Wie Tausende Antifaschisten stundenlang den Hamburger Bahnhof lahmlegten

Am Samstag sollte in Hamburg der „Tag der Patrioten” stattfinden, Neonazis wollten aus dem gesamten Bundesgebiet anreisen, um zu demonstrieren. Die Demo war aber verboten worden.

Würden die Rechten sich an das Verbot halten oder trotzdem nach Hamburg kommen? Diese Frage beschäftigt uns am Samstagmorgen, als wir mit der S-Bahn zum Hauptbahnhof fahren. Zwar hatte das Bundesverfassungsgericht am späten Freitagabend das Verbot des „Tags der Patrioten” bestätigt. Allerdings machten auch schon am Freitag im Internet Berichte von Hooligans die Runde, die im Schanzenviertel eine Passantin als „Antifa-Fotze” beschimpft haben sollen. Es waren also schon Rechte in der Stadt. Was würden sie tun?

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Als vor dem Hauptbahnhof gerade Polizisten in ihre Robotermontur schlüpfen und der Deutsche Gewerkschaftsbund seinen Lautsprecherwagen für die Gegendemo aufstellt, wird klar, dass die Neonazi-Hools zu einer Ersatzveranstaltung in Bremen aufrufen. Während die Hamburger Polizei darum bittet, das zunächst nicht zu veröffentlichen („Wir wollen da keinen Zulauf haben, die Bremer Kollegen sind schlecht aufgestellt”), bestätigt die Bremer Polizei ganz offiziell, dass sie sich auf einen entsprechenden Einsatz vorbereitet.

Der mich begleitende Kollege entscheidet sich für die Fahrt nach Bremen, ich bleibe zunächst alleine in Hamburg zurück. Ich beobachte, wie Hunderte Antifas in Züge Richtung Bremen steigen, begleitet von Beamten der Bundespolizei. In Hamburg wird wohl heute nicht viel los sein, denke ich mir. Wie ich mich täuschen sollte.

Plötzlich bemerke ich Tumulte auf Gleis 13. Schwarzgekleidete laufen hektisch durcheinander, es fliegen Flaschen und Böller, die Polizei geht dazwischen. Wer sich da mit wem prügelt, ist zunächst nicht ersichtlich. (Die Tagesschau zeigt abends Bilder davon—ebenso N24). Auf dem Bahnsteig treffe ich später Leute, die sich dort um reisende Flüchtlinge kümmern. Sie erzählen, dass im noch immer wartenden Zug nach Flensburg nicht nur Flüchtlinge, sondern auch Rechte gesessen hätten und zum Teil auch noch säßen. Antifas hätten versucht, sie aus dem Zug zu zerren. „So wie sich das für anständige Antifaschisten gehört”, sagt eine Frau, der man ihre Sympathie für Autonome nicht unbedingt ansieht.

Später taucht bei Indymedia ein Bericht auf, der das Ganze noch etwas drastischer schildert: „Kurz vor der geplanten Abfahrt des Zuges stürmte eine Gruppe von mindestens 50 Nazis die Treppen von der Südseite des HBF runter auf das Gleis und es entstand sofort eine massive Auseinandersetzung zwischen den Antifaschist_innen und den Neonazis”, steht dort. Die zuständige Bundespolizei will das auch am Tag danach so nicht bestätigen. „Über Flüchtlinge oder Personen ,rechter Gesinnung’ im Zug haben wir keinen Sachstand”, antwortet mir ihr Sprecher auf meine Anfrage.

Fans des Hamburger Fußballklubs HSV, die im inzwischen von der Bundespolizei bewachten Regionalzug stehen, machen zumindest optisch einen rechten Eindruck. Dachten sich wohl auch die Linken, die den Zug plötzlich von der anderen Seite massiv mit Steinen eindecken. Scheiben klirren und die Leute um mich herum gehen in Deckung. Die Flüchtlinge, die im selben Waggon wie die Hooligans—nur ein Abteil weiter—sitzen, machen anschließend zum Glück nicht den Eindruck, dass sie das alles nachhaltig verstört hätte. Mit ordentlich Verspätung fährt der Zug dann Richtung Flensburg ab—mit Flüchtlingen, Hooligans und gepanzerten Polizisten in einem Waggon.

Der Zugverkehr wird daraufhin gestoppt. Erst teilweise, dann im ganzen Bahnhof. Dort ist ja an normalen Tagen schon echt viel los—schließlich ist es der meistfrequentierte Bahnhof Deutschlands—jetzt aber ist oft kaum mehr ein Durchkommen möglich. In den Gängen und auf den Balkonen tummeln sich Hunderte oder vermutlich Tausende Leute, die gegen Neonazis protestieren wollen. Dazwischen immer wieder behelmte Polizisten, die manchmal Leute auf die Bahnsteige lassen, manchmal nicht. Die Lage ist extrem unübersichtlich und der Bahnhof zu diesem Zeitpunkt faktisch komplett lahmgelegt.

Und mittendrin immer wieder Flüchtlinge, die gerade in Hamburg angekommen sind oder weiterreisen wollen. Einer steht mit einem Schild in der Hand da, auf dem „Thank you, Germany” geschrieben steht. Zwei Männer erklären ihm, was hier eigentlich los ist. An einem „Refugee Welcome Infopoint” versuchen Freiwillige, nicht den Überblick zu verlieren. Sogar in diesem Chaos halten die Leute hier die Stellung und kümmern sich. In der Kantine des nahen Schauspielhauses sollen sogar 120 Flüchtlinge vorübergehend Zuflucht, Essen und Trinken bekommen haben.

In der Stadt gibt es zeitgleich noch andere, große Demos gegen Rechts. Vor dem Rathaus trafen sich 7.500 Menschen (alle Zahlen von der Polizei), um dem Bürgermeister zuzuhören und gemeinsam „Imagine” von John Lennon zu singen. Außerdem laufen 14.000 Menschen mit dem Bündnis gegen Rechts durch die Straßen.

Von denen drehen Tausende wieder um Richtung Bahnhof, als das Gerücht die Runde macht, ein Zug mit Neonazis sei auf dem Weg dorthin. Die Polizei versucht, sie daran zu hindern, wie mir Zeugen berichten. Allerdings mit mäßigem Erfolg, denn binnen kurzer Zeit stehen auch vor dem Bahnhof wieder 3.000 Leute. Sie wollen dort die Nazis in Empfang nehmen. Die Bundespolizei sagt, sie hätte einen Zug vor dem Hauptbahnhof gestoppt, weil darin Rechte gesessen haben sollen. Allerdings waren die Nazis offenbar vorher schon ausgestiegen. Und dann waren sie erst mal weg.

Später tauchen 34 rechte Hooligans im Bahnhof auf und greifen nach Polizeiangaben Linke an. Wo sie plötzlich her kamen, ist unklar. Die Polizei sammelt sie ein und versteckt sie hinter Polizeiketten in einer Ecke an der Nordseite des Bahnhofs. „Wir haben hier Nazis separiert und versuchen, sie wieder los zu werden”, sagt mir einer der Beamten. „Das war’s auch schon.” Durchlassen will er mich trotz Presseausweis leider nicht. Sein Kollege ein paar Meter weiter aber schon.

Lange Zeit weiß die Polizei nicht, wie sie die Neonazis aus dem Bahnhof kriegen soll. Denn faktisch sind sie von Tausenden Antifaschisten umstellt. Die rufen immer wieder Sprechchöre über die Polizeiketten—die Rechten antworten irgendwas mit „Hurensöhne”. Um 14 Uhr setzt die Polizei sie dann in eine S-Bahn und fährt sie nach eigenen Angaben in eine Gefangenensammelstelle. Langsam entspannt sich die Situation und auch die Züge fahren wieder.

Die Polizei gibt sich nach all dem erstaunlich gelassen. Von „ein paar kleinen Scharmützeln mit linken Demonstranten” spricht die Bundespolizei. Und die Landespolizei schreibt in ihrer Pressemitteilung ganz unaufgeregt: „Vereinzelt wurden Steine auf Polizisten und Einsatzfahrzeuge geworfen oder Böller gezündet, was zu kurzfristigen Wasserwerfereinsätzen führte.”

Fazit also: Weit mehr als 20.000 Leute demonstrierten gegen eine Handvoll Neonazis. Der Hamburger Hauptbahnhof ist über Stunden lahm gelegt—und die Polizei findet das nicht mal wirklich schlimm.