Wie ‚Stranger Things’ die 80er musikalisch auf den Kopf stellt

Warnung: Dieser Artikel enthält Spoiler zu der Netflix-Serie Stranger Things, die du inzwischen aber sowieso schon gesehen haben solltest. Dieser Artikel ist zuerst bei THUMP US erschienen.

Beim Anschauen der Netflix Serie Stranger Things überkommt einen nicht selten ein Déjà-Vu-Moment. In einer Schlüsselszene der siebten Folge zum Beispiel. Dort rast eine Gruppe von Kindern auf Rädern durch die Straßen eines vorstädtischen Wohngebiets und versucht verzweifelt, einer Horde bedrohlicher Agenten zu entkommen. Plötzlich versperrt ihn ein Van der Verfolger den Weg und man fühlt sich unweigerlich an eine berühmte Szene mit dem beliebtesten Extraterrestrischen der Kinogeschichte erinnert.

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30 Jahre Filmgeschichte haben ihre Spuren hinterlassen und man erwartet schon fast, dass die Räder gleich zu den dramatischen Klängen von John Williams orchestraler E.T.-Filmmusik abheben und über das Hindernis hinwegfliegen. Aber nein, es kommt ganz anders. Statt pathosschwangeren Streichern ertönt eine hektisch-abgehackte Melodie mit Retrosynthesizer-Sound, die sich zu einem Feedback-Crescendo steigert. Anstatt dem Hindernis auszuweichen, konfrontieren die Kinder die Gefahr frontal. Das mysteriöse Mädchen mit den telekinetischen Fähigkeiten lässt einfach den ganzen verdammten Van durch die Luft fliegen.

Zurück bleibt nichts als Zerstörung. Das Triumphale bleibt aus. Die Musik verstummt und man hört nur wie Metall und Glas auf Asphalt treffen.

Nein, das hier ist definitiv nicht E.T.. Die von den Duffer Brürdern erschaffene Serie Stranger Things ist ein 1983 spielendes Science-Fiction-Adventure, das sich recht frei von den Stev(ph)en Spielbergs und Kings dieser Welt inspirieren lassen hat. Wenn du jetzt denkst, dass das nach einer einfallslosen Aneinanderreihung nostalgischer Verweisen klingt, die nichts Anderes im Sinn hat, als aus unserer Fetischisierung der nicht allzu fernen Vergangenheit Kapital zu schlagen, dann kann ich dir das nicht verübeln.

Allerdings gehen bei Stranger Things Serie und Soundtrack weit über die Ebene der einfachen Imitation hinaus. Sie unterwandern die Filmtropen der 80er auf kritische wie auch reflektierte Weise.

Dixon und Stein (von der Synthwave-Gruppe S U R V I V E), die sich hier zum ersten Mal an Filmmusik versuchen, machen keinen Hehl aus ihren Einflüssen. In den schummrigen Strings, wabernden Synth-Spuren, repetitiven Klaviermelodien und unheilvoll brodelnden Drones ist der lange Schatten von Horror-Meister John Carpenter deutlich zu spüren. Es ist außerdem offensichtlich, dass sich die beiden Musiker den sparsamen Minimalismus Carpenters zu Herzen genommen haben.

Das Paar hat außerdem Bands wie Tangerine Dream (u.a. Der Einzelgänger und Atemlos vor Angst) und Goblin (u.a. Suspiria) als Einflüsse zitiert. Ihre Musik ist bisweilen eindringlich, fordernd und nervenaufreibend, aber auch schwingend und treibend. Nicht selten werden resolute Appregiators eingesetzt. Die spacigen Vibes und altmodischen Presets erinnern bisweilen auch an die Musik von Twin Peaks und Akte X.

Die ganzen Retro-Anspielungen des Soundtracks liegen klar auf der Hand, aber Dixons und Steins Arbeit für Stranger Things reflektiert auch einen wichtigen Dreh- und Angelpunkt der Serie: das Umstülpen von Filmklischees der 80er Jahre. Indem die Vergangenheit hier aus einer modernen Perspektive heraus betrachtet wird, tun Serie und Musik erst gar nicht so, als wäre das, was wir sehen und hören, nicht schon mal gemacht worden. Schon am Intro merkt man, dass sich Matt und Ross Duffer dieses ständigen Austauschs zwischen Vergangenheit und Gegenwart mehr als bewusst sind:

Die Steven-King-artige Schriftart könnte kaum offensichtlicher auf eine bestimmte kulturelle Periode verweisen. Die Titelmusik mit ihren appregierten Riffs, der unheilvollen Akkordfolge und dem subtil pochenden Bass tut dazu ihr Übriges. Die Duffer-Brüder verpassen dem Ganzen allerdings optisch noch eine gute Portion Körnung, so dass die Titelsequenz im Verhältnis zum Rest der Serie verdächtig alt aussieht. Es ist ein augenzwinkernder Verweis auf die Künstlichkeit der Periode, in der die Handlung verortet ist. Ein paar Filter und Gitternetzlinien mehr und wir hätten die artifizielle Nostalgie eines Vaporwave-Videos.

Die Eröffnungssequenz ist ein erster Hinweis darauf, dass die Serie nicht einfach blind und kopflos der Vergangenheit huldigt. Stranger Things verwendet vielmehr das Kino der 80er als Startrampe. Die Serie lässt dich im Glauben, dass du es mit einer vermeintlich allzu vertrauten Geschichte zu tun hast, bevor dann hinterrücks einfach die ausgelatschten und altbackenen Erzählpfade verlassen werden. Die hysterische Mutter verwandelt sich zu einem mächtigen und selbstlosen Charakter. Die weibliche Hauptrolle wird nicht wie ein Liebes-Preis behandelt, den es zu gewinnen gilt.

Die Musik hilft dabei, diese thematische Subversion zu unterstützen. In Folge eins begeben sich die Jungs nachts auf die Suche nach ihrem verschollenen Freund in den Wald. Auf dem Weg dorthin sieht einer von ihnen, wie der heimlich Freund seiner Schwester zu ihrem Fenster hochklettert. Dieses uralte, „romantische” 80er Klischee mutet hier aber viel unheimlicher und weniger unschuldig an. Im Hintergrund erklingt unheilvoll eine dünne, zitternde Synthspur, während alle paar Takte eine stattlicher Akkord erklingt. Die Aussage ist eindeutig: Die Kindheit in den 80ern war nicht ansatzweise so behütet oder schön, wie sie auf der Leinwand immer dargestellt wird. Auch wenn Stranger Things durchaus einige schöne Momente hat, vertuscht die Serie damit nicht den Grauen des Vorstadtlebens und die fantastische Gefahr, die hier am Rande lauert. Die Musik trägt ihren Teil dazu bei, dass du das nicht vergisst.

Archetypen werden ebenfalls umgekrempelt. Als in Folge sechs ein Straßenkampf zwischen einem Sportlertypen und einem Außenseiter ausbricht, wird dieser beinahe unpassend von einer melancholisch-sehnsüchtigen Melodie untermalt—dem Gegenteil des adrenalinpuschenden Powersounds, den man hier eigentlich erwartet hätte. Vielleicht soll damit darauf verwiesen werden, dass eine solche gewalttätige Zurschaustellung männlicher Aggression oftmals auf dem Unvermögen basiert, seine Emotionen klar ausdrücken zu können.

Foto: Netflix

In solchen Momenten erkunden Dixon und Stein ein emotional weitaus differenzierteres Territorium als es ihre Vorgänger in den 70ern und 80ern taten. In einer anderen Szene—wieder eine E.T.-Anspielung—verpassen die Jungs dem Mädchen ein Makeover. Sie schminken sie und setzen ihr eine Perücke auf, während dazu zarte und idyllische Melodien neben warmen Akkorden erklingen. Es ist einer dieser reinen und unschuldigen Momente, die an die meditativeren und schöneren Passagen aus Cliff Martinez neueren Arbeiten für Drive und Neon Demon erinnern. Ein ganz ähnliches Gefühl der Sehnsucht zieht sich auch durch das Werk der aktuell erfolgreichen Retrofuturisten wie Xander Harris und Horror-Aficionado Umberto.

Dieses hin und her zwischen Retrocharme und Modernität findet sich auch in der Songauswahl von Dixon und Stein wieder. In dem vernichtenden Ende von Episode drei wird Peter Gabriels Cover des Bowie-Songs „Heroes” auf geradezu vernichtende Art eingesetzt. Das 2010er Cover eines Songs aus den 80ern hat gerade 2016 um so mehr Gewicht, da die Wunde, die Bowies Tod hinterlassen hat, noch nicht verheilt ist.

Diese Form der Rekontextualisierung erfordert, dass man sich gleichzeitig mit Vergangenheit und Gegenwart auf eine Art auseinandersetzt, die die Serie ungemein bereichert. Es wäre nicht verwunderlich, wenn man beim Blindhören des Stranger Things-Soundtracks eine vorübergehende Orientierungslosigkeit verspürt—eine unlösbare Spannung zwischen den Artefakten der frühen 80er und seiner Veröffentlichung im Sommer 2016. Er spielt auf der ganzen Klaviatur der Gefühle, nur um einen letzten Endes wieder in die Gegenwart zu holen. Zurück bleiben sowohl ein müdes Lächeln über Altbekanntes, als auch Freude über Wiederentdeckungen.

Allerdings fühlt sich die filmische und musikalische Unterwanderung bei Stranger Things nie ironisch oder nach einer vernichtenden Abrechnung an. Die Macher der Sendung wollen, dass du dich von der wohlig-warmen Nostalgie einlullen lässt—und die Musik trägt ihren Teil dazu bei. Und sie wollen, dass du dieses Gefühl auch weiter in dir trägst, selbst wenn sie die ganzen Tropen und Klischees dekonstruieren, die du im Laufe mehrerer Jahrzehnte vor der Mattscheibe internalisiert hast. Sie wollen mit diesen ikonischen Momenten spielen, die sich noch von deiner abgenudelten E.T.-Videokassette in dein Gedächtnis eingebrannt haben.

Stranger Things versprüht Vertrautheit, allerdings nicht im Sinne einer sklavischen Imitation. Die Serie verfügt über die Mittel und die Fähigkeiten, sich kritisch mit den Mängeln seiner Vorbilder im Rahmen der eigenen Erzählung auseinanderzusetzen. Stranger Things und der dazugehörige Soundtrack sind ein vorbildliches Beispiel dafür, wie zeitgenössische Unterhaltung einen produktiven Dialog mit der Vergangenheit führen kann. Nostalgie erfüllt bei Stranger Things eine weitaus tiefergreifende Funktion, als bloß flüchtigen Trost zu spenden.

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