Am Sonntag gewann der von Marine Le Pen geführte Front National rund 30 Prozent bei den Regionalwahlen in Frankreich. Damit hat eine Partei, die von der großen Mehrheit der Beobachter als „rechtsextrem” eingestuft wird, den klaren Sieg davongetragen—vor dem konservativen Bündnis von Nicolas Sarkozy (27 Prozent) und dem Linksbündnis des Präsidenten François Hollande (23 Prozent).
Immerhin: Das war nur die erste Wahlrunde, bei der außerdem fast 50 Prozent der französischen Wähler nicht mit abgestimmt haben. Es ist deshalb nicht unwahrscheinlich, dass die Gegner der Rechten sich noch einmal einen Ruck geben und sich in der zweiten Runde geschlossen hinter eine andere Partei stellen, nur um den Aufstieg des Front National zu verhindern. Das hat bei den Wahlen zur Nationalversammlung 2002 schon einmal geklappt.
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Trotzdem ist dieser Sieg ein beängstigendes Signal. In deutschsprachigen Zeitungen beschwört man schon eine dunkle Zukunft herauf, in der Marine Le Pen die französische Präsidentin ist und Frankreich, eines der Gründungsländer der EU, sich aus dem europäischen Staatenbund verabschiedet. Aber wie konnte es überhaupt so weit kommen? Warum wählen 30 Prozent der Franzosen eine Partei, deren Gründer Auschwitz für ein „Detail der Geschichte” hält?
Um mir das erklären zu lassen, habe ich unseren Kollegen Julien Morel von VICE Frankreich gefragt. Hier sind seine Antworten:
VICE: Wie sehr ist dieses Ergebnis von den Anschlägen in Paris beeinflusst? Gibt es noch andere Faktoren, die da reinspielen?
Julien Morel (auch VICE): Es ist schwer, das genau zu sagen, weil es dazu keine Zahlen gibt, aber ich würde sagen: Ja, das hat das Ergebnis beeinflusst. Wenn man die Umfragen vor und nach den Anschlägen nimmt, sieht man sicher einen Anstieg von Leuten, die sagen: „Wegen dieser Terroristen wähle ich die Rechtsextremen.”
Aber der wichtigste Faktor im einmaligen Aufstieg des FN sind natürlich die Konsequenzen der Weltwirtschaftskrise. Es hat die nördliche Region, wo die meiste französische Industrie angesiedelt war, besonders hart getroffen. In den letzten zehn Jahren konnte man beobachten, wie die Regionen, die sonst—aus Familientradition—für die sozialistischen und kommunistische Parteien gestimmt haben, jetzt alle für den FN sind.
Der zweite Faktor ist dieses klassische Argument: „Die Linken und die Rechten [in Frankreich werden auch konservative Parteien als ‚rechts’ bezeichnet] tun das Gleiche für mich: nichts.” Der dritte Faktor ist die mangelnde Wahlbeteiligung: Gestern hat die Hälfte der Bevölkerung nicht gewählt. Und der vierte Faktor wäre dann die Angst vor der „Islamisierung Frankreichs”, in der sich der alte, im Verborgenen gärende Rassismus des ländlichen Frankreich manifestiert.
In den Städten, die 90 Prozent der Migranten aufnehmen, wird der Front National meist nicht gewählt. Weil es in den Städten viele Jobs gibt. Es ist die Mitte Frankreichs, wo es kaum Karrieremöglichkeiten mehr gibt, die für sie stimmt.
In den deutschen Medien wird der Front National gemeinhin als „rechtsextrem” bezeichnet. Ist diese Bezeichnung gerechtfertigt?
Das ist gerechtfertigt, natürlich. Erstens geschichtlich: Die Partei wurde von jemandem gegründet, der im Algerienkrieg arabische Kämpfer gefoltert hat: Jean-Marie Le Pen. Derselbe Typ hat in den 80ern gesagt, dass die Gaskammern „ein Detail der Geschichte” seien. Es ist eine Partei, die aktiv gegen den Bau von Moscheen kämpft und rassistische Direktiven in den Städten erlässt, in denen sie regiert. Der Sicherheitsdienst bei ihren Demos wird von ehemaligen rechtsextremen Skinheads gestellt.
Die Tochter, Marine Le Pen, hat sich in den letzten fünf Jahren sehr angestrengt, um die Partei salonfähig zu machen. Sie hat ein paar der bekanntesten Rassisten gefeuert—darunter ihren Vater—und ein paar offen homosexuelle Leute in Führungspositionen gebracht. Aber es ist am Ende dasselbe Programm: Islam, Banlieues, Vorteile für Weiße, Sicherheit, „Links und Rechts sind das Gleiche, wir sind die echte Veränderung”, etc.
Haben sie ihre Positionen irgendwie aufgeweicht, seit sie mehr Wähler haben?
Nicht wirklich, würde ich sagen. Es geht nur darum, die Partei „ungefährlich” und politisch korrekt aussehen zu lassen, das war’s. In den 80ern und 90ern wurden sie klar als Neonazis gesehen. Weil Marine eine Frau und etwas offener ist, was Homosexualität und Wirtschaft angeht, ist sie natürlich viel verträglicher als ein Einäugiger, der Araber verprügelt hat und sich selbst „der französische Reagan” nennt. Ein gutes Zeichen ist das aber nicht wirklich: Marine ist ihre beste Chance, um an die Macht zu kommen. Sie haben sie genommen, und was Wahlergebnisse angeht, hat es funktioniert.
Reden Vater und Tochter eigentlich noch miteinander?
Nein, wenn man von ihren Twitter-Posts ausgeht, ist das unmöglich. Der alte Mann ist voller Wut, und das meiste davon bekommt seine Tochter ab, die ihn Anfang des Jahres gefeuert hat. Er benimmt sich jetzt vollends wie ein alter Verrückter: Er sagt die rassistischsten und dümmsten Sachen, die er kann—um Marine das Leben schwer zu machen. Ziemlich witzig eigentlich.
Hat ihr Aufstieg die französische Gesellschaft polarisiert? Gibt es zum Beispiel wirklich so einen Unterschied zwischen Stadt und Land?
Ja, ziemlich. Aber es ist nicht so einfach, es gibt viele lokale Ausnahmen. Die Bretagne ist zum Beispiel ziemlich ländlich, aber die Menschen da haben eher links gewählt, wie seit jeher. Und das obwohl sie die Ersten waren, die die Krise zu spüren bekommen haben. Und in der Provence und im Südwesten, wo der FN am höchsten gewonnen hat, gibt es viele Städte: Cannes, Nice, Toulon, Marseille und so weiter. Und obwohl da alle reich sind—außer Marseille—, ist das seit 20 Jahren die größte Bastion des FN. Die ganze Region ist halt voller Arschlöcher.
Was für Auswirkungen wird das auf die französische Gesellschaft haben? Könnten ihre Positionen jetzt gesellschaftsfähiger werden?
Nein, werden sie nicht. Es ist eigentlich wahrscheinlicher, dass sie am Ende keine Region gewinnen, weil die meisten Franzosen in der zweiten Runde gegen sie stimmen werden—da geht es um 70 Prozent der Bevölkerung, ohne die 50 Prozent Wahlverweigerer zu zählen. Das Problem ist nur, dass die Medien jetzt über sie sprechen und sie in Talkshows einladen müssen. Sie sind jetzt sehr, sehr sichtbar geworden.
Was könnte das für Europa bedeuten?
Ich glaube, das bedeutet erstens, dass die EU, so wie wir sie gebaut haben, überhaupt nicht so funktioniert wie gehofft. Und zweitens: Jede wirtschaftliche Krise in der Geschichte hat zu politischen Katastrophen oder Kriegen geführt, und das erleben wir gerade. Der beste Weg, den Aufstieg der Rechtsextremen zu stoppen, wäre, zuerst die Krise zu beenden. Indem wir zum Beispiel Griechenland am Leben lassen. Zu allen fair sind.
Hat Marine Le Pen eine realistische Chance, die nächste Präsidentschaftswahl zu gewinnen?
Nein, überhaupt keine. Wie gesagt, wenn der FN in die zweite Wahlrunde kommt, egal bei welcher Wahl, stimmen alle gegen sie, genau wie 2002. So blöd sind wir nicht. Aber das echte Problem—und es ist schwer zu vermitteln, wie schlimm das ist—ist, dass wir kurz davor stehen, zum zweiten Mal Nicolas Sarkozy zum Präsidenten zu bekommen. Ich kann das schon riechen. Genau wie wenn man Bush zum zweiten Mal bekommt, oder Reagan. Ein Albtraum, echt. Und sehr schade für uns. Sollten wir nicht die große Nation der Menschenrechte, der Résistance und der Literatur und so sein?
Was denkst du, was man gegen den weiteren Aufstieg des FN unternehmen kann?
Zuerst muss unser Präsident Hollande aktiv darüber nachdenken, wie er ein echtes Linksprogramm auf die Beine stellen kann, bevor er abgeht. Ich weiß, dass es nicht passieren wird, aber wenn er tatsächlich nur 40 Prozent von dem tun würde, wofür die Menschen ihn 2012 gewählt haben, könnte es für die Linke klappen. Aber er ist im Moment zu sehr damit beschäftigt, Bomben auf den IS zu werfen, deshalb habe ich da meine Zweifel.
Zweitens muss er für die Jugend sprechen. Die Anzahl der 18- bis 35-Jährigen, die am Sonntag FN gewählt haben, ist völlig verrückt. Wenn der Typ seinen Job gut macht und junge Leute wieder für Politik und Engagement interessieren kann—die und die Nichtwähler, die im Grunde aus derselben Altersgruppe kommen—, könnten wir von einer weniger grauen Zukunft träumen. Bis jetzt sieht es aber mehr nach Sarkozy aus.