Vielleicht liegt es am Jahreswechsel, dass durch Berlins Gefängnisse gerade ein Wind der Freiheit weht: Zuerst schafften es am Donnerstag vier Insassen der JVA Plötzensee, durch einen aufgesägten Lüftungsschacht in der Außenmauer auszusteigen. Am selben Abend fehlte dann noch ein weiterer Insasse, der einfach nicht aus dem offenen Vollzug zurückgekommen war. Und am Montagmorgen brachen schon wieder zwei Häftlinge aus, diesmal aus einem Fenster. Damit sind der Anstalt in weniger als einer Woche insgesamt neun Häftlinge abhanden gekommen.
Allerdings sind schon jetzt nicht mehr alle von ihnen auf freiem Fuß: Zwei der Ausbrecher sind bereits von selbst zurückgekommen, einen hat die Polizei am Dienstag in Neukölln geschnappt.
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Also stellt sich die Frage: Lohnt es sich überhaupt, aus dem aus dem Gefängnis auszubrechen? Die meisten deutschen “Ausbrecherkönige” konnten sich den Namen ja nur deshalb verdienen, weil sie nach jedem Ausbruch wieder erwischt und in ein neues Gefängnis gesteckt wurden, aus dem sie dann wieder ausbrechen mussten. Um herauszufinden, wie groß die Erfolgschancen für einen Ausbruch eigentlich sind, haben wir mit Heinz Cornel, Kriminologe an der Berliner Alice Salomon Hochschule, geredet.
VICE: Wie ungewöhnlich ist das, was gerade in Berlin passiert?
Heinz Cornel: In den letzten Jahrzehnten sind Gefängnisausbrüche immer seltener geworden. Dass es jetzt gleich vier auf einmal sind, treibt den Durchschnitt natürlich nach oben. Beim letzten Ausbruch in Berlin vor drei Jahren waren es zwei. Und vor 15 Jahren sind einmal fünf mit einer Leiter weg. Im Durchschnitt gibt es aber weniger als einen Ausbruch pro Jahr.
Liegt das an besseren Sicherheitsmaßnahmen?
Teilweise liegt das an der sogenannten “technischen Sicherheit” – Mauern, Gitter, Stacheldraht. Wichtig ist aber auch die “soziale Sicherheit”. Das heißt, dass man das Klima in der Anstalt gut beobachtet, dass die Gefangenen beschäftigt sind. In Berlin wurde da viel getan, sodass die Sozialarbeiter immer im Kontakt mit den Gefangenen stehen.
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Was für Strafen erwarten jemanden, der ausbricht?
Der Ausbruch allein ist noch kein Straftatbestand [Anm. d. Red.: “Selbstbefreiung” ist in Deutschland straffrei, weil sie dem “natürlichen Freiheitstrieb des Menschen” entspricht]. Aber: Für alles, was man auf der Flucht anstellt – Sachbeschädigung zum Beispiel, oder Angriffe auf Beamte –, wird man natürlich schon bestraft. Und wenn jemand vorher im offenen Vollzug war, kommt er nach einem Ausbruchsversuch in den geschlossenen Vollzug. Und wenn er eine Chance hatte, vorzeitig entlassen zu werden, ist die danach weg.
Wie lange dauert es im Durchschnitt, bis ein Ausbrecher wieder gefasst wird?
Die allermeisten werden entweder sehr schnell geschnappt oder stellen sich sehr früh. Die Vorstellung, dass der Ausbrecher sich nach Rio de Janeiro oder sonstwo absetzt, ist ziemlich naiv. Der Horizont, der diesen Gefangenen bleibt, ist meist viel kleiner. Wenn man auf der Flucht ist, versucht man meistens, Freunde, Bekannte oder Angehörige aufzusuchen, die einen unterstützen. Wer das ist, wissen die Zielfahnder meistens aber auch. Alle bekannten sozialen Kontakte führen dazu, dass man schnell wieder inhaftiert wird.
Und wenn man es schafft, einen Bogen um bekannte Adressen zu machen?
Da gibt es dann so Geschichten, dass jemand irgendwo im Wald überlebt hat. Aber: Die meisten Ausbrüche sind Impulshandlungen, die nicht bis zum Ende durchdacht sind. Wer nicht vom Zielfahnder erwischt wird, dem geht nach wenigen Tagen die Luft aus.
Zuerst hat so jemand ja keine Papiere, kann also keine Wohnung mieten und keinen Job anfangen. Der wird schnell merken, dass er draußen praktisch keine Chance hat. Gleichzeitig ist die Wahrscheinlichkeit ziemlich hoch, dass er neue Straftaten begeht, sei es nur Schwarzfahren oder Ladendiebstahl.
Gibt es außer denen aus Plötzensee im Moment überhaupt Ausbrecher, die immer noch auf freiem Fuß leben?
Meines Wissens nicht. Wenn überhaupt, sind die Zahlen aber sehr, sehr niedrig.
Lohnt es sich also überhaupt?
Objektiv gesagt: Nein. Man kann sich subjektive Situationen vorstellen, wo jemand im Gefängnis so verzweifelt ist, dass er einen Angehörigen oder Partner unbedingt sehen will, sodass er Dinge tut, die objektiv gesehen sehr unvernünftig sind. Man kann sich auch vorstellen, dass es um Mutproben oder eine Gruppendynamik geht, wo man zeigen will, dass man es kann. Aber alles in allem ist es eher unvernünftig.
Was raten Sie den Ausbrechern von Plötzensee?
Ich kann verstehen, dass man lieber draußen als drin ist. Aber ich würde denen sehr empfehlen, sich zu melden. Wenn sie sich selbst stellen, haben sie eine bessere Chance, irgendwann wieder in den offenen Vollzug zu kommen, oder zumindest nicht hochsicher untergebracht zu werden.
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