Eigentlich sollte es ein ganz normaler Billigwein-Test der VICE-Redaktion werden. Ganz gemütlich ein paar Flaschen ekelhaften Alkohols entkorken, sie nacheinander probieren, die Ergebnisse in ein Bewertungssystem eintragen, sich bei den letzten paar Flaschen lallend in den Armen liegen und mit Kugelschreibern gegenseitig die Vornamen eintätowieren. Ein ganz großartiger Abend im Dienste unserer Tetrapack-trinkenden Leserschaft also, auf den wir uns alle schon sehr gefreut hatten. Nur hatten wir die Rechnung ohne den Wirt gemacht—im wahrsten Sinne des Wortes.
Irgendjemand war nämlich im Vorfeld auf die Idee gekommen, zu unserer Billigwein-Probe einen richtigen Sommelier einzuladen, auf dass er ein bisschen Professionalität in die Sache bringe. Die Wahl fiel auf Billy Wagner, der vor kurzem das vielbeachtete Restaurant Nobelhart & Schmutzig in Berlin aufgemacht hat. Er ist einer der heißesten Shootingstars der Berliner Gastro-Szene, und wir wussten von der Munchies-Redaktion, dass er auch mal für unkonventionelle Sachen zu haben ist. Billy reagierte zwar äußerst skeptisch auf die Anfrage, sagte aber zu, uns zwei Stunden seiner Zeit und Weisheit zu schenken. Zu diesem Zeitpunkt ahnte noch keiner von uns, wie sehr der “Popstar unter den Weinkennern” (Zeit) uns unseren Abend umkrempeln würde.
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Aber der Reihe nach: Voller Vorfreude schickten wir die Praktikanten los, um die untersten Fächer in den Weinregalen der Supermärkte zu plündern, während wir nach Anleitungen für professionelle Degustationen googelten. Schnell verwarfen wir so exotische Kriterien wie “Bukett”, “Tannine” oder “adstringierend” und einigten uns auf vier zu bewertende Eigenschaften: Farbe, Reinheit, Geruch, Geschmack. Als die Praktikanten mit über 20 bunten Flaschen und Tetrapacks zurückkamen, war die Vorfreude groß. Wir erwarteten die Ankunft unseres Sommeliers, aufgekratzt wie alkoholkranke Schulkinder.
Als Billy kam, schien er von unserer schillernden Auswahl allerdings alles andere als beeindruckt. Mit offenem Missfallen begutachtete er die billigen Etiketten und eröffnete uns, dass wir für eine ordentliche Degustation viel zu viel Weine hätten. “Weil ihr das nicht gewohnt seid, solltet ihr eigentlich nicht mehr als sechs Weine trinken”, grummelte er. “Ich als Profi kann an die 30 Weine durchprobieren, aber der normale Trinker ist da schon total abgestumpft.” Wir einigten uns schließlich darauf, uns auf sechs rote und sechs weiße Weine zu beschränken. Mittlerweile hatten sich alle Tester versammelt und machten sich fröhlich schwatzend über die bereitgestellten Snacks her.
“Ihr könnt jetzt auch mal aufhören zu fressen, sonst schmeckt ihr gleich gar nichts mehr”, ließ uns Billys polternder Befehlston zusammenzucken. “Und wenn ihr so trinkt, seht ihr aus wie die letzten Vollidioten. Das ist ein Weinglas, das wird am Stiel gehalten, OK?” Eine Kollegin nahm ihren ganzen Mut zusammen und fragte, wieso. “Wenn du das Glas mit deinen fettigen Fingern die ganze Zeit oben angreift”, belehrte sie der Meister, “dann schaut das irgendwann aus, als hättest du Crack drin geraucht. Das ist eine Unart.” Sie verstummte.
Langsam dämmerte uns, dass Billy das hier sehr ernst nahm. Aber um so besser, wir wollten schließlich auch was lernen! Folgsam schwenkten wir unsere Gläser mit dem ersten Wein, einen 2014er Lambrusco der Firma Salamino S. Croce (2,49 Euro bei Lidl), damit sich der Geruch des Weines im Glas richtig entfalten konnte. Zuerst mussten wir aber noch “visuellen Kontakt zum Wein aufnehmen”, um die Farbe und Reinheit des Getränks zu beurteilen. Der Lambrusco sah aus wie Schiwasser mit Spülmittel (“ein fast nuttiges Rot”, fand Billy). Danach steckten wir unsere Nasen tief in die Gläser und schnüffelten konzentriert. Der Wein roch chemisch, süß nach Kopfweh. “Wenn ihr dran gerochen habt, ist es ist wichtig, dass ihr denkt, dass ihr das in den Mund nehmen möchtet—ansonsten lasst es bitte”, mahnte Billy. “Ach, wir hatten alle schon schlimmere Sachen im Mund!”, versuchte eine Kollegin, einen Witz zu machen. Der Sommelier starrte sie an, als sei sie geistesgestört.
Die Kollegen wurden langsam ungeduldig, sie wollten das Zeug ja trinken. “Saufen wir jetzt, ja?”, fasste einer die Stimmung zusammen. Auch ihn strafte Billy mit eisigem Blick. “Nehmt einen ordentlichen Schluck und lasst ihn im Mund kreisen, wie bei der Mundspülung morgens”, wies er an. Wir setzten an, und für ein paar Sekunden war nur Schmatzen zu hören, dicht gefolgt von dem schönen Geräusch, das neun Münder verursachen, wenn sie fast gleichzeitig Wein in Bottiche spucken. Der Wein schmeckte erwartungsgemäß schlecht. “Der Wein hat keinerlei Tiefe und keinerlei Länge”, urteilte Billy. “Und er hat was sehr Unangenehmes, vom Trinkfluss her—diese Säure, gleichzeitig diese Süße.” Im Nobelhart & Schmutzig wird man den Lambrusco von Lidl also auch in Zukunft nicht finden.
Aber das ist natürlich auch nicht die Zielgruppe dieser Weine. Mit 2,49 Euro gehörte der Lambrusco zu den absolut teuersten in unserer Auswahl, für andere der Weine haben wir gerade einmal 99 Cent ausgegeben. Um so billig verkaufen zu können, machen die Produzenten natürlich enorme Abstriche bei der Produktion. Billy rechnete uns das vor: “Allein die Flasche kostet 1,50, vielleicht zwei Euro. Dann zieh noch die Herstellung, die Verpackung, das Etikett, den Transportweg, die Steuer und die Marge des Händlers ab. Da bleibt bei 2,49 eigentlich nichts übrig, das funktioniert nur über die Menge.”
Und diese Menge können nur riesige Betriebe, sogenannte Kellereien, überhaupt herstellen. Dazu kaufen sie tausende Liter Wein aus dem ganzen Land oder sogar Kontinent zusammen, und panschen dann nach genau bestimmten Mischungsverhältnissen den Wein zusammen. Manchmal kaufen die Kellereien sogar unfertigen Traubensaft, den sie dann in kürzester Zeit zu Wein vergären. “Das hat alles nichts mit Weinkeller-Romantik zu tun”, erklärt Billy. “Was wir hier trinken, ist ein hoch industrialisiertes Produkt, da geht es nur um Effizienz.” Im Endeffekt kommt dabei heraus, dass der Korken bei manchen Flaschen, der 15 Cent kostet, mehr wert ist als der Wein selbst.
Der zweite Wein, ein sogenannter Vino Tinto der Marke “Espana” (1,59 Euro bei Lidl), stieß auf noch weniger Gegenliebe als der erste. Die Urteile reichten von “Ganz böse, Alter”, über “Erinnert mich an mein erstes Mal Kotzen von Korea“, bis hin zu “sehr, sehr, sehr ekelhaft”. Billy war derselben Meinung: “Jetzt wisst ihr, wieso ihr spucken sollt, oder? Sowas regt Erbrechen an bei mir.” Billys ohnehin schlechte Laune verschlechterte sich weiter. “Wenn man sich vorstellt, dass das eigentlich mal eine Traube, eine Frucht, war, dann ist das völlig daneben. Da ist alles schiefgegangen, was schiefgehen kann.”
Dass sich ein Sommelier über das ganze Billigwein-Geschäft ärgert, ist nachvollziehbar. Trotzdem reagieren die Hersteller natürlich nur auf die Nachfrage der Kunden: Supermärkte und Discounter verkaufen drei von vier Weinflaschen in Deutschland. Der Durchschnittspreis pro Liter liegt laut des Deutschen Weininstituts bei 2,97 Euro. Eine Katastrophe, findet Billy. Wenn es nach ihm ginge, würde man eben weniger, aber besseren Wein trinken, wenn man nicht ganz so dick bei Kasse ist. Oder Bier.
Einige der Kollegen schauen skeptisch. “Aber für fünf Euro kann ich doch einen Wein kriegen, der OK ist und kein Kopfweh macht, oder?”, will eine Kollegin wissen. “Warum würdest du das tun wollen?” schüttelt Billy den Kopf. “Bei Handys will jeder das Beste haben. Aber Wein kommt in deinen Körper! Wieso schüttest du da was rein, was nur ‘OK’ ist?” Man merkt, dass das Thema den Sommelier wirklich wütend macht. “Es hört doch auch keiner gerne Musik, die er scheiße findet! Man muss den Leuten auch mal sagen, wenn sie Scheiße trinken!”, schimpft er, während er den “König Arthur Rotwein” aus der Republik Moldau (1,59 Euro bei Aldi) ausschenkt.
Dieser Wein wurde von der taz mal als “halbwegs trinkbar” eingestuft. “Riecht wie der Obdachlose in der U-Bahn und schmeckt noch schlimmer!” notiert eine Kollegin auf ihrem Bewertungsbogen. Eine andere schreibt einfach nur “eieiei!”. Mittlerweile haben wir einen guten Rhythmus gefunden: Billy verteilt die Weine, wir schwenken, schnüffeln und trinken und notieren geflissentlich unsere Benotung, und danach erklärt Billy uns, warum er den Wein hasst. Obwohl wir das meiste wieder ausspucken, nehmen wir dabei trotzdem genug Alkohol auf und sind schon etwas ausgelassener, als wir nach sechs Flaschen grässlichem Rotwein zum grauslichen Weißwein übergehen.
Bei Billy löst der Wein immer neue Aggressionsschübe aus. Mittlerweile sind wir beim Thema Essen angekommen. Auch hier sieht er dieselbe Misere: Die Leute wollen kein Geld für gutes Essen ausgeben, also fressen sie Scheiße. “Was ist, wenn man eben kein Geld hat, um sich Bio-Hähnchen für 15 Euro zu kaufen?”, will ein Kollege wissen. “Dann kaufst du dir halt kein Bio-Hähnchen, dann nimmst du halt kein Fleisch, sondern Gemüse, fertig!”, poltert Billy. “Am Ende verprügelt uns der Sommelier alle”, kichert eine Kollegin. “Einer muss es ja machen”, grummelt Billy in seinen Bart.
Um guten Wein zu trinken, muss man trotzdem nicht reich sein, erklärt er. Man kann sich an eine einfache Regel halten: Einfach Wein ab zehn Euro kaufen, und nicht im Supermarkt, sondern immer im Weinladen. “Da arbeitet jemand, der will dir guten Wein verkaufen”, erklärt er uns. “Und du wirst merken: Je mehr besseren Wein du trinkst, desto schwieriger wird es, so eine Plörre in dich reinzuschütten.”—”Deshalb will ich ja auch erst mit 35 anfangen, gute Weine zu trinken, da hab ich dann noch Luft nach oben!”, flötet eine Kollegin. Billy sieht kurz so aus, als würde er sie gleich mit dem Korkenzieher tranchieren.
Mittlerweile näherten wir uns den letzten Flaschen. Eigentlich waren sie alle ziemlich grauenhaft, wobei die weißen aber leichter zu trinken waren, weil sie gekühlt waren. Trotzdem konnten wir uns auf einen Wein einigen, den wir alle “am wenigsten widerlich” fanden: den “Rivaner Weisser Burgunder” (1,79 Euro bei Aldi). “Es riecht zumindest wie Wein”, konnte auch Billy sich zu einer minimalen Anerkennung durchringen. “Von den Sachen, die wir probiert haben, definitiv das Beste”. Zu einem Foto mit dem Gewinner mussten wir ihn trotzdem zwingen. Das folgende Bild stellt also in keiner Weise eine Empfehlung Billy Wagners für den Aldi-Wein dar.
Danach wurde es auch nicht mehr besser, und wir waren alle froh, als wir die zwölf Weine endlich ausführlich durchgetrunken hatten. Auch Billy war nach seiner anderthalbstündigen Tour de Force durch die würgreizende Welt des Billigweins erschöpft; am Ende fehlte ihm selbst die Kraft, uns weiter zu beschimpfen. Nach dem letzten Wein schüttelte er uns allen die Hände und zog davon wie ein Mann, der alles versucht—und trotzdem starke Zweifel hegt, dass er irgendetwas erreicht hat.
Aber er hat unrecht. Haben wir uns direkt nach seinem Abgang erleichtert auf die grässlichen Weine gestürzt, um sie endlich nach Herzenslust runterschlucken zu können, ohne dem grimmigen Blick des Spezialisten ausgesetzt zu sein? Natürlich. Aber trotzdem hat Billy uns die Augen dafür geöffnet, dass guter Wein sich lohnt. Wir müssen nicht zu absoluten Wein-Snobs werden und auch nicht unbedingt wissen, was Tannine sind, um zu verstehen, dass es da draußen Menschen gibt, die viel Arbeit und Liebe in ihre Produkte stecken—egal ob das Wein, Essen oder Demolisher-Nerf-Guns sind. Wenn wir diese Leute dadurch unterstützen, dass wir mehr feines Zeug in uns hineinschütten, klingt das doch eigentlich wie ein guter Deal, oder?