Japan und dem Iran. Sie alle unterstützen QAnon, eine Verschwörungstheorie, deren Anhängerinnen und Anhänger glauben, dass Donald Trump einen Krieg gegen den sogenannten “Deep State” führt – einen Staat im Staate, der sich aus Eliten, Politikerinnen und Prominenten zusammensetzt. Diese Menschen sollen, gemäß des wirren Verschwörungsglaubens, einen riesigen pädosexuellen Ring betreiben, Kindern das Stoffwechselprodukt Adrenochrom abzapfen und das Coronavirus benutzen, um ihre Macht zu festigen. Der wohl prominenteste QAnon-Anhänger in Deutschland ist Xavier Naidoo.
Durch die Pandemie hat QAnon großen Zulauf erhalten. Menschen auf der ganzen Welt sind verzweifelt auf der Suche nach Gemeinschaft und einem Sinn in dem ganzen Chaos. Die QAnon-Community nimmt jede und jeden auf, der glaubt, dass die Welt im Argen liegt, weil böse Menschen im Hintergrund die Fäden ziehen. Auch wenn die Verschwörungstheorie im Detail einen großen USA-Fokus hat, funktioniert sie weltweit.
Marc-André Argentino, Doktorand an der kanadischen Concordia University, hat sich viel mit QAnon und anderen rechten Bewegungen auseinandersetzt. Vor Kurzem hat er die Daten von QAnon-Gruppen in sozialen Netzwerken analysiert. So hatten QAnon-Inhalte bei Twitter seit März um 71 Prozent zugenommen, bei Facebook um 651 Prozent. Das war allerdings bevor Twitter Ende Juli eine Reihe von QAnon-Konten sperrte.
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Auf Facebook zeigte seine Analyse 179 Gruppen mit über 1,4 Millionen Mitgliedern. Anfang März waren es noch 60 Gruppen und weniger als eine Viertelmillion Mitglieder. Im gleichen Zeitraum verdoppelte sich die Zahl der QAnon-Seiten auf Facebook von 63 auf 120.
“Die meisten neuen Gruppen und Seiten scheinen international zu sein”, sagt Argentino. “Es gibt nicht besonders viele neue Gruppen aus den USA. Die bestehenden Gruppen sind nur weiter gewachsen.” Neue Gruppen gebe es vor allem in Österreich, Dänemark, Ungarn, Polen, Tschechien, Russland und Israel.
“In Deutschland haben Demonstrierende vor kurzem Trump dazu aufgefordert, sie vom deutschen Deep State zu befreien. Das ist einfach nur bizarr”, sagt Argentino.
Auch die Q-Community in Finnland ist gewachsen. Bereits vor zehn Monaten hatte Ekman ein Q-Treffen in Helsinki abgehalten. Damals kamen nur 19 Menschen.
Q und die sich ständig wandelnde Verschwörung
Das QAnon-Konstrukt ist zu verworren, um es hier in seiner Gänze vorzustellen. Grob zusammengefasst lautet die Theorie wie folgt: Donald Trump bekämpft den Deep State, kann seinen eigentlichen Plan aber nicht preisgeben, weil er so die ganze Mission gefährden würde. Deswegen informiert eine anonyme Person oder Gruppe von Personen namens “Q” die Öffentlichkeit darüber, was gerade im Kampf gegen den Deep State passiert. Der Name “Q” steht für Sicherheitseinstufung, die die Person im US-amerikanischen Sicherheitsapparat haben soll. Die Informationen postet Q in kryptischen Nachrichten auf einem Online-Imageboard, das vor allem für seine Verbindungen zu Neonazis und Kinderpornografie bekannt ist. Trump-Anhänger finden diese Nachrichten, auch Q-Drops genannt, und entschlüsseln sie.
Angefangen hatte alles 2017 auf dem Imageboard 4chan. Bizarre und vor allem haltlose Behauptungen über “Maulwurfkinder”, die im Untergrund zum sexuellen Missbrauch verkauft werden, und über Prominente wie Kanadas Premierminister Justin Trudeau und Schauspieler Tom Hanks, die heimlich exekutiert und durch Körperdouble ersetzt worden sein sollen, führten dazu, dass die QAnon von vielen lange belächelt wurde. Trotzdem wächst die Anhängerschaft.
Denn QAnons Theoriekonstrukt ist extrem anpassungsfähig. Was in der Community heute noch frenetisch geteilt wird, ist in ein paar Monaten vielleicht gar kein Thema mehr. Anna Merlan von VICE News und Autorin des Buches Republic of Lies schrieb vor Kurzem, dass wir durch die Corona-Pandemie und ihre gesellschaftlichen Folgen eine “Verschwörungs-Singularität” erleben. Diese erlaube es verschiedenen Gruppen wie QAnon, UFO-Gläubigen und Impfgegnern zusammenzuwachsen. Gut sichtbar war das auch Anfang August bei der Berliner Querdenker-Demo, auf der Esoterikerinnen, QAnons, Neonazis, Linke, Ökos und besorgte Bürger gemeinsam ohne Mundschutz gegen die Corona-Maßnahmen protestierten.
“Die Pandemie hat in vielen Lebensbereichen eine Atmosphäre der Unsicherheit und Machtlosigkeit geschaffen”, heißt es in einem Bericht des Media Diversity Institutes von Juni. “Leider ist es QAnon gelungen, diese Atmosphäre auszunutzen, indem es mithilfe von Verschwörungstheorien Fehlinformationen über eine ohnehin schon komplexe und ungelöste Krise verbreitet.”
Travis View, Co-Host des US-Podcasts QAnon Anonymous, sagt, dass er den weltweiten Anstieg von Gruppen als ein Bedürfnis nach Gemeinschaft sieht. Am Ende ist QAnon nämlich genau das: eine Online-Community. Die Gruppe wurde auch schon als eine Art Sekte beschrieben, wobei Trump und Q die Rolle von religiösen Figuren einnehmen.
“QAnon kommt zwar wie eine sehr US-amerikanische Verschwörungstheorie rüber, ist aber eigentlich eine umfassende Verschwörungsbewegung”, sagt View. “Auf welche Verschwörungstheorien du auch immer anspringst, bei QAnon findest du ein Zuhause.”
View ergänzt: “Was Menschen stärker bindet als alles andere, sind Online-Gemeinschaften, die den Institutionen nicht glauben.”
Terroristische Bedrohung
Aber QAnon ist nicht harmlos. In den vergangenen Jahren sind Anhänger der Bewegung für mehrere Verbrechen und Morde verantwortlich gewesen. 2019 erschoss ein 24-Jähriger einen New Yorker Mafiaboss, den er für ein Mitglied des Deep States hielt. Eine Frau streamte live ihren Versuch, den Präsidentschaftskandidaten Joe Biden “auszuschalten”, während sie einen Nervenzusammenbruch erlebte. Andere Anhänger blockierten bewaffnet Brücken, ließen einen Zug entgleisen und planten Bombenanschläge an Orten, die sie für satanisch hielten.
Das FBI stuft Verschwörungstheorien wie QAnon als terroristische Bedrohung ein.
Die verschiedenen QAnon-Gruppen sind international vernetzt und produzieren gemeinsam Inhalte. Verschwörungsexperte Argentino sagt, dass internationale Seiten Q-Propaganda übersetzen, um sie mehr Menschen zugänglich zu machen. Der QAnon-Film Out of Shadows bekam so zum Beispiel noch einmal Hunderttausende zusätzliche Views. Allein die deutsche Version wurde inzwischen fast 190.000 Mal angesehen. Die deutsche QAnon-Community in Deutschland übersetzt und verbreitet die Propaganda auch in Österreich und Dänemark. Die einzelnen Theorien werden dazu noch inhaltlich an die verschiedenen Länder angepasst. In Frankreich schlagen die Gruppen zum Beispiel einen sozialistischeren und religionskritischeren Ton an als in den USA.
“Diese Gemeinschaften fangen an, ihre Regionen zu beeinflussen, und wir sehen einen starken Zuwachs”, sagt Argentino. “Daraus entstehen verschiedene Ausprägungen, die trotzdem noch um die Trump-Bewegung herum aufgebaut sind.”
Laut dem Institute for Strategic Dialogue werden QAnon-Theorien vor allem in den USA, Großbritannien, Kanada und Australien verbreitet, gefolgt von Russland, Indonesien und Deutschland.
QAnon weltweit
Es sind keineswegs nur Menschen am Rand der Gesellschaft, die dem QAnon-Kult folgen.
Im Oktober 2019 fand der Guardian heraus, dass ein Freund des australischen Premierministers Scott Morrison ein bekannter QAnon-Anhänger ist. Seine Frau arbeitete im Büro des Premierministers. Vor einigen Monaten wurde ein Psychologe aus dem australischen Ärzteregister entfernt, weil er im offiziellen Blog seiner Praxis über 300 Posts geschrieben hatte, in denen er krude Theorien über Kinderopfer und einen versuchten Coup der englischen Königin auf die USA verbreitete.
In Deutschland berichtet die englischsprachige Nachrichtenseite The Local, dass die deutsche QAnon-YouTube-Seite seit März extrem angewachsen ist. Der Telegram-Kanal verzeichnet einen Zuwachs von 20.000 auf 110.000 Follower.
Im Iran pflegt die Oppositionsgruppe Restart Verbindungen zu QAnon, auch in Japan und Südkorea gibt es Anhängerinnen und Anhänger der Verschwörungstheorie.
Auch US-Journalist Mike Rothschild, der ein Buch über QAnon geschrieben hat, hat den Eindruck, dass sich die internationale QAnon-Gemeinschaft einfach den zentralen Punkt der Verschwörungstheorie rauspickt – der Kampf gegen eine Elite – und ihn an ihre jeweilige Situation anpasst.
“Ich hätte nie erwartet, dass das mal eine solche internationale Reichweite bekommt”, sagt Rothschild. “Was hat ein US-Agenten-Rollenspiel mit dem Leben in Japan oder Finnland zu tun, wo es ganz andere Probleme und ganz andere Buhmänner gibt? Für bestimmte Rechte im Internet dürfte der Buhmann weltweit allerdings auch mehr oder weniger der gleiche sein.”
Und natürlich landet man bei fast allen Verschwörungstheorien, in denen es um eine reiche Elite geht, die im Hintergrund die Fäden zieht, ziemlich schnell beim klassischen Antisemitismus.
Ekman ist jedenfalls überhaupt nicht überrascht, dass 50 Menschen in ein Hotel auf dem finnischen Land gekommen sind, um etwas zu zelebrieren, dessen Epizentrum 7.000 Kilometer entfernt liegt. Wie viele in der QAnon-Bewegung hat er das Gefühl, Teil von etwas Größerem zu sein.
“Ich glaube, die Nachrichten von Q drehen sich nicht nur um US-Politik. Es gibt eine große Diversität bei den Themen”, sagt Ekman. “Gerade findet weltweit ein spirituelles Erwachen statt, bei dem Q und Trump eine wichtige Rolle spielen.”
Laut Ekman ist das erst der Anfang. In den USA bewerben sich gerade 68 QAnon-Anhängerinnen und Anhänger auf einen Sitz im Kongress. Einige von ihnen haben gute Chancen, gewählt zu werden.