Lange galten psychische Erkrankungen als etwas Mythisches oder Unerklärliches und oftmals Unheilbares. Als Mitte des 20. Jahrhunderts die ersten Antidepressiva auf den Markt kamen, gab es plötzlich nicht nur eine wissenschaftliche Erklärung, sondern auch medizinische Hilfe für Betroffene. Trotzdem waren Psychotherapie und Psychopharmaka noch lange Zeit ein Tabu-Thema. Besonders in den letzten Jahren stieg das Interesse und somit auch die öffentliche Berichterstattung jedoch stark an. Und heute ist das Thema gesellschaftlich anerkannt und präsent wie nie. Diese Entwicklung kann auch Sylke-Maria Haack, Leiterin einer Selbsthilfegruppe zum Thema Depression in Deutschland, bestätigen: „In den letzten 10 Jahren ist die Hemmschwelle rapide gesunden, immer mehr Menschen sind bereit, ärztliche und auch medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen.” Dies ist auch oder gerade bei depressiven Jugendlichen ein Thema. Eine Studie der Universität Bremen ergab, dass 18 Prozent der deutschen Teenager schon einmal unter einer depressiven Phase gelitten haben. Und die Studie Health at Glance hat herausgefunden, dass ungefähr 8 Prozent der Europäer Antidepressiva nehmen. Deutschland liegt im internationalen Vergleich zwar nur auf Rang 11, aber trotzdem kommen wir immer noch auf 56 Pillen pro Tag auf 1.000 Einwohner.
Sobald es nicht mehr nur Phasen sind, sondern die Depression beginnt, Leben und Alltag zu bestimmen, stellt sich die Frage: Medikamentöse Unterstützung ja oder nein? Unsere Autorin hat sich jahrelang dagegen gewehrt. Mittlerweile nimmt sie seit fast zwei Jahren Citalopram, Deutschlands meistverschriebenes Psychopharmakon. Uns erzählt sie von ihrer jahrelangen Suche nach der richtigen Behandlung und wie die Einnahme von Antidepressiva ihr Leben verändert hat.
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Seit ich Antidepressiva nehme, geht es mir besser.
Es ging mir auch vorher OK, eigentlich ähnlich wie jetzt, nur bestand latent das Potenzial, in eine Depression zu fallen. Das Antidepressivum nimmt mir diese Möglichkeit, entfernt alle Vasen und Bilder und Messer aus dem Haus, in dem mein Kopf wohnt. Ich kann nichts mehr schmeißen, meine Fäuste sind gebunden, meine Beine auch ein bisschen, ich schade niemandem mehr—weder mir noch anderen. Denn das tat ich, als ich die Tabletten noch nicht nahm.
Ich erlebe trotzdem noch Tage und Wochen, in denen ich „Pyjamazeit” habe, wie ich sie nenne. Dass ich mir an jenen Tagen nichts anziehen mag, ist ein Symptom einer schlechten Phase. Die Vorstellung davon, in eine Jeans zu schlüpfen und einen BH an meinem Körper zu spüren, ist dann unerträglich. Stehen, gehen, telefonieren—alles schlimm. Alles, was zivilisiert. Alles, was mich über mich selber nachdenken lässt. Ich habe einmal während einer schlechten Phase das Gesamtwerk von Mary Higgins Clark gelesen. Das war für mich zu der Zeit wie Science-Fiction, so weit weg von jeglicher meiner Realitäten, so banal und kitschig sind ihre Größe-34-Heldinnen, die gleichzeitig von Polizisten und Massenmördern (vielleicht sind sie die gleiche Person?) gestalkt werden.
Vor den Tabletten war ich fies. Gemein. Traurig. Zu emotional. Ich war mit Worten und aber auch mit physischer Gewalt unkontrolliert. Ich schlug Leuten ins Gesicht. Ich rempelte als 16-Jährige meine beste Freundin ziemlich grob an, weil ich mit Worten nicht weiterkam. Es bedeutete alles viel zu viel; ich spürte so viel. Es war manchmal wunderschön, so viel zu fühlen, aber so empfindlich du für Schönes bist, so empfindlich bist du dann auch für Schlechtes.
Angefangen hat alles im Gymnasium. Ich entwickelte eine leichte Essstörung. Nichts Gefährliches, aber trotzdem uncool genug, um von meinen Eltern zu einer Psychiaterin geschickt zu werden. Da ging es dann nur darum zu reden, mich zu wiegen und ein Ess-Tagebuch zu führen. Ich mochte die Psychiaterin nicht. Ich wusste immer schon vorher, was sie gleich fragen/entgegnen würde. Die Sitzungen waren in ihrem Ablauf sehr vorhersehbar. Ich wollte jemanden, der andere Fragen stellte, solche, die ich nicht schon tausend Mal gehört hatte und die ich mir als nicht ganz so dummer Mensch nicht auch schon selber gestellt hatte.
Das Problem mit dem Essen ging zwei Jahre später in ein anderes Problem über. Besser gesagt: Jetzt hatte ich zwei Probleme, sie lösten sich nicht ab. Problem Nummer zwei war mein überdurchschnittlich hoher Pornokonsum. Ich war 17, ich war ein Mädchen, und mein Ex-Freund, der meine Filmchen entdeckt hatte, hatte mich schreiend eine dreckige Fotze genannt. Vielleicht auch, weil ich mich im gleichen Atemzug von ihm getrennt habe. Auf jeden Fall deckte er etwas auf, das bis dahin nur mir gehört hatte. Mich und die Pornografie. Ich hatte nie in Frage gestellt, dass es merkwürdig für ein junges Mädchen sein könnte, es geil zu finden, wenn Leute zum Orgasmus gezwungen werden. Doch auf ein Mal sah ich mich als Böses inmitten von guten Leuten.
Ich ging zu einer Sexualpsychotherapeutin. Es war OK. Ich lernte, dass es in Ordnung ist, Pornos zu schauen, und dass ich mich dafür nicht schämen sollte. Nicht dreckig fühlen sollte. Was ich aber ab dem Zeitpunkt immer ein bisschen tat. Ich fühlte mich körperlich dreckig (Binge-eating) und gedanklich dreckig (Pornos). Eine wahrlich erniedrigende Kombination für einen Teenager.
Doch Antidepressiva waren nie ein Thema. Ich ging zu Therapiesitzungen und versuchte, mir nach außen nichts anmerken zu lassen. Ich ging zur Schule, machte meinen Job, traf meine Freunde. Die wenigsten wussten, wie es mir wirklich ging.
Viel viel später—beide Themen waren irgendwo versickert (aber nicht verschwunden)—lernte ich Ben kennen. Er war ein alter Schulfreund von mir, den ich eines Nachts im Club zufällig wieder getroffen hatte. Er war perfekt. Smart, Single, interessant, interessiert und es war ihm scheißegal, dass ich Hände habe wie ein Werftarbeiter. Es war drei Monate lang das pure Glück. Doch in Monat vier habe ich mich von ihm getrennt. Weil ich nichts mehr spürte. Ich hatte eventuell alle meine Gefühle für ihn aufgebraucht, was weiß ich, aber ich wusste auf einmal: Ich kann nicht mehr.
Diese Trennung, obwohl sie von mir aus kam, hat mich ruiniert. Ich habe unfreiwillig eine Kleidergröße abgenommen, ich bin aus meiner Stadtwohnung zu meinen Eltern gezogen und musste mich bei der Uni krankschreiben lassen. Ich wollte mit niemandem außer meinen Eltern und meiner Schwester sprechen. Ich hatte keinen Besuch. Meine einzigen Berührungen mit der Außenwelt waren die paar Psychiatersitzungen. Und hier, endlich, verschrieb man mir das Antidepressivum. Ich musste einen Bogen ausfüllen, der dem Psychiater dann sagen konnte, wie „krank” ich sei. „Krank” genug für die Tabletten.
Ich nehme seither eine ziemlich durchschnittliche Dosis Citalopram (20mg), täglich, morgens. Ich glaube, ich nehme sie nun schon über zwei Jahre. Ich bin jetzt 28. Und klar frage ich mich manchmal, ob ich einen Teil von mir verpasse. Ob ich mich durch die Abstumpfung, die mit den Tabletten einhergeht, in meiner Gefühlswelt zu sehr eindämme. Ob ich etwas vermissen werde, später, wenn ich merke, wie egal mir vieles war und wie lethargisch mich das AD machte. Wie viel Sex ich nicht hatte. Wie viele Menschen ich nicht angesprochen habe. Wie oft ich nicht zurücklieben konnte. Wie wenig ich weinte, als meine Oma starb. Wie unbekümmert ich Menschen verließ.
Die amerikanische Presse schreibt immer wieder gerne Artikel darüber, was für eine Modedroge doch das Antidepressivum sei, und dass es vor allem jungen Frauen zu schnell und oft verschrieben wird. Wenn ich diese Artikel lese, höre ich immer wieder meine Freundin Tara im Hinterkopf, die mir einmal sagte: „Es ist OK, Dinge zu spüren und traurig zu sein, sehr traurig zu sein.” Diese banale Aussage lässt mich meinen Tablettenkonsum von Zeit zu Zeit in Frage stellen. Wann ist man depressiv? Wo ist die Grenze zwischen extremem Traurigsein und Depressivsein? Wann ist ein Medikament nötig? Nehme ich mit meinen Tabletten den einfachen Weg? Ist das Antidepressivum ein Mittel für Menschen, die zu schwach sind, um mit ihren Gefühlen klar zu kommen? Ist es die Taxifahrt, die man sich leistet, weil man keine fünf Minuten auf den Bus warten will?
Meine Mama sagt: Sei froh, dass es etwas gibt, das dir hilft. Denn tatsächlich hat nicht jeder Depressive das Glück, ein Medikament zu finden, das gut andockt.
Es geht mir gut, das weiß ich, deswegen denke ich auch ziemlich selten über ein Absetzen nach. Aber trotzdem, natürlich, kommt es vor. Ich habe schon etwa dreimal versucht, das Zeug abzusetzen. Die Ärzte sagen: „Wenn Sie sich mal richtig gut fühlen, versuchen Sie, die Dosis zu reduzieren.” Klingt logisch. Doch um die guten Phasen geht es ja nicht. Jedes Mal, wenn ich einen Versuch wagte, merkte ich, wie unsicher ich wurde. Wie gefährlich nahe mir auf einmal alles ging. Vielleicht sollte es sich so anfühlen? Bin ich krank oder einfach gefühlsfaul? Woran erkenne ich, wieviel Gefühl OK ist?
Wenn ich Menschen erzähle, dass ich Antidepressiva nehme, fragen sie oft, wie lange ich sie noch nehmen will. Für sie ist das AD wie eine Ibuprofen, man nimmt sie bei punktuell auftretenden Schmerzen. Es ist für sie schwer zu verstehen, dass es nicht darum geht, einen ständigen Schmerz zu dämmen, sondern das Potenzial, unerträgliche Schmerzen zu spüren, zu beseitigen. Das klingt jetzt als wäre ich ein Panzergrenadier, der auf Morphium ist, weil er weiß, er könnte angeschossen werden. Nun, die Möglichkeit, in ein Loch zu fallen, ist für viele Depressive im Alltag untragbar. Ich weiß zum Beispiel, wenn ich in eine Depression fiele, könnte ich nicht arbeiten. Ich würde keine sozialen Kontakte mehr pflegen. Ich würde nicht mehr essen, ich würde meine Augenbrauen nicht mehr zupfen und ich würde sehr, sehr viel Zeit im Liegen verbringen. Das will ich alles nicht riskieren, obwohl ich als Frida Kahlo top aussehen würde. Als ich nach Ben in die große Depression fiel, brach ich die Uni ab. Diese Entscheidung hat mein Leben verändert. Es ist schlussendlich alles gut geworden, das hat das Leben so an sich, nur wäre vieles anders gelaufen, wäre ich damals schon auf Tabletten gewesen. Ich hätte über dem Ganzen gestanden, hätte privat getrauert, aber die Priorität „Ausbildung” beibehalten.
Es geht mir wirklich gut, meistens. Für Tage, an denen auch das Citalopram nicht hilft, geben einem die Psychiater gerne Temesta an die Hand. Temesta beinhaltet den Wirkstoff Lorazepam, der ansgstlösend, schlafffördernd und beruhigend ist. Trivia: Temesta ist eine Notfalldroge. Sie macht sehr schnell abhängig, und offenbar sind die Entzugserscheinungen bei einer Abhängigkeit schlimmer als diejenigen von Heroin. Ich habe immer welche dabei. Obwohl ich manchmal monate- oder jahrelang ohne Temesta auskomme, kommt bestimmt immer ein Moment, wo ich dem lieben Herrn dafür danke, dass ich mich mit Temesta in ziemlich kurzer Zeit in einen Zustand des OK-Seins (der meistens mit Schlafen gleichzusetzen ist) katapultieren kann. So rechtfertige ich meinen Antidepressiva-Konsum vor mir selbst—und auch vor Anderen.
Ich weiß, dass ich irgendwann wieder ohne sein will. Ich glaube, wenn ich das nicht anstreben würde, wäre mir nicht zu helfen.
Titelfoto: e-Magine Art | Flickr | CC BY 2.0