Die Abiprüfungen sind vorbei, endlich wird dein Leben besser: Du musst nicht mehr den Satz des Pythagoras vor dich herbeten, weil du ihn unbedingt im Schlaf können musst. Nein, jetzt kannst du endlich machen, worauf du Bock hast: Sei es das Untersuchen von antiken Münzen beim Numismatik-Studium oder das Planen deiner eigenen Comedyshow im Master-Studiengang Stand-Up-Comedy.
Was vielen vor Beginn des Studiums nicht bewusst ist: Du bist komplett auf dich allein gestellt. Wenn deine Noten scheiße sind, ruft dich keine Dozentin nach der Stunde nach vorne, um dir irgendwie zu helfen – wahrscheinlich kennt sie nicht mal deinen Namen. Und das Lern-Pensum für eine Prüfung entspricht mindestens dem gesamten Abistoff. Vielen wird der Druck zu groß und sie brechen ihr Studium ab – laut einer Studie des Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung ungefähr 29 Prozent aller deutschen Studierenden.
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Wir haben mit Menschen gesprochen, die an ihrem Studium verzweifelt sind.
Rebecca, 26
Ich bin mit 18 nach Berlin gezogen, um an einer privaten Hochschule Modedesign zu studieren – ein Fehler, wie sich schon nach wenigen Wochen in Berlin zeigen sollte. Schon in der Einführungsveranstaltung merkte ich, dass ich mit meiner H&M-Garderobe wenig mit den Second-Hand-Durchstöberinnen und Hobby-Designern gemeinsam hatte. Die anderen hatten Modezeitschriften abonniert, ich las die Neon. In den Pausen unterhielten sie sich übers Berghain und die neuesten Kollektionen irgendwelcher Underground-Designer.
Auch bei VICE: Geh nicht auf die Kunsthochschule!
Ich grenzte mich schnell von der Klasse ab und hing nur noch mit denselben drei Kommilitoninnen rum. Zusammen lästerten wir über die Mitstudierenden, wenn sie fragten, wie nochmal “dieser Film mit F” heißt und damit Stieg Larssons Verblendung meinten. Auch der Unterrichtsstoff machte mir keinen Spaß: In den Nähkursen war ich überfordert und verbrachte die meiste Zeit damit, schiefe Nähte aufzutrennen. In den Sprachkursen war ich unterfordert, weil ich den Stoff im Abi hatte. Als wir eine Multiple-Choice-Klausur in Englisch schrieben, gab der Dozent uns vorab die Fragen – und zehn Minuten, um die Antworten zu googeln.
Nach den ersten drei Monaten in Berlin und an der Modeschule bekam ich eine Winterdepression. Ich hasste die neue Stadt, das Studium und die Leute und wäre am liebsten zurück zu meinen Eltern nach Luxemburg gezogen. Ich schleppte mich bis zum Anfang des folgenden Jahres zum Unterricht. Dann ging ich nicht mehr zu den Lehrveranstaltungen und sah mich nach etwas anderem um.
Mein Vater wollte damals, dass ich zumindest das erste Jahr abschließe. Er dachte, das abgebrochene Studium sähe nicht gut in meinem Lebenslauf aus. Ich habe es allerdings nie bereut, dass ich mich ihm widersetzt habe. Im Gegenteil: Jedes Mal, wenn ich später als Journalistin bei der Fashion Week war, merkte ich, dass die Modewelt nichts für mich ist. Meinen Bachelor habe ich an einer Fachhochschule gemacht. Und die Modeschule gibt es auch nicht mehr: 2017 wurde sie geschlossen, nachdem der Berliner Senat fand, sie halte die wissenschaftlichen Kriterien einer Hochschule nicht ein.
Victoria, 23
Direkt nach dem Abi begann ich, an einer sehr elitären Universität Chemie zu studieren. Ich fühlte mich ziemlich einsam: Die Eltern meiner Freunde (Ärzte, Pharmazeuten, Lehrer, Professoren) waren ihren Kindern gegenüber immer verständnisvoll. Ich hatte dagegen nie gelernt, wie man um Hilfe bittet und meine Eltern signalisierten mir schon in der Oberstufe: Wir sind raus, du musst das alleine hinbekommen.
Gemeinsam Übungsblätter machen, andere nach dem Lösungsweg fragen oder wo die Bibliothek der chemischen Institute ist – dafür war ich zu cool. Ich hatte Angst, dass jemand merkt, wie viel ich eigentlich nicht weiß. Als die Prüfungen anstanden, war dieser Druck kaum zu ertragen: Ich hatte den Anspruch, die Coolness aufrecht zu erhalten und ohne Lerngruppe trotzdem zu den Besseren zu gehören.
Ich fiel durch zwei Prüfungen. Im zweiten Semester hörte ich einfach auf zu lernen, obwohl ich eine mündliche Prüfung hatte. Ich vertraute mich meinem Tutor an und schmiss schließlich das Studium. Danach brach ich zusammen: Zwei Wochen hörte ich nichts mehr von meinen Eltern, ich trennte mich von meinem Freund und zerstritt mich mit meinem besten Freund. Trotzdem war es die beste Entscheidung: Ich habe inzwischen einen guten Job als Architektin.
Benedikt, 27
Nach meiner Ausbildung wollte ich unbedingt noch studieren und entschied mich für “Medien und Informationswesen”. Das hörte sich nach einem interessanten und abwechslungsreichen Studium an: Es war aufgebaut in Wirtschaft, Gestaltung, Technik und Informatik. Außerdem gab es keinen Numerus Clausus und jeder wurde angenommen. Aber schon nach dem ersten Semester habe ich verstanden, warum: Es wurde gnadenlos aussortiert.
Ich hatte mehrere Prüfungen in kürzester Zeit, für die man extrem viel lernen musste. In einer so genannten Modulprüfung wurden sogar vier verschiedene Fächer abgefragt: Physik, Mathe, Elektrotechnik und Digitale Medien. Über die Hälfte ist durchgefallen – einschließlich mir. Die Dozenten und Dozentinnen der Hochschule haben sich deshalb sogar schon beim Prüfungsausschuss beschwert, weil die Klausur einfach zu schwer ist. Bisher haben sie sie trotzdem noch nicht geändert.
Bei Informatik lernte man direkt die schwierigste Programmiersprache, womit ich große Probleme hatte. Generell hat mir dieser hohe technische Anteil des Studiums überhaupt nicht gefallen und ich musste mich immer zu den Vorlesungen quälen. Neben der Modulprüfung bin ich dann durch mehrere andere Prüfungen gefallen. Am Ende des dritten Semesters sagte man mir, dass ich ein Semester zusätzlich machen müsste, weil ich zu viele Prüfungen offen hatte.
Da war mir klar, dass es so nicht weitergehen kann. Ich brach ab und begann an der gleichen Hochschule “Mediengestaltung und Produktion” zu studieren. Dort ist der kreative und praktische Anteil wesentlich höher und bisher bin ich noch durch keine einzige Prüfung gefallen. Auch wenn es mich große Überwindung kostete, bin ich verdammt froh, gewechselt zu haben. Hätte ich davor aber nicht “Medien und Informationswesen” studiert, wäre ich vielleicht nie auf das andere Studium gekommen – also hatte die ganze Verzweiflung auch was Gutes.
Anna, 24
Nach meiner Kaufmännischen Ausbildung hatte ich keine Lust, direkt Vollzeit zu arbeiten. Also dachte ich, ein BWL-Studium wäre eine gute Idee. Ich war mir sicher, dass ich durch mein Vorwissen einen leichten Start haben würde. Das erste Semester holte mich aber direkt auf den Boden der Tatsachen zurück. Ich hatte wieder Mathe, musste bis zum Erbrechen Grundlagen von Personalstrukturen und Buchungssätze auswendig lernen und mit Excel programmieren. Das Pensum war heftig. Ich bin nur dank meiner Kommilitonen durch das erste Semester gekommen und bestand alle Klausuren außer Mathe.
Im zweiten Semester kam Statistik dazu. Die Professoren haben uns in jeder Vorlesung zu verstehen gegeben, dass es einer der härtesten Kurse überhaupt sei. Ich musste also extrem viel dafür lernen – und das zusätzlich zu meinem zweiten Mathe-Anlauf. Nochmal durchfallen kam auf keinen Fall in Frage. Wegen meiner Versagensangst schmiss ich mir eine Pille ein. Ich hoffte, so besser und effektiver lernen zu können.
Damit war ich nicht alleine. Viele Studierende machen das, um besser mit dem Druck umzugehen – dementsprechend leicht kommt man an die Teile ran. Ich bestand die Klausur. Auch in Mathe kam ich, trotz zwei Heulkrämpfen während der Prüfung, durch.
In den Semesterferien entschied ich mich dazu, das Studium vorerst auf Eis zu legen. Ich bin der Meinung, dass man keine Drogen konsumieren sollte, um sich durch sein Studium zu prügeln. Ich habe mich mittlerweile umorientiert und auch wenn meine Eltern mich gerne hätten weiter studieren sehen, bin ich überglücklich mit dieser Entscheidung.