Wir haben Japans berüchtigte Yakuza-Mafia getroffen

Einen Tag bevor ein Van mit getönten Scheiben neben mir auf der Straße hält und mich zu einem unbekannten Ort fährt, stehe ich im Tattoo-Studio des legendären Tebori-Künstlers Horiyoshi III in Tokio. Ich will herausfinden, was hinter den Gerüchten von Gewalt und abgetrennten Fingergliedern steckt, die man über Japans bekannteste kriminelle Organisation hört. Horiyoshi III gehört nicht nur zu den besten Tätowierern der Welt, sondern ist auch bei der Yakuza beliebt. Als ich ihn frage, warum deren Mitglieder so oft bei ihm vorbeischauten, antwortet er nicht ohne Stolz: “Sie trinken nur in den besten Bars, umgeben sich nur mit den besten Frauen und tragen nur die besten Tattoos.”

Plötzlich tritt tatsächlich eine Gruppe junger Yakuza ins Studio. Sie wollen von mir wissen, ob ich schon mal von dem traditionellen japanischen Kartenspiel Oicho-Kabu gehört hätte und auf Glücksspiele stände.

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Ich sage ihnen, dass ich schon lange kein Piano mehr gespielt hätte, und beziehe mich damit auf die in Japan populären Pachinko-Spielautomaten. Die Yakuza-Mitglieder lachen und ich bin mir nicht sicher, ob sie sich über mich lustig machen oder meine Anspielung tatsächlich witzig finden. Sie bieten an, mir Oicho-Kabu beizubringen, und legen die Karten zusammen mit ihren Zigarettenpackungen Feuerzeugen auf den Tisch.

Beim Spielen reden wir über die Yakuza und ihr faszinierendes, aber oftmals falsch wahrgenommenes Image. Im Allgemeinen gelten die Yakuza als internationales Syndikat des organisierten Verbrechens. Die japanische Version der Mafia, wenn man so will. Ich habe schon viele Geschichten von jungen Yakuza-Schergen gehört, die in teuren Anzügen Nachtclubs aufmischen oder ahnungslose Ausländer in teuren Hostessen-Bars zum Bezahlen von absurd hohen Rechnungen zwingen. Sie sollen extreme Regeln haben, um ihre Ehre zu schützen.


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Nach ein paar Zigaretten erzähle ich den Yakuza-Mitgliedern von meiner Heimat Australien, von meinem dortigen Motorradclub und dass solche Vereinigungen dort mittlerweile als kriminelle Organisationen eingestuft würden. Deswegen können wir zum Beispiel keine Tattoo-Studios mehr betreiben, obwohl dieses Handwerk seit mehreren Jahrzehnten fest zur Biker-Kultur gehört.

Daraufhin erzählen mir die jungen Männer, wie ihnen die japanische Regierung das Leben schwer macht: Sie dürften keine Bauverträge mehr abschließen oder andere Geschäfte betreiben. Ich frage, ob sie Lust auf ein Interview zur Rolle der Yakuza im heutigen Japan hätten. Daraufhin fallen sie zurück in ihre höfliche, stille Verhaltensweise, diskutieren mit leiser Stimme und sagen mir schließlich, dass mir jemand am Telefon eine Zeit und eine Adresse mitteilen würde.

Junge Yakuza-Mitglieder im Tattoo-Studio von Horiyoshi III

Am darauffolgenden Tag verlasse ich gerade eine U-Bahn-Station, als ein Van neben mir anhält. Die Tür geht auf und ich erblicke zuerst eine Hand und eine mit Diamanten besetzte Rolex, dann die Silhouette eines Mannes. Mir wird gesagt, dass dieser Mann Mr. S heiße und mich zuerst “aushören” müsse, bevor sein Boss unserem Treffen zustimmen könne. Mr. S blickt mich ausdruckslos an, streicht mit seinem verkürzten Daumen über seinen Kinnbart und fragt: “Kaffee?”

Ich verbeuge mich und nehme die Einladung mit einem mulmigen Gefühl an.

Die Geschichte der Yakuza geht über hundert Jahre zurück in die Meiji-Zeit, in der gesetzlose Gauner in zwei Kategorien eingeteilt wurden: entweder Tekiya, also Hehler, oder Bakuto, also Betreiber von illegalen Casinos.

Die Mitglieder der modernen Yakuza sehen sich jedoch lieber als spirituelle Nachfahren der Rōnin. Dabei handelt es sich um herrenlose Samurais aus dem 17. Jahrhundert.

Heutzutage sind die Yakuza ein Tabu, über das man in Japan nicht gerne spricht. Viele Japaner sehen sie als einen Schandfleck auf der stolzen Geschichte des Landes. Immer wenn ich über die Yakuza reden will, schlägt mir bittere Ablehnung entgegen. Ein Barkeeper drückt es so aus: “Japan hat viel Besseres zu bieten.”

Dem Economist zufolge sind die Verbrechensraten in Japan im Laufe der vergangenen 13 Jahre stark zurückgegangen. Die Mordrate liegt bei 0,3 Todesfällen pro 100.000 Einwohner und gehört damit zu den niedrigsten der Welt. Deshalb werden nun Behauptungen aufgestellt, dass die Yakuza der Vergangenheit angehören, an den neuen, strengen Gesetzen kaputtgehen oder aufgrund des fehlenden Nachwuchses immer weiter aussterben würden.

Das Interview mit Mr. S im Yakuza-Hauptquartier

Im Van bricht Mr. S endlich das Schweigen, indem er dem Dolmetscher leise mitteilt, dass ich “sehr süß” aussähe. Wir fahren weiter und ich habe keine Ahnung, wo es überhaupt hingeht. Irgendwann kommen wir an einem zweistöckigen Bürogebäude an, das wohl das Hauptquartier der Yakuza ist. Vier stark tätowierte Männer stehen draußen und als sie unseren Van erblicken, stehen sie sofort gerade und verbeugen sich.

Mir fällt als erstes das Alter der vier Männer auf: Sie sind alle Ende 20 oder älter. Einer von ihnen schließt den Reißverschluss seines Jogginganzugs. Dabei sehe ich, dass zwei seiner Finger zur Hälfte abgetrennt sind. Er blickt mich an, hält seine Hand hoch und reißt auf Japanisch einen Witz. Laut dem Dolmetscher sagt er, dass er seine Finger wegfliegen ließ. “Yubitsume!”, ruft ein anderer und bezieht sich dabei auf das Ritual der Fingerverkürzung.

Die Yakuza sind die einzige kriminelle Organisation, in der Selbstverstümmelung gleichzeitig als Zeichen des Muts und der Bestrafung gilt. Wenn ein Mitglied irgendetwas tut, das der Gruppe schadet oder Schande über sie bringt, dann wird erwartet, dass sich dieses Mitglied als Entschuldigung sofort einen Teil des eigenen Fingers abschneidet. Dazu benutzen sie einen Dolch oder ein kleines Samurai-Schwert. Diese Tradition zeigt, wie wichtig es für einen Samurai ist, sein Schwert halten zu können: Mit jedem weiteren Fehler und dadurch verlorenen Fingerglied kann er sich immer weniger auf seine eigenen Fähigkeiten verlassen und ist immer mehr von der Gruppe abhängig.

Wegen des brutalen Rufs frage ich Mr. S, was ihn zur Yakuza gebracht hat. “Meiner Meinung nach gibt es zwei Gründe, warum man in diese Organisation eintritt”, antwortet er. Entweder sei man schon in jungen Jahren wild und ungestüm und wolle sich in der Yakuza einen Ruf auf der Straße erarbeiten. Oder man stoße durch ein anderes Mitglied dazu, um an Geld zu kommen. “So wie ich”, fügt er hinzu.

Nachdem er diesen Satz ausgesprochen hat, springt er auch schon aus dem Van und öffnet mir höflich die Tür.

Ein Yakuza-Mitglied zeigt sein Koi-Tattoo

Zwei Männer lassen uns ins Büro. Sie haben uns offensichtlich schon erwartet. Mr. S erklärt, dass ich so viele Fotos machen könne, wie ich wolle – so lange darauf keine der aufgehängten Bilder oder irgendwelche Gesichter der Mitglieder zu sehen seien.

Im Foyer frage ich ihn, warum der unerbittliche und loyale Ruf der Yakuza nötig sei. “Die Yakuza sorgen dafür, dass niemand aus der Reihe tanzt. Wenn die jungen Menschen vor nichts Angst haben, dann machen sie einfach, was sie wollen, und niemand kann sie aufhalten”, sagt er. Seiner Meinung nach würde das in Schlägereien und Chaos enden. “Wenn die Yakuza jedoch einschreiten, Unruhestifter aus den Clubs schleifen und ihnen eine Abreibung verpassen, dann wird das Chaos abgewendet.”

Genauso wie die verkürzten Finger sind die Tattoos der Yakuza ein Zeichen der Loyalität

Dieses Jahr hat die japanische Regierung ein umstrittenes Anti-Terror-Gesetz verabschiedet, das unter anderem besagt, dass eine gesamte Gruppierung auch dann angeklagt werden kann, wenn nur ein einziges Mitglied dieser Gruppierung ein Verbrechen begangen hat. Kritiker prangern an, dass Vergehen wie das Kopieren von Musik oder das Sammeln von Pilzen nun mit tatsächlichen Terrordrohungen auf einer Stufe stünden.

Mr. S ist wegen des Gesetzes ebenfalls wütend: “Darin heißt es, dass wir unter der Verfassung alle gleich seien, aber uns gegenüber ist gar nichts fair. Wir können nicht mal Golf spielen.” Lediglich für die Abgeordneten selbst sei das Ganze total praktisch. “Wenn Politiker böse Dinge tun, kommen sie damit immer irgendwie durch. Die sind doch viel schlimmer als die Yakuza”, meint er.

Ein Yakuza-Mitglied wartet auf den Tätowierer

Wegen meines Motorradclubs weiß ich genau, wie sich die Yakuza fühlen, wenn die Regierung versucht, sie so klein wie möglich zu halten. Mr. S mutmaßt, dass es dafür noch andere Gründe geben könnte als bloß den Kampf gegen das Verbrechen.

“Hier gibt es nämlich einen Konflikt zwischen der Bauindustrie, die sich quasi schon immer in der Hand der Yakuza befindet, und den Organisationen, die mit der Regierung zusammenarbeiten und hier Dinge wie Spielhallen hochziehen wollen”, sagt er. Die japanische Regierung wolle die Industrie der Yakuza übernehmen – die Pachinko-Spielautomaten würden ziemlich viel Gewinn abwerfen.

“Die Unternehmen und die Regierung arbeiten zusammen. Warum sind wir die einzigen, die kontrolliert und überwacht werden? Warum legt man der Yakuza Fesseln an?”

In diesem Raum über dem Büro werden Rituale und Opfergaben durchgeführt

Ich überlege laut, ob das vielleicht etwas mit der gewalttätigen Vergangenheit der Yakuza zu tun hat. Mr. S stimmt mir zu: “Natürlich machen wir auch schlimme Dinge.” Doch es gebe eben Probleme, die gelöst werden müssten. Das erklärt er anhand der Vereinbarungen zwischen Nachtclubs und der Yakuza: “Stell dir vor, du betreibst eine Bar und es kommt zu einer Auseinandersetzung zwischen deinen Gästen. Bis du die Polizei rufst, die Beamten alles dokumentiert haben und mit den Ermittlungen beginnen, ist die Party im Eimer und du verlierst eine Menge Einnahmen.”

Wenn ich als Barbetreiber in einem solchen Fall jedoch die Yakuza riefe, dann nähmen sich die Mitglieder nur dem Typen an, der den Streit angefangen hat, während der Rest weiterfeiern kann. “Wir ziehen ihn raus und weisen ihn eindringlich an, nicht mehr in deine Bar zu gehen und Stress zu machen. Wenn wir einschreiten, ist die ganze Sache viel schneller erledigt.”

Mr. S versichert mir, dass es der Yakuza vor allem darum gehe, die Leute zu schützen. “Wir versuchen, uns um die Menschen hier zu kümmern – egal, ob sie uns angehören oder nicht. Wenn wir zum Beispiel mitbekommen, dass junge Leute ein Drogenproblem haben, dann helfen wir ihnen, davon wegzukommen.” Im Grunde müsse man die Verantwortung für die jüngere Generation übernehmen und ihr zeigen, was richtig und was falsch ist.

Ein junges Yakuza-Mitglied präsentiert ein Tattoo von Horiyoshi III

Mr. S erzählt von der Tsunami-Katastrophe, die Japan 2011 schwer traf. Berichten zufolge hat die Yakuza schneller geholfen als die Regierung – eine Leistung, auf die die Organisation auch heute noch sehr stolz ist.

“Direkt nach dem Erdbeben haben wir zehn Vans mit Hilfsgütern vollgepackt und sind nach Fukushima gefahren. Auf den Straßen herrschte Panik und an den Tankstellen war die Hölle los. Aber wir klebten einfach große ‘Hilfslieferung’-Sticker auf unsere Fahrzeuge”, erzählt Mr. S. “Eigentlich wollten die Tankstellen nur maximal 20 Liter Benzin pro Auto rausgeben, aber wir sagten, dass wir den Scheiß nicht mitmachen würden, weil es sich um einen Notfall handele und die Menschen unsere Hilfe bräuchten. Also fuhren wir einfach an der Warteschlange vorbei und tankten, so viel wir wollten. Hier haben wir den Ruf der Yakuza mal ausgenutzt.”

Mr. S

Ich will wissen, wie es um den Yakuza-Nachwuchs steht. “Es gibt nicht mehr viele junge Leute, die bei uns mitmachen wollen”, gibt Mr. S zu. “Und ich will ehrlich sein: Als Mitglied der Yakuza muss man viele Unannehmlichkeiten aushalten. Die Kids wissen, dass wir sehr streng sind und dass die Regierung uns das Leben schwer macht. Wir dürfen zum Beispiel keine Konten eröffnen und keine Wohnungen oder Autos kaufen. Die ganzen rebellischen Jugendlichen schließen sich lieber irgendwelchen Straßen-Gangs an, als der Yakuza beizutreten.”

Schließlich lädt mich Mr. S noch in sein Lieblings-Nudelrestaurant ein. Der Besitzer bringt uns Reiswein an den Tisch und wir trinken einige Runden. Anschließend folgen unzählige japanische Delikatessen. Ich bin schon öfters mit hochrangigen Figuren aus der Unterwelt um die Häuser gezogen und das Essen mit Mr. S fühlt sich nicht an, als wolle er seinen Status und Einfluss zur Schau stellen. Stattdessen ist das Ganze eine Einführung in die Welt und Kultur der Yakuza.

Ich versuche, die Rechnung ganz diskret zu begleichen, weil Mr. S mich schon den ganzen Tag lang mit Kaffee, Essen und Zigaretten versorgt hat. Der aber hebt seine Hand mit den verkürzten Fingern und sagt leise: “Eher würde ich mir noch einen weiteren Finger abschneiden, als dass ein Gast der Yakuza zahlen muss.”

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