Wir haben mit Flüchtlingen über den Integrations-Vertrag des ‘Blick’ gesprochen

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Am Dienstag veröffentlichte der Blick als Auftakt einer Artikel-Serie einen Integrationsvertrag für MigrantInnen und Flüchtlinge in der Schweiz. Diesen hat der Blick zusammengestellt, um auf das Versagen der Politiker des ganzen politischen Spektrums hinzuweisen und sich konstruktiv mit dem Thema Integration auseinanderzusetzen.

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Der Vertrag wird mit den Worten “Vertrag für alle Flüchtlinge! Alle, die hier bleiben wollen, sollen ihn unterschreiben” auf der Startseite angekündigt. Im Artikel selbst wird die Zielgruppe allerdings vergrössert: “Der Blick lanciert den Integrations-Vertrag für alle Migrantinnen und Migranten.” Umfassen soll der Vertrag wiederum die Werte, die für alle Bewohner der Schweiz unabhängig ihrer Nationalität gelten. Diese Werte werden in fünf Rechte, fünf Pflichten und fünf Normen umgemünzt.

Quelle: Blick

In den Artikeln, die auf den Integrationsvertrag folgen, werden vor allem die sich unterscheidenden Integrationsmassnahmen der Kantone kritisiert.Wir haben uns mit den zwei Flüchtlingen Younes und Malek darüber unterhalten, was für sie ein solcher Vertrag mit Integration und ihrer Realität zu tun hat.

VICE: Ich möchte von euch wissen, was Ihr über diesen Integrationsvertrag denkt. Ihr wärt ja wirklich davon betroffen.
Younes: Ich finde, dieser Vertrag passt gar nicht. Er ist voller Widersprüche. Dieser Satz zum Beispiel: “Das Schweizer Recht gilt in der Schweiz für alle”. Aber warum müssen dann nur Ausländer den Vertrag unterschreiben, wenn er doch für alle gilt? Das ist ein bisschen diskriminierend. Und dann stellen sich noch mehr Fragen: Wenn man nicht unterschreibt, was passiert dann? Oder wenn man unterschreibt, aber den Vertrag gar nicht versteht? Es gibt viele Sachen, die mir gar nicht gefallen an diesem Vertrag.
Malek: Es gibt nur eine Meinung, eine Schweizer Meinung. Man muss das machen, man soll das machen und wenn man das nicht unterschreibt, dann integriert man sich nicht. Integriert man sich automatisch, wenn man das unterschreibt? Lernst du die Sprache und bekommst eine Stelle?
Younes: Wie ist es denn für die zweite Generation, die hier geboren ist? Zum Beispiel dieser Schüler, der seiner Lehrerin nicht die Hand gegeben hat? Muss der auch unterschreiben? Alle Menschen sind gleich vor dem Gesetz und dann sollen nur die Flüchtlinge oder Ausländer hier unterschreiben.
Malek: Das hier zum Beispiel: “Man trägt Konflikte aus anderen Ländern und Kulturen nicht in die Schweiz.” Und da steht: “Alle dürfen über alles reden”. Wenn eine Demo stattfindet, die für Aleppo oder Syrien organisiert wird, darf ich dann nicht teilnehmen?

Gibt es denn einen Punkt, den ihr gut findet?
Malek: “Das Schweizer Recht gilt in der Schweiz für alle.” Das finde ich gut.
Younes: Das stimmt nicht.
Malek: Aber theoretisch ist es gut.
Younes: Aber wir brauchen nicht nur Theorie. Ist es wirklich so in der Gesellschaft? Ich gebe ein Beispiel. Man respektiert Frauen, aber ist das in der Realität so? Frauen werden anders behandelt, zum Beispiel bei der Arbeit. Eine Freundin von mir muss für ihre Krankenkasse mehr bezahlen, aber bekommt weniger Lohn als ihre männlichen Kollegen bei der Arbeit.
Malek: Ich will nicht übertreiben. Auch Schweizer Frauen verdienen weniger als Männer. Ein paar Punkte des Vertrags finde ich gut. “Der Glaube ist Privatsache” – das gefällt mir allgemein. Mir ist egal, ob du gläubig bist oder nicht. Aber hier liegt der Hund begraben, wie man sagt.

Bei den Pflichten?
Malek: Genau. Wie kann ich etwa die Landessprache lernen, wenn die Stadt oder Gemeinde mich nicht unterstützt? Man muss zuhause bleiben und kann erst in einen Kurs, wenn man eine Aufenthaltsbewilligung hat. Ich sage immer, wir haben Schwein gehabt, weil wir in Zürich sind. Aber im Aargau gibt es kein Projekt wie die Autonome Schule, die Sprachkurse anbietet. Wenn man im Bunker lebt und nicht weg darf, kann man doch auch keine Sprache lernen.
Younes: Kann ich diesen Punkt ein bisschen kritisieren? Ich finde auch, dass die Organisation der Flüchtlinge problematisch ist. Viele Nordafrikaner sprechen Französisch aber werden nach Zürich geschickt. Warum muss man es schwieriger machen? Tunesier und Libyer können besser Italienisch. Die könnten nach Chiasso oder so. Wer Deutsch lernen möchte, kann ja freiwillig hierher kommen.
Malek: “Jeder nimmt am Schweizer Alltag teil”. Wie kann man teilnehmen, wenn man eingegrenzt wird? Wenn man Sans-Papier ist, muss man sich immer verstecken. Und was ist der Alltag? Muss man im Coop und der Migros einkaufen und nicht in einem türkischen Laden? Und hier: “(…) keine Absonderung in Gruppen”. Die Schweizer bleiben oft unter sich. Die Leute haben Angst vor ihnen und sie vor den Leuten. 
Younes: Zum Punkt der Religion: Nicht alle sind frei in der Religion.

Wie meinst du das?
Younes: Das Minarettverbot. Wie kann man sagen, dass Religion unter persönliche Freiheit geht und Minarette verbieten? Wie ist das demokratisch?
Malek: Weil darüber abgestimmt wurde.
Younes: Wenn wir demokratisch abstimmen, jemanden zu verprügeln, ist das dann Demokratie?
Malek: Es gibt immer wieder Abstimmungen zum Islam, aber die Muslime haben nicht abgestimmt. Nur Schweizerinnen und Schweizer. Das ist ein Nachteil für die Demokratie, finde ich.

Dass nicht alle Einwohner abstimmen können? Man könnte argumentieren, dass muslimische Schweizerinnen und Schweizer abgestimmt haben.
Malek: Das sind ganz wenige Prozent.
Younes: Das macht den Unterschied in einer Gesellschaft. Wenn auch Minderheiten und schwache Gruppen das gleiche Recht haben wie die Mehrheit. Das ist der Unterschied zwischen einer Gesellschaft und dem Dschungel.
Malek: Ausländerinnen und Ausländer dürfen ja auch nicht abstimmen.
Younes: Ich verstehe nicht, wieso es ein Ausländergesetz gibt. Wie kann man da von der Gleichheit für alle Leute sprechen? Die meisten Gesetze sind gegen Ausländer und nicht mit ihnen. Diese Gesetze machen es schwieriger, sich zu integrieren. Koexistieren wäre für mich besser. Ich bin gegen jede Art von Extremismus und man integriert sich dort, wo man ist. Aber nicht mit diesem “müssen”. Die Leute fühlen sich wohl, wenn man gegenseitig interessiert ist und nicht einfach seine Traditionen ablegen muss. In manchen Ländern tragen Männer Kleider. Die Berber, die Kabylen…
Malek: Die Afghanen auch.
Younes: Ja. Wir sind hier und wir passen uns langsam an. Aber ich verstehe nicht, warum wir alle gleich sein müssen. Man behandelt Flüchtlinge immer noch so, als kämen sie aus der Dritten Welt, als wäre ihre Kultur weniger wertvoll.
Malek: Man begegnet den Flüchtlingen nicht auf Augenhöhe.

Was meinst du damit, dass diese Integration Angst macht?
Malek: Man muss alles machen, aber man darf nichts machen. Das macht Angst. Hier: “Jeder sorgt für sich selbst”. Ich möchte arbeiten, aber ich darf nicht, weil ich keine Bewilligung habe. Ich habe auch zwei, drei Stellen bekommen aber ich darf sie nicht annehmen, weil ich keine Bewilligung habe. Man muss einfach darauf warten, dass man die Bewilligung bekommt. Wenn man unter Schweizern ist und ein normales Leben führen kann, dann integriert man sich automatisch.

Wie könnte man diesen Vertrag verbessern? Oder wie würde euer Integrations-Vertrag aussehen?
Younes: Ich finde, so ein Vertrag geht nicht. Man muss das Ganze mit den Leuten besprechen, die es betrifft. Mit den Flüchtlingen. Man kann nicht für mich entscheiden, was ich mache.
Malek: Nein, das geht nicht.
Younes: Ich möchte zusammenfassend noch etwas sagen. Es stimmt, treffen unterschiedliche Kulturen aufeinander, schafft das Probleme. Wo es viele kulturelle und sprachliche Unterschiede gibt, entstehen Missverständnisse. Aber man muss miteinander sprechen. Man muss den Leuten logisch erklären, warum hier Gleichstellung von Männern und Frauen gilt, Homosexualität besprechen und Beweise bringen, dass alle gleich sind. Nicht einfach ein Blatt Papier vorlegen und nichts erklären. Man glaubt an nichts, von dem man nicht überzeugt ist. Wenn man diesen Vertrag unterschreibt und nichts versteht – was ist dann gewonnen?

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