Im Jahr 2008 hat der UN-Sicherheitsrat die Resolution 1820 verabschiedet, die festhält, dass „Vergewaltigungen und andere Formen von sexueller Gewalt Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und eine Handlung, die den Tatbestand des Völkermords erfüllt, darstellen kann.” Mitte Dezember 2016 berichtete ein syrischer Rebellenführer, dass Frauen im Osten Aleppos lieber den Freitod wählen, als von Assads Truppen vergewaltigt zu werden und auch Gruppen wie Amnesty International warnen immer wieder vor den potenziellen Kriegsverbrechen, die in der besiegten Stadt verübt werden.
Wenn dem tatsächlich so ist, dann sind es solche wegweisenden rechtlichen Konventionen wie die Resolution 1820, mit deren Hilfe die Täter vor Gericht gebracht werden können. Das ist natürlich nur ein schwacher Trost für die Menschen, die von dem Konflikt direkt betroffen sind, aber für Helen Durham, die dazu beigetragen hat, dass Vergewaltigungen als Kriegsverbrechen eingestuft werden, stellt die Rechtsprechung einen integralen Bestandteil des Friedensprozesses dar.
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Ich treffe mich mit ihr, um mir erklären zu lassen, wie es zu dieser Einstufung kam und ob sich dadurch tatsächlich etwas an der grausamen Wirklichkeit des Krieges ändern wird.
„Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre war es wirklich ungeheuerlich, dass es keine klare Rechtsprechung gab, die Vergewaltigungen als Kriegsverbrechen einstuften”, sagt Durham. Sie ist Teil eines Zusammenschlusses von Anwälten und internationalen Menschenrechtlern, die sich seit Jahrzehnten dafür einsetzen, dass Vergewaltigungen als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft werden. Sie ist die erste Frau auf dem Posten des Director of International Law and Policy des Internationalen Komitee des Roten Kreuzes (ICRC). „Damals musste jemand aufstehen und sagen: ‚Es ist inakzeptabel, dass es eine wirksamere Strafverfolgung für die Zerstörung von kulturellem Eigentum gibt, als für die Zerstörung des weiblichen Körpers.”
„Doch das ist nun vorbei. Jetzt haben wir eine Rechtsprechung dafür”, sagt sie weiter. Der Kampf ist für sie allerdings noch nicht vorbei. „Was ist mit der Entschädigung [für Opfer]? Was ist mit Interessenvertretungen für Frauen? Wir können jetzt in ganzen neuen Dimensionen denken.”
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Die Geschichte von Vergewaltigungen als Kriegsverbrechen reicht weit zurück und erstreckt sich über viele Kulturen und Länder: Homers Illias öffnet mit einer Diskussion darüber, ob Vergewaltigungen als militärisches Mittel eingesetzt werden könnten. Am Ende der Zweiten Weltkriegs wurden Millionen von deutschen Frauen von den sowjetischen Soldaten vergewaltigt. Laut Ärzte ohne Grenzen nutzten serbische Truppen „systematische Vergewaltigungen als Teil ihrer Strategie zur ethnischen Säuberung” während dem Bosnienkrieg, sodass die Opfer „ein serbisches Baby gebären mussten.” Während dem Völkermord in Ruanda, zitierte die Vorsitzende des Global Justice Center, Akila Radhakrishnan, „war sexuelle Gewalt ein Schritt hin zur Vernichtung der Tutsi—ihres Geistes, ihres Lebenswillens und des Lebens selbst.” Nicht zuletzt wurden in jüngster Zeit bekannt, dass Anhänger des sogenannten Islamischen Staates im Irak und in Syrien Menschen zu Sexsklaven gemacht haben.
Kurz gesagt: Vergewaltigungen und sexuelle Gewalt sind schon viel zu lange ein akzeptierter Bestandteil der weltweiten Kriegsführung—obwohl es gegen den Artikel 27 der vierten Genfer Konvention verstößt.
Damit die Folgen von Vergewaltigungen und sexueller Gewalt als Kriegsverbrechen eingestuft werden konnten, hat Durham mit ihrer Kampagne Aussagen von weiblichen Flüchtlingen gesammelt, die in den neunziger Jahren nach dem Bosnienkrieg aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Australien geflohen sind. Sie und ihr Team legten dem Internationalen Strafgerichtshof Beweise vor, die die Vorwürfe stützten, dass diese Vergewaltigungsfälle Kriegsverbrechen darstellen und daher auch als solche verfolgt werden sollten.
Aber inwiefern macht es denn nun einen ganz konkreten Unterschied, ob ein Verbrechen als Kriegsverbrechen definiert wird oder nicht? Tatsächlich konnte 2016 zum ersten Mal eine Person vor dem Internationalen Gerichtshof wegen Vorwürfen der sexuellen Gewalt verurteilt werden. Im Juni wurde der Ex-Vizepräsident der ehemaligen Demokratischen Republik Kongo, Jean-Pierre Bemba, wegen fünf Fällen zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt—darunter auch ein Fall von Vergewaltigung, der als Kriegsverbrechen und ein Fall, der als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft wurde. Dabei handelte es sich um Verbrechen, die von seinen Truppen in der zentralafrikanischen Republik begangen wurden. Es mag über ein Jahrzehnt gedauert haben, bis dieses historische Urteil fallen konnte, doch es ist gefallen und wird in Zukunft hoffentlich auch als Präzedenzfall dienen.
„Als Vertreter des Humanitätsgedankens können wir nur das Bewusstsein für diese Probleme schaffen, um darüber zu diskutieren”, sagt Durham, als ich sie frage, wie die internationale Gemeinschaft gegen sexuelle Gewalt in Krisengebieten vorgehen kann. Die UN hat ihrerseits bereits eine Reihe von Empfehlungen nach vorne gebracht. Unter anderem wurden Experten für sexuelle Gesundheit in Krisengebiete entsandt, Entschädigungen und finanzielle Hilfen für Opfer zur Verfügung gestellt und verantwortliche Täter aus Regierungen entlassen.
In Durhams Augen liegt die Antwort darin, einen Zusammenhang zwischen Krieg und Frieden herzustellen. Sexuelle Gewalt in Konfliktzeiten, sagt sie, findet in keinem Vakuum statt—meist sind Vergewaltigungen der Schatten von sexueller Gewalt in Friedenszeiten.
Eine der Antworten, die mir einfallen würde, um eine humanere Behandlung von Frauen in Konflikten herbeizuführen, ist die Gleichstellung von Frauen in Friedenszeiten.
„Es gibt eine klare Hinweise darauf, dass die Behandlung von Frauen in manchen Fällen ein Warnsignal dafür darstellt, dass eine Gesellschaft in einen Konflikt abzugleiten droht und dass bewaffnete Konflikte bestehende Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft verschärfen”, sagt Durham. „Wir müssen sexuelle Gewalt als ganzheitliches Problem betrachten—in Friedenszeiten, vor Konflikten, nach Konflikten, zu jeder Zeit. Wenn ein Konflikt bestehende gesellschaftliche Ungerechtigkeiten verstärkt, dann ist das nichts, was unabhängig von der gesamtgesellschaftlichen Situation betrachtet werden kann. Das Ganze findet in Gesellschaften statt, wo der Hass zwischen Ethnien, Stämmen und Geschlechtern geschürt wird. Eine der Antworten, die mir einfallen würde, um eine humanere Behandlung von Frauen in Konflikten herbeizuführen, ist die Gleichstellung von Frauen in Friedenszeiten. Ich meine, das klingt so offensichtlich”, lacht Durham und schlägt die Hände über dem Kopf zusammen.
Sie warnt auch davor, dass wir vorsichtig sein sollten, wie wir über sexuelle Gewalt, Geschlechter und Opferrollen sprechen. „Vor zwanzig Jahren habe ich verzweifelt versucht sicherzustellen, dass Frauen in Konflikten Schutz finden”, sagt Durham. „Gleichzeitig war mir aber auch wichtig, dass ihre Belastbarkeit honoriert wird und sie nicht einfach nur als Opfer dargestellt werden […] Ich habe mich viel mit Konflikten in Asien, Afrika und dem Mittleren Osten beschäftigt sowie mit der Situation in Flüchtlingslagern und Gefangenschaft. Dabei habe ich festgestellte, dass Frauen in derartigen Situationen überaus widerstandsfähig sind. Man sagt, Frauen würden den halben Himmel tragen—aber ich sage, dass sie in Konflikten den gesamten Himmel tragen. Die meisten von ihnen sind erschöpft und trauern und dennoch halten sie die Gemeinschaft zusammen. Das muss genauso anerkannt werden wie die Tatsache, dass viele von ihnen Gewalt zum Opfer fallen.”
„Frauen und Mädchen sind diejenigen, die die kulturelle Identität bewahren: Wir sind die Geschichtenerzähler, wir erziehen unsere Kinder, wir bringen ihnen bei, wie sie sich zu verhalten haben”, erklärte mir Toyin Saraki, ehemalige Anwältin und First Lady von Kwara, einem Bundesstatt von Nigeria. Darüber hinaus ist sie als Vorstandsmitglied der Global Foundation for the Elimination of Domestic Violence tätig. „Wir werden von gewalttätigen Extremisten- und Terroristengruppen angegriffen, die unsere kulturelle Identität vernichten wollen.” Die Anerkennung der Rolle der Frauen als kulturelle, soziale, ökonomische und häusliche Wächter könnte uns auch dabei helfen, die Vorstellung zu überwinden, dass Frauen lediglich Opfer seien.”
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Außerdem werden während Konflikten auch längst nicht nur Frauen Opfer von sexueller Gewalt. Das ICRC merkt an, dass es hinreichende Beweise dafür gibt, dass auch Männer in Gefangenschaft Opfer sexueller Gewalt werden—als Form der Folter, im Rahmen von Initiationsritualen und an der Front. Daher unterscheidet die Organisation in ihren Publikationen mittlerweile ganz genau zwischen sexueller Gewalt gegen Frauen und Mädchen sowie gegen Männer und Jungen. „Die Debatte muss ausgeweitet werden, damit das Ganze nicht länger nur ein Frauenproblem bleibt”, sagt Durham. „Wir müssen offen darüber sprechen, dass auch Männer sexuelle Gewalt erleben und Lösungen finden, um dagegen vorzugehen.”
Dank ihrer Arbeit für eine bessere Rechtsprechung in Bezug auf sexuelle Gewalt in Kriegszeiten hat Durham—wie sie selbst sagt—„die Genfer Konvention entdeckt und war sofort verliebt.” Dort fand sie all die Ansätze, sagt sie, mit denen versucht werden sollte, das Leid in den womöglich schlimmsten Zeiten, die ein Mensch erleben kann, zu reduzieren. Laut einem neuen Bericht des ICRC sind angeblich auch acht von zehn befragten Menschen der Meinung, dass zwischen der Zivilbevölkerung und den Kämpfern unterschieden werden sollte. Wir erkennen die Menschlichkeit der anderen auch in Kriegszeiten und während Konflikten, in denen die Menschlichkeit verletzt, beschädigt und verdorben wirkt, an. „Die Genfer Konvention ist in meinen Augen ein klares Bekenntnis dazu, dass das, was uns vereint, größer und tiefgreifender ist als das, was uns voneinander unterscheidet”, sagt Durham lächelnd. „Es sagt uns, dass wir selbst in Kriegszeiten noch immer Menschen sind.”
Titelfoto: imago | Stefan Noebel-Heise