Wir haben einen Experten gefragt, was die hohen Flüchtlingszahlen für Deutschland bedeuten

Der kurze Spätsommer der Hilfsbereitschaft für Flüchtlinge scheint zumindest auf der Ebene der deutschen Bundespolitik vorbei zu sein. Nachdem alle für eine Weile betont haben, wie toll Deutschland den Flüchtlingen hilft und tatsächlich Hunderttausende Asyl fanden, denkt man in Berlin nun darüber nach, wie man Flüchtlingen die Leistungen streichen kann. Konservative Politiker sympathisieren offen mit Viktor Orbán und seinem Zaun an der ungarisch-serbischen Grenze. Dabei muss die hohe Zahl an Flüchtlingen gar kein Problem für unsere deutschen Nachbarn sein—wenn die Politik richtig handelt. Das sagt zumindest Aladin El-Mafaalani, Professor für Politikwissenschaft, Politische Soziologie und Politische Bildung an der Fachhochschule Münster.

VICE: Es gab seit dem Zweiten Weltkrieg weltweit nicht mehr so viele Flüchtlinge wie heute. Ist das ein Problem für Europa?
Aladin El-Mafaalani: Erstmal muss man feststellen: Es gab in den vergangenen Jahrzehnten weltweit mehr Kriege, mehr Kriegstote und mehr Hungernde als heute. Das heißt, dass drei große Ziele aus dem letzten Jahrhundert schon erreicht sind, zumindest, was den Trend angeht. Man kann also sagen: Operation geglückt, aber Patient nicht gesund. Es gibt nämlich gleichzeitig so viele Flüchtlinge wie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr und die meisten sind rund um Europa. Auf jeden Fall sind sie so verteilt, dass die USA, Kanada oder Australien weniger davon betroffen sind. Europa muss sich also mehr als alle anderen damit beschäftigen. Eine Gefahr für Europa muss das aber nicht sein.

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Professor Aladin El-Mafaalani (Foto: David Ausserhofer)

Europa wird sich also um diese Menschen kümmern können?
Man kann das selbstverständlich schaffen. Es kommt aber darauf an, was man macht. Man weiß genau, wie das Bevölkerungswachstum in Afrika ist. Und wenn alles so weiterläuft wie jetzt gerade, dann entsteht Druck. Wenn das Ventil nicht reguliert geöffnet wird, kommt es irgendwann zu Überspannungen. Afrika ist der Kontinent, der am stärksten wächst und wachsen wird. Gleichzeitig wird derzeit der Abstand zwischen den Lebensbedingungen in Afrika und Europa immer größer. Und diese Abstände entscheiden darüber, ob Menschen unzufrieden sind und ihre Heimat verlassen. Man muss also unbedingt dort mehr machen und viel effektiver handeln als die Entwicklungshilfepolitik der Vergangenheit. Daneben muss man aber mittelfristig auch eine ganz andere einwanderungspolitische Strategie fahren. Beides ist wichtig: Den Herkunftsstaaten helfen und legale Einwanderung ermöglichen.

Die Grenzen sollten also zumindest teilweise geöffnet werden?
Ja. Wir haben total offene Grenzen für Geld-, Güter- und Kommunikationsverkehr. Und wir reden von universellen Menschenrechten. Aber wenn es um Menschen in Not und Perspektivlosigkeit geht, sollen die Grenzen dann doch bestehen? Das passt weder in die Zeit, noch entspricht das dem deutschen und europäischen Wertesystem. Das Asylrecht kann man so lassen, wie es jetzt ist, und das betrifft dann nur einen Teil der Menschen. So wirklich politisch verfolgt—in unserem juristischen Verständnis—sind nämlich bei Weitem nicht alle. Man kann aber nicht so tun, als ob Menschen, die aus diesem Asylrecht rausfallen, keine in humanitärer Sicht Berechtigten wären. Ganz im Gegenteil: Wenn man beispielsweise die Lebensumstände von Syrern und Menschen aus dem Kosovo vergleicht, kommt man zu dem Ergebnis, dass es schlicht absurd ist, entscheiden zu wollen, welche Gruppe die nachvollziehbareren Fluchtgründe hat. Es ist eine Illusion zu sagen, dass jemand, weil er nicht in unsere Asylgründe passt, per se nicht zu uns kommen darf. Das wird auf Dauer nicht gehen—es geht jetzt schon nicht.

Zumindest in Syrien ist kein Ende des Bürgerkriegs in Sicht. Die Flüchtlinge, die in Europa ankommen, werden also für einige Jahre hier bleiben. Was muss sich verändern, damit diese Menschen eine Perspektive haben?
Man kann sogar davon ausgehen, dass die meisten dauerhaft hier bleiben werden. Es müssen vor allem drei Sachen gewährleistet werden: Extreme Förderung der Sprachkenntnisse, Arbeitsmarktintegration und vielleicht am wichtigsten: den Flüchtlingen Selbstbestimmung geben und die Motivation, die sie selber mitbringen, nutzen. Man kann da transparente Kriterien aufstellen, die, wenn sie erfüllt werden, nach einer bestimmten Zeit zu einer unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung führen. Kriterien könnten zum Beispiel sein, dass man nach ein paar Jahren auf hohem Niveau Deutschkenntnisse nachweist, sich auf dem Arbeitsmarkt etabliert hat und nicht straffällig geworden ist. Dafür könnten die Leute dann für immer hier bleiben und vielleicht sogar die Staatsbürgerschaft annehmen, wenn sie wollen. Die Menschen hätten selber Einfluss darauf, was mit ihnen passiert. Das ist das Effizienteste, wenn man weiß, wie Flüchtlinge ticken und was für Bedürfnisse sie haben. Heute haben Flüchtlinge keinerlei Einfluss darauf, was mit ihnen passiert, das entscheidet irgendeine völlig überforderte Behörde, nach rechtlichen Kriterien, die nicht immer nachvollziehbar und manchmal sogar nicht logisch sind.

Wie werden sich die hohen Flüchtlingszahlen auf den Arbeitsmarkt auswirken?
Die ersten zwei Jahre wird das wahrscheinlich wie ein Konjunkturprogramm wirken, weil die ganzen Flüchtlinge aus Steuergeldern finanzielle Ressourcen bekommen, die im Inland ausgegeben werden. Darum wird das für die deutsche Wirtschaft und den Arbeitsmarkt erstmal einen Aufschwung bedeuten. Neben der erhöhten Binnennachfrage wird es in den Bereichen, die für die Integration relevant sind, in den nächsten Jahren unglaublich viele neue Arbeitsplätze geben.

Außerdem haben wir, ich glaube, 600.000 freie Stellen in Deutschland. Und auch relativ viele hochqualifizierte Einwanderer. Gleichzeitig thematisiert kaum jemand, dass gar nicht so wenige Arbeitsplätze im niedrig qualifizierten Sektor offen sind. In der Lagerarbeit und ähnlichen Bereichen sind beispielsweise mehrere zehntausend Stellen frei. Da kriegt man sogar einige niedrig qualifizierte Flüchtlinge unter. Andere muss man qualifizieren. Das alles wollen die Arbeitgeber auch, zumindest sagen das die Arbeitgeberverbände. Für den Arbeitsmarkt kann das darum den Effekt haben, dass wir mehr Beschäftigte haben, mehr Geld in den Sozialkassen und eine kürzere Dauer, in der Flüchtlinge von staatlichen Leistungen leben. Das ist am Anfang. Wie sich das langfristig entwickelt, hängt davon ab, wie man jetzt strategisch vorgeht, denn im Augenblick gibt es keine Strategie. Die Rahmenbedingungen sind in Deutschland aber viel besser als jemals zuvor.

Es kommen ja nicht nur Menschen aus Kriegsgebieten, sondern, wie du bereits erwähnt hast, auch viele Menschen aus dem Balkan. Für diese Menschen hat sich der Begriff „Wirtschaftsflüchtling” eingebürgert und in Bayern steckt man sie jetzt in Sonderlager, um sie schnell wieder abschieben zu können. Kann es auch für diese Leute eine Perspektive geben?
Von denen wird, so wie es momentan läuft, fast niemand ein Bleiberecht bekommen. Die Schutzquote liegt zum Teil bei unter einem Prozent. Gleichzeitig werden oft weniger als 10% tatsächlich abgeschoben, weil es Gründe gibt, die dagegen sprechen. Wenn zum Beispiel bei einem chronisch kranken Kind die medizinische Versorgung im Herkunftsland nicht gewährleistet ist. Dadurch, dass sie dauerhaft nur geduldet werden, schafft man sich viele Probleme. Sie haben zu ganz vielem einen sehr eingeschränkten Zugang, etwa zu Sprachkursen oder dem Arbeitsmarkt. Darum müsste man kreativ überlegen, wie man diesen Leuten eine Perspektive außerhalb des Asylrechts bieten kann, die eine Win-Win-Situation ist. Jetzt wo diese Leute Asyl beantragen, führt das zu einer völligen Überforderung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Laut Gesetz muss jeder Antrag geprüft werden. Darum werden dort nun mehr Mitarbeiter eingestellt. Das heißt aber nichts anderes, als dass wir mehr Mitarbeiter in ein nicht funktionierendes System stecken.

Wie sähe denn die Alternative aus?
Man könnte beispielsweise sagen: Ihr kommt aus sicheren Herkunftsländern, Asyl bekommt ihr also nicht. Man könnte stattdessen schauen, dass die Menschen einen Antrag auf ein Arbeitsvisum stellen können, aber nur aus ihrem Herkunftsland heraus. Dann können sie von dort aus da hingebracht werden, wo der Arbeitsplatz ist. Im Augenblick kommen diese Menschen häufig nach Dortmund und Duisburg. Hier sind aber keine Arbeitsplätze, die sind eher in Süddeutschland. Das würde bedeuten: Es kommt nur die Arbeitskraft, in der Regel der Vater und die anderen bleiben im Herkunftsland. Dadurch wird dann Geld zum Beispiel in den Kosovo oder nach Mazedonien überwiesen, das wäre auch Wirtschaftsförderung. Und diejenigen, die sich hier etablieren, nach den gleichen Regeln, die ich auch für Flüchtlinge vorgeschlagen habe, dürfen dann beantragen, dass die Familie nachzieht, und unbefristet bleiben. Die anfänglichen Überweisungen in die Herkunftsländer sind eigentlich das beste Wirtschaftsförderungsprogramm, das es gibt. In Ländern wie Kuba ist das seit vielen Jahren einer der größten Posten im Bruttoinlandsprodukt.

Vor allem wenn man bedenkt, dass Kosovo und Mazedonien irgendwann mal die EU-Mitgliedschaft beantragen wollen, wäre das eine sehr sinnvolle Annäherung. In jedem Fall muss man sich darum kümmern. Wenn man sich die internationalen Statistiken anschaut, wächst die absolute Armut in dieser Region innerhalb Europas, während sie weltweit tendenziell sinkt. Wenn man dann meint, das Thema sei erledigt, indem man die Menschen Wirtschaftsflüchtlinge nennt, ist das irgendwas zwischen Unwissenheit und Ignoranz.

Im Moment leben Flüchtlinge, wenn sie nach Deutschland kommen, ganz oft getrennt vom Rest der Bevölkerung. Wie kann man eine Ghettobildung verhindern?
Ghettobildung ist ein falsches Wort. Was es gibt, sind Armutskonzentrationen und gewisse Formen von Parallelgesellschaften. Ja, Parallelgesellschaften gibt es, aber nur in wenigen Stadtteilen. Die entstehen dann, wenn man sich nicht kümmert, das sind die Resultate der Fehler in den 1960ern, 1970ern und 1980ern. Und diese Fehler machen wir jetzt nicht mehr so ohne weiteres. Das ist alles in einer Zeit passiert, in der man den Menschen keine Anreize gegeben hat, sich nicht um Sprachförderung gekümmert hat, sich nicht um die Kinder und die Arbeitsmarktintegration gekümmert hat—all das, worum man sich jetzt bemüht. Ein realistisches Problem wäre eine Ghettobildung nur, wenn man jetzt ganz viele Flüchtlinge in einen leerstehenden Stadtteil in einer schrumpfenden Region packt. Dann kann das passieren, aber selbst dann muss es nicht passieren. Die echten Parallelgesellschaften sind im Übrigen die Stadtteile der Reichen.

Wie wird sich die Gesellschaft durch die hohe Zahl an Flüchtlingen verändern?
Sie wird sich auf jeden Fall verändern und wie sie sich verändert, hängt davon ab, was man jetzt tut. Wenn man sich anschaut, was passiert, wenn viel Migration mit wirtschaftlicher Stärke gekoppelt ist, dann hat man sowas wie Frankfurt, München oder Stuttgart. Das sind im Übrigen die Städte mit den größten Anteilen an Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. In diesen Städten existiert eine richtige Einwanderungsgesellschaft. Der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund ist dort deutlich größer als in Dortmund, Duisburg oder Berlin. Die erstgenannten Städte sind internationaler und wirtschaftlich stärker als das Ruhrgebiet und unsere Hauptstadt. Das weiß fast keiner, weil wir sichtbare Probleme mit Migration verwechseln. Dort, wo die Probleme entstehen, hat das vor allem etwas damit zu tun, dass es wirtschaftlich strukturschwache Regionen sind. So wie auch in weiten Teilen Ostdeutschlands—dort aber praktisch ohne Migration.

Mit einem funktionierenden Arbeitsmarkt und kluger Integrationspolitik führt Migration eindeutig zu einer großen Bereicherung. Beides ist also möglich, man muss nicht alles mit der rosaroten oder der schwarzen Brille sehen. Es hängt davon ab, was man tut. Und was wirtschaftliche Stärke und Weltoffenheit angeht, ist Deutschland viel besser aufgestellt als jemals zuvor.


Titelfoto: Imago/Pixsell