In unserer Reihe “ Zmittag uf Skype ” diskutieren Rapper Tommy Vercetti und unser Redaktor Uğur Gültekin via Skype über Themen, die aktuell in der Schweiz debattiert werden. Sie haben es sich dabei zum Ziel gesetzt, nicht nur die Debatte und das gewählte Thema an sich, sondern auch sich selbst kritisch zu reflektieren.
Fast ein ganzes Jahrzehnt lang war Nation Music, das 2003 aus dem Zusammenschluss von Dialog Records, aightgenossen.ch und Nation Records entstanden ist, der wichtigste Player auf dem Schweizer Musikmarkt, wenn es um Mundartrap ging. Unzählige Grössen des Genres (Sektion Kuchikäschtli, Baze, Gimma, uva.) standen bei Nation Music unter Vertrag und ein beträchtlicher Anteil aller Schweizer Rap-Releases wurden durch das Label vertrieben. Anfang Mai 2017 meldete die Firma Insolvenz an. Was bedeutete: Die finanziellen Forderungen der Künstler gingen verloren und – was noch viel wichtiger ist – der ganze Katalog von Nation Music verschwand aus den digitalen Stores. Inzwischen sind die wichtigsten wieder verfügbar, weil sie von den Künstlern oder einem anderen Label neu hochgeladen wurden. Weil der Konkurs von Nation Music einer der ersten grossen Label-Schliessungen in der Schweizer Musikindustrie ist und weil das Label einen wichtigen Teil der Szene ausmachte, ist dieser auch einen Monat später noch ein viel besprochenes Thema in der Schweizer HipHop-Welt.
Tommy Vercetti und ich haben uns den Konkurs von Nation Music zum Anlass genommen, um uns über die Entwicklung von Rap in der Schweiz zu unterhalten.
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Ugur: Wie ordnest Du das Ende von Nation Music ein?
Tommy Vercetti: Ich muss zugeben, dass ich die ganze Konstellation anfangs unterschätzt habe, oder präziser: Da ich selbst mit den Nation-Leuten Probleme hatte, überwog die Schadenfreude. In der Diskussion mit DJ Ilarius wurde ich mir langsam der Bedeutung bewusst, die dieser Konkurs – und vor allem die Reaktion darauf – für den Schweizer Rap und die Schweizer Kultur insgesamt hat. Mit dem Nation-Katalog versinkt ein signifikanter Teil der jüngeren Schweizer Musikkultur potentiell in der Vergessenheit. Dass sich das jüngere Rap-Publikum – mit seinen Vorstellungen permanenter digitaler Verfügbarkeit – darüber nicht gross aufzuregen vermag, ist verständlich. Dass aber Kulturverantwortliche, Journalisten, ja selbst die betreffenden Künstler keinen Handlungsbedarf verspüren, widerspiegelt die Ignoranz, die Rap als Musik und als kulturelle Ausdrucksform auch nach 30 Jahren noch entgegengebracht wird. Und diese Ignoranz schadet allen, die sich auf irgendeine Art damit beschäftigen. Dabei ist völlig irrelevant, ob man die Nation-Leute oder die Nation-Musik mochte oder nicht. Ja eigentlich sogar: ob man Rap rein geschmacklich mag oder nicht. Du bist ja mit deiner ehemaligen Gruppe selbst betroffen vom Nation-Konkurs. Wie nimmst du diesen wahr?
Mich hat diese Nachricht von Anfang an betroffen gemacht. Eigentlich gar nicht wegen meiner eigenen Releases, sondern vielmehr wegen der Bedeutung dieses Labels für Mundartrap: Nation Music war ein Bestandteil der Szene und es ist, meiner Meinung nach, sehr wichtig, dass alle Anstrengungen gemacht werden, dass der Katalog gerettet und wieder auf den digitalen Plattformen verfügbar gemacht werden kann. Mit Alben wie Nur so am Rand von Sektion Kuchikäschtli , Jede Tag Superstar von Manillio – um nur zwei zu nennen – waren wichtige Titel vom Konkurs betroffen. Diese sind nun bereits wieder verfügbar. Und ich glaube, dass ein grosser Teil der Künstler schon dafür sorgen wird, dass ihre Alben wieder abrufbar sind. Nation Music war seit einigen Jahren nicht mehr wirklich aktiv auf dem Musikmarkt, von daher sind die Auswirkungen auf das aktuelle Geschehen nicht besonders signifikant. Ich glaube auch nicht, dass das Label eine wichtige Rolle in der Zukunft von Mundartrap eingenommen hätte. Die Szene wird es überleben. Was meinst du mit “Ignoranz, die Rap entgegengebracht wird”? Kannst du das konkreter benennen?
Ich meine damit den bemerkenswerten Kontrast zwischen der Präsenz von Schweizer Rap in den Charts, auf der Strasse, in den Kopfhörern und Gesprächen, und seiner Absenz in Radio und Fernsehen, im Feuilleton, in der Hochkunst und der Kulturförderung. Natürlich kommt er in all diesen Bereichen vor, aber immer unter dem Vorzeichen einer Domestizierung, also dem Versuch, ihn zu bändigen: sei es in Form stereotyper Sätze – “jenseits von Rapklischees” – sei es in Form verharmlosender Darstellungen – CoverMe – oder sei es in Form erfolgreicher Ausnahmen – zum Beispiel Lo & Leduc oder Nemo. Dabei geht es nicht darum zu sagen, dass sich letztere verbiegen, sondern dass sie eine rapverwandte Musik machen, die als Rechtfertigung dient: Wir beachten das ja. Als – meist unausgesprochenen – Grund für diese Ignoranz werden stilistische bis moralistische Argumente angeführt: Rap sei vulgär, primitiv, unmusikalisch, pubertär, zurückgeblieben, chauvinistisch und sexistisch. Musik von und für Barbaren.
In Deutschland wurde die HipHop-Kultur und Rap als Kunstform von den Mainstreammedien auch lange Zeit als mittelständische Spasskultur domestiziert und auf diese Weise vermarktet, danach kamen Künstler wie beispielsweise Kool Savas oder Azad und dann Aggro Berlin und waren quasi eine Faust in die Fresse des Mainstreams. Zumindest am Anfang war das so. Inzwischen sind die Rebellen von damals selbst zu den grössten Spiessern geworden, aber das ist vielleicht ein anderes Thema. Jedenfalls: Sind wir in der Schweiz nicht auch an einem Punkt, der als Zeitenwende bezeichnet werden kann, mit neuen Selbstbildern und Deutungshoheiten?
Ich zweifle sehr stark daran, dass sich die Situation in nächster Zeit ändert, denn diese Ignoranz ist ein Ausdruck von Klassenverhältnissen, von der Deutungshoheit darüber, was Kultur ist und was nicht. Insofern ist die Verachtung sogar als Qualitätssiegel zu werten: Sie zeigt, dass Rap noch immer gesellschaftliche Relevanz besitzt, und sich noch nicht vollständig in Eskapismus, Geschäft und elitäre Selbstbeweihräucherung aufgelöst hat.
Inwiefern ist die von dir beschriebene Ignoranz ein Ausdruck von Klassenverhältnissen?
Der grosse Teil der Rapmachenden und Raphörenden kommt wahrscheinlich immer noch aus der Mittel- oder Unterschicht. Klar triffst du einige aus den oberen Bereichen, die sich aus einem ödipalen Impuls hinaus dafür interessieren, aber spätestens zwischen 25 und 30 Jahren weiss man wieder, wo man hingehört, und wendet sich Björk, Arcade Fire oder sonst was Verkopftem zu. Es gibt auch Ausnahmen – liebe Grüsse an CBN. Rap ist noch immer getragen von einem Ethos des Ungeschminkten, des Aussprechens, des Nichtverfälschens – eine Tugend, die jetzt von der Rechten vereinnahmt wird. Rap beschreibt Lebensverhältnisse und -wünsche, spricht über Geld, Gewalt, Autos und Bitches – also eigentlich genau über die Dinge, die die Lebensrealität aller Menschen bestimmen, über die die herrschenden Schichten aber nicht sprechen wollen. Deshalb ist auch der Sexismus-Vorwurf so lächerlich: Sexismus entspringt nicht den Mündern von Jugendlichen, sondern den Taschen der Herrschenden. Bourdieu nennt das “Ästhetizismus”: Je höher die Schicht, das Kapital, die Kultur, umso mehr entfernt man sich von Zwecken, Notwendigkeiten, von so etwas Niedrigem wie dem Körper oder Geld. Die Kunst muss ganz Kunst, ganz Form sein, sich in einer geistigen, von Interessen reinen Sphäre abspielen. Natürlich gehört das Radio und die bünzlige Mittelschicht nicht zur Oberschicht, aber sie würden es gerne. Und genau diese Mechanismen erklären die Abneigung und die Ignoranz gegenüber Rap: Der Rap bleibt – bei aller Fantasie und Übertreibung – ein Spiegel. Die Herrschenden wollen aber keinen Spiegel als Kultur, sondern einen Schleier. Hinsichtlich der Schichten muss man im Schweizer Rap allerdings verschiedene Etappen unterscheiden. Du hast ja langejoiz in the hood gemacht, so dem Schweizer Rap eine wichtige Plattform geboten und praktisch jeden Künstler persönlich kennen gelernt. Wo siehst denn du die Unterschiede zwischen den verschiedenen Generationen? Jetzt auch so auf der Ebene Haltung, Beziehung zur Musik, Charakter?
Ich bin nun seit über 15 Jahren mittendrin und habe die verschiedenen Generationen hautnah miterlebt. Ich beobachte eine Art Emanzipation über die ganzen Jahre hinweg. Mundartrap ist komplexer und erwachsener geworden und es bestehenganz grosse identitäre Unterschiede zwischen den Generationen. Gleis Zwei, als einer der grossen und wichtigen Aushängeschilder der ersten Phase, veröffentlichten 1999 den Titelsong “Muetersprach” auf ihrem Album Jede Tag’n Gleiser . Dieses Thema war das bestimmende der ersten Phase und die wichtigste Storyline für den Zusammenhalt der Szene. Die Identität der Szene bestand vor allem darin, dass man sich verbunden fühlte, mit allen, die den Schritt wagten, auf Schweizerdeutsch zu rappen. Heute ist das selbstverständlich. Die aktuellen Acts setzen sich mit ganz anderen Themen auseinander. Es sind also verschiedene Phasen auszumachen und sie waren nötig.
Genau, ich sehe grob deren drei. Die erste würde ich als Abgrenzungsphase bezeichnen: Schweizer Rap war neu und wollte, beziehungsweise musste mehr sein als einfach eine Dialekt-Kopie von Ami- oder Deutschrap. Entsprechend stark war der nationalistische Unterton: überall Schweizer Kreuze, Namen wie «Aightgenossen» oder «Nation Records», vorwiegend Schweizer Akteure, wenn auch vereinzelt mit Migrationshintergrund. Etwas harsch ausgedrückt war hier eigen sein wichtiger als gut sein: man hat verhältnismässig noch schlecht gerappt und verkaufte das als Originalität. In Klammer: Ein Symptom, das man teilweise heute noch antrifft.
Dieser patriotische Note der ersten Phase ist echtbemerkenswert. Man muss hier aber schon anfügen, dass es selbstverständlich andere Stimmen gab, die jedoch nicht gross beachtet wurden und weder in den Mainstreammedien noch den HipHop-Medien, die es bereits gab, keinen, oder nur wenig Platz fanden. Denn: Auch die Szene selbst war ausschliessend und teilweise gar elitär. Das Wort “Gangster” war szeneintern quasi eine Beleidigung. Es stand als Synonym für ungebildet und dumm. Und so entwickelte sich eine erste Konfliktlinie zwischen Street- und dem sogenannten Blüemlirap und entlud sich in den Beefs zwischen der Fraktion um EKR und Griot und dem Gegenpol Bauers, dessen Aushängeschild Sektion Kuchikäschtli war.
Wie hast du persönlich diese Entwicklung wahrgenommen? Du warst ja lustigerweise mit deiner Gruppe X-Chaibä Mitglied bei den Bauers.
Ich habe diese ganze Bauers-Aufmachung immer als Persiflage verstanden. Ausserdem war Rennie der Prototyp eines Antihelden und das war und ist mir bis heute sehr sympathisch. Nur so am Rand ist eines der wichtigsten Alben der Szene, auch weil es Haltungen einnimmt, seine Umwelt reflektiert und Realitäten abbildet. Da gibt es, meiner Meinung nach, nichts daran zu rütteln. Mit Rennie in einem Team gewesen zu sein, werde ich nie bereuen. Ich teilte zu dieser Zeit seinen kritischen Blick auf die Welt und die Schweiz – und glaube, das wäre auch heute noch so. Auch wenn ich ihn schon lange nicht mehr gehört habe. Aber lass uns weiter über die Phasen sprechen.
Eine zweite Blüte war in den 2000er-Jahren, in welchen auch wir gross wurden. Musikalisch bekannte man sich offener zum Ami-Einfluss – ich zum Beispiel bin auf einem Mixtape eine schlechte Kopie von Jay, dann von Juelz, dann von Weezy – wurde damit aber auch besser, und textlich wurde es plötzlich sehr interessant und originell. Trotz meines superhungrigen und kompetitiven Moods damals fand ich plötzlich einige andere richtig richtig gut.
Ich bezeichne diese Phase als Golden Age des Mundartraps. Die Produktionen wurden professioneller, die Szene wurde richtig gross und Mundartrap konnte erste Erfolge ausserhalb der Szene verbuchen. Trotzdem: Acts wie Griot, die auf Strassenrap setzten, floppten in Bezug auf kommerziellen Erfolg. Inzwischen wäre das wohl anders. Wo stehen wir heute?
Die dritte und jetzige Phase würde ich als eine Art Diversifizierung bezeichnen: Es gibt plötzlich sehr viele und sehr gute Rapper, die ganz unterschiedliche Arten von Rap machen und – neuerdings – aus ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Sparten kommen: Jetzt viel stärker auch aus migrantischen, eben auch weil Rap auf Schweizerdeutsch diesen patriotischen Unterton verloren hat.
Wohin entwickelt sich die Szene weiter?
Das ist eine gute Frage, auf die ich leider keine Antwort habe. Raptechnisch ist die Szene unglaublich gut und vielfältig geworden, sie sollte das jetzt auch musikalisch und textlich umsetzen. Das wäre meine Kritik: die beanspruchte – nicht die reale – Originalität der Frühphase, die textliche Qualität der 2000er und das technische Können der jetzigen Generation sollten zusammenkommen. Aber ich denke, das ist Jammern auf hohem Niveau. Sir Jai hat dir ja im Interviewgesagt, er finde es beeindruckend, was auf diesem winzigen “Markt” alles abgeht, und das finde ich wirklich auch.
Tommy Vercetti und Dezmond Dez aka Glanton Gang kannst du heute Abend im Bonsoir live sehen. Tickets gibt es hier.
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