Wir haben alle Dinge, die wir bereuen. Nicht nur die Art Reue, die uns überkommt, nachdem wir spontan ein fragwürdiges Paar Mokassins gekauft haben, um unserem Stil mal eine neue Richtung zu geben. Ich spreche von den richtig ernsten Dingen. Ich spreche von Reue, die wir in uns hineinfressen und die uns nachts den Schlaf raubt, weil wir uns wünschen, durch die Zeit reisen zu können, um alles anders zu machen.
“Reue ist ein modernes Tabu”, erklärt mir die Psychotherapeutin und ehemalige Pfarrerin Ilse Sand. “Es herrscht großer Druck, perfekt zu sein und alles unter Kontrolle zu haben, also fällt es uns schwer zuzugeben, wenn wir eine Entscheidung getroffen haben, die wir hinterher bereuen.” Das ist sehr schade, denn wenn wir nichts bereuen, haben wir keine Gelegenheit, unsere Fehler wiedergutzumachen—oder zu lernen, sie in Zukunft zu vermeiden.
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Ich habe fünf mutige Menschen gebeten, mir von ihrer größten Reue zu erzählen—denn immerhin hilft es wenigstens, über seinen Schmerz zu sprechen.
Céleste Nshimiyimana, 25, Student
Ich bereue das letzte Telefonat, das ich mit meiner Schwester geführt habe. Es war am Tag vor ihrem Selbstmord. Ich war so mit mir selbst beschäftigt, dass ich ihren Anruf nicht ernst genommen habe. Sie hatte ein hartes Leben und ich habe es ihr nicht leichter gemacht—wir haben über alles gestritten. Sie rief mich an einem Samstagabend kurz vor Mitternacht an. Sie bat mich, mich hinzusetzen, und fing dann einfach an, lauter positive Sachen über mich aufzuzählen. Sie sagte immer wieder, ich soll nie vergessen, wie sehr sie mich liebt—aber ich war dabei, mich für eine Party fertigzumachen, und dachte nicht darüber nach, warum sie solche Sachen sagt. Ich habe im Grunde einfach gewartet, dass sie auflegt, damit ich gehen kann.
Sie war ein paar Mal in die Psychiatrie eingewiesen worden, aber sie haben sie immer nach einer Weile gehen lassen, und ich nahm es nicht besonders ernst. Ich fand es hauptsächlich nervig, dass sie immer so viel Theater machte. Ich bereue, dass ich mich nicht stärker bemüht habe zu verstehen, wie schlecht es ihr ging. Nach ihrer ersten Einweisung habe ich sogar unsere Mutter überzeugt, ihren Job nicht aufzugeben. Sie hatte vor, das zu machen, damit sie bei meiner Schwester einziehen und sich um sie kümmern kann.
An jenem Abend habe ich unser Gespräch sofort nach dem Auflegen wieder vergessen. Jetzt spiele ich es wieder und wieder in meinem Kopf ab. Ich weiß nicht, ob ich etwas hätte tun können, um sie zu retten, aber wenn ich noch einmal zurück könnte, würde ich ihr ganz sicher sagen, dass ich sie auch liebe. Ich würde all ihre großartigen Eigenschaften aufzählen. Vielleicht hätte es etwas geändert.
Carina Ladegaard, 36, Digital Relations ManagerIN
Ich bereue, dass ich meine eigene Firma gegründet habe, anstatt meine Jugend zu genießen und um die Welt zu reisen. Ich habe mit 20 meine Schneiderausbildung an einer Privatakademie abgeschlossen und ein Jahr später bot mir die Inhaberin der Schule an, ihr die Akademie abzukaufen. Ich stamme aus einer Unternehmerfamilie—meine Mutter, mehrere Tanten und mein Großvater haben alle ihre eigene Firma gestartet. Also schien es nur richtig, dass ich in ihre Fußstapfen trete.
Ich war einfach nicht bereit für diese Verantwortung. Ich war direkt aus der Schule auf die Akademie gegangen und hatte mir überhaupt nicht die Zeit genommen, zu feiern und meine Freiheit zu genießen. Und dann war ich plötzlich für eine ganze Schule verantwortlich. Die Mitarbeiter waren so viel älter als ich—beim Mittagessen quatschten wir darüber, wie sie ihre Enkel verwöhnen. Der Druck setzte mir irgendwann richtig zu. Ich hatte mein erstes stressbedingtes Magengeschwür mit 23. Wenn ich keine Schlaftabletten nahm, lag ich einfach wach im Bett und dachte an die Arbeit.
Mit 28 verkaufte ich die Firma weiter. Ich habe das Gefühl, meine Jugend verpasst zu haben. Ich habe die Jahre übersprungen, in denen man sich erlauben kann, ein bisschen egoistisch und verantwortungslos zu sein, und im Moment zu leben, ohne an die Folgen zu denken. Für etwa sechs Jahre habe ich das gemacht, von dem ich dachte, es sei das Richtige—statt das zu tun, was ich wollte und was mich glücklich macht.
Morten Espersen, 27, Schiffsspediteur
Ich bereue, dass ich meiner Ex kein besserer Freund war. Wir kannten einander ungefähr sieben Jahre lang, bevor wir 2012 anfingen zu daten. Es war eine große Liebe, richtig ernst—ich war mir sicher, dass ich mit ihr Kinder kriegen und alt werden würde.
Meine Arbeit hatte für mich immer Priorität. Das ging so weit, dass ich keinen richtigen Platz in meinem Leben ließ, um für sie da zu sein. Sie hatte leichte Depressionen und kämpfte mit ihrem Studium, und wenn ich von der Arbeit kam, fand ich, dass ich es verdient hatte, die Füße hochzulegen—anstatt sie emotional zu unterstützen und im Haushalt zu helfen, damit sie nicht so viel Stress hat. Wir haben deswegen und wegen überhaupt allem gestritten. Irgendwann waren wir bei ihrem Vater zu Hause und stritten darüber, dass ich nicht genug zu Hause war, und irgendwie lief es an dem Tag einfach total aus dem Ruder und wir machten an Ort und Stelle Schluss.
Ein paar Tage später fuhr ich bei ihr vorbei, um meine Sachen abzuholen. Wir verabschiedeten uns kurz und das war’s. Ich schätze, wir waren beide zu stolz, um uns für eine Versöhnung einzusetzen. Ich denke oft an sie. Mir war ein Mädchen noch nie im Leben so wichtig. Wenn ich auf sie gehört hätte, wären wir vielleicht immer noch zusammen.
Fanny Olhats, 27, Journalistin
Ich bereue, dass ich so lange gebraucht habe, um meinen Körper so zu akzeptieren, wie er ist. Ich bin in Kalifornien aufgewachsen, in einer Gegend, wo alle schön und schlank sind. Mein Vater ist Koch, also war ich immer umgeben von leckerem Essen—ich habe wohl einfach immer ein bisschen mehr gegessen als nötig. Manchmal hasste ich meinen Körper. Es war nie der Körper, den ich mir wünschte. Ich fühlte mich unwohl in meiner Haut und mit meiner ganzen Person.
Das hatte natürlich Auswirkungen auf meinen Alltag. Wenn ich nicht das richtige Outfit finden konnte, um meinen Körper zu verstecken, blieb ich zu Hause. Wenn ich einen “fetten Tag” hatte, meldete ich mich krank. Ich hasste die Vorstellung, andere Menschen mit meiner Figur zu konfrontieren, indem ich ihnen in einem Badeanzug oder Bikini gegenübertrat. Also ging ich nie zum Strand oder an den Pool. 2012 trennte ich mich von einem Freund, der mich betrogen hatte, und schwamm regelrecht in Selbsthass. Dann stolperte ich über ein Fitnesstraining, bei dem es hauptsächlich darum ging, Spaß zu haben und sich selbst gut zu behandeln. Durch diesen Kurs habe ich gelernt, nicht so hart zu mir selbst zu sein.
Ich bereue wirklich, wie viele Jahre ich darauf konzentriert war, wie sehr ich meinen Körper hasse. Wir hatten vor Kurzem einen Wettbewerb in der Arbeit—man konnte Instagram-Fotos einschicken und 10 davon wurden in der Büroküche aufgehängt. Ich schickte ein Aktfoto von mir ein, von hinten in einer Sauna in Schweden fotografiert. Für die meisten Leute sind solche Fotos keine große Sache, aber für mich war es ein riesiger Erfolg. Ich habe geweint, als ich das Foto eingeschickt habe.
Rasmus Veltz Nielsen, 27, Kinderpfleger
Ich bereue, dass ich nicht im Ausland studiert habe, als ich die Gelegenheit hatte. Ich wurde zusammen mit einem ehemaligen Mitbewohner für ein Programm in Australien ausgewählt. Wir verbrachten bestimmt acht oder neun Monate damit, die ganze Reise zu planen. Doch dann brach mein Freund auf einmal sein Studium ab, um etwas anderes zu studieren. Und ich schmiss dann das Ganze einfach hin, weil ich keinen Bock hatte, den Plan alleine durchzuziehen.
Inzwischen weiß ich, dass das ein Fehler war. Ich war noch nie gut darin, einfach spontan etwas Neues zu machen, aber dieser Auslandsaufenthalt hätte mir bestimmt etwas darüber beigebracht, auf eigenen Beinen zu stehen und Entscheidungen zu fällen, ohne ewig zu grübeln.
Manchmal, wenn ich versuche, eine große Entscheidung zu treffen, oder wenn ich mit jemandem diskutiere, habe ich das Gefühl, dass da etwas ist, wo ich mit mir selbst nicht im Reinen bin. Dass es etwas gibt, das ich hätte tun sollen. Mein früherer Mitbewohner war vor Kurzem als Teil seines neuen Studiums ein halbes Jahr im Ausland. Er war alleine weg und ist gerade zurückgekommen. Jetzt überlege ich, sechs Monate in Südamerika zu verbringen, um Freiwilligenarbeit zu leisten—wenn ich es mir finanziell leisten kann.