Pete Doherty ist dieser Typ, der immer wieder mit seiner Heroinabhängigkeit zu kämpfen hatte und 2006 eine Spritze in eine laufende MTV-Kamera entleerte. Die Flüssigkeit sah sehr nach Blut aus. Damals war er mit dem Supermodel Kate Moss verlobt. Und natürlich kennt man ihn auch als Sänger der Babyshambles und The Libertines. Bildende Kunst assoziiert man nicht unbedingt mit ihm. Dennoch hat er so viele Bilder gemalt und das offenbar auch so gut, dass eine Berliner Galerie noch bis Ende des Jahres 41 seiner Werke präsentiert. Alle sind erstmals zu sehen und zwischen 2005 und 2022 entstanden. Das teuerste Kunstwerk, das die Janine Bean Gallery zeigt, kostet 35.000 Euro. Dafür erhält man aber zumindest kein langweiliges 0815-Gemälde, sondern ein Stück Hotelwand, die Doherty bemalt und beklebt hat.
Um zu verstehen, ob Pete Doherty nur ein weiterer planloser Promi-Maler ist oder ob seine Kunst wirklich gut ist, haben wir mit einer Expertin gesprochen. Harriet Häußler ist Kunsthistorikerin an der Freien Universität Berlin und erklärt uns die Werke des Musikers.
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VICE: Wie gehen Sie vor, wenn Sie eine Ausstellung wie diese und die ausgestellten Kunstwerke bewerten?
Harriet Häußler: Das ist immer gleich, egal um welche Art von Kunst es sich handelt: Ich informiere mich vorher darüber, was ausgestellt wird, sehe mir die Exponatenliste an und informiere mich über den Künstler. Wer ist der Künstler, was ist sein Hintergrund, welchen Einflüssen war er ausgesetzt? Hier war das einfach. Ich kannte Pete Doherty schon. Heute hat mich am meisten interessiert, wie die Kunst gehängt wurde. Ich wollte wissen, wie die Werke im Raum angeordnet sind. Pete Doherty hat auch mitgehängt und er hat mitbestimmt, was die Besucher als Erstes sehen sollen. Ganz vorne sieht man direkt eine Skulptur, die man mit Großbritannien assoziiert. Die Galerie wird also quasi mit Nationalstolz eröffnet. Ganz hinten in der Galerie gelangt man in eine Art Kabinett, in dem Pete Doherty seine tiefsten Gedanken präsentiert. Das hat etwas sehr Intimes und genau das wollte er erst ganz zum Schluss zeigen.
Ich habe keine Ahnung, wie ich die Kunst hier bewerten soll. Gibt es überhaupt Kriterien, an denen sich gute von schlechter Kunst unterscheiden lässt?
Es gibt eigentlich nur ein objektives Kriterium, alles andere ist subjektiv: Ist die Kunst epigonal oder nicht? Epigonal heißt: Hat der Künstler oder die Künstlerin ein Werk zum ersten Mal gemacht oder hat er andere Werke nachgeahmt? Handelt es sich um einen Kopisten oder um einen echten Schöpfer? Das ist die einzige Frage, die objektiv beantwortet werden kann.
Ist Pete Doherty ein Kopist oder ein Schöpfer?
Pete Doherty ist ein Schöpfer. Er schafft hier etwas Neues und Individuelles. Natürlich kann man Einflüsse von anderen Künstlern erkennen. Aber Pete Doherty ahmt nicht einfach nur nach, er nimmt alte Kunst und macht etwas Neues aus ihr. Thematisch vermengt er Themen wie Poetik, Politik, Identität, bildende Kunst und Musik. Auf der handwerklichen Ebene mischt er die Methoden: feine Zeichnungen, Schablonen, Collagen, unkontrollierte Pinseltropferei. Manchmal arbeitet er auch mit untypischen Materialien wie Blut.
Mit Blut? Denken Sie, das hat etwas mit seiner Vergangenheit als Heroinabhängiger zu tun?
Als Drogenabhängiger, der sich Heroin spritzt und deswegen oft mit seinem Blut konfrontiert ist, hat er sicher einen ziemlich persönlichen Bezug zu dem Thema Blut. Aber Blut war in der Kunst immer ein Thema. Blut war die erste Farbe der Menschheit. Denken Sie zum Beispiel an die prähistorischen Höhlenmalereien. Im Mittelalter hat man das Malen mit Blut und anderen Körperflüssigkeiten verboten, weil diese Flüssigkeiten als gottgegeben und somit als etwas Schöpferisches angesehen wurden. In der Renaissance wurde dieses Verbot mit der Nutzung von Tierblut wieder gebrochen. Seitdem haben immer wieder Künstler und Künstlerinnen mit Körperflüssigkeiten gemalt. Sehr bekannt sind Andy Warhols Oxidation Paintings: Warhol hat Leinwände mit Kupferfarbe bemalt und dann auf diese Bilder uriniert. Durch die chemischen Reaktionen sind auf der Leinwand Farbveränderungen entstanden.
Wie würden Sie den Stil von Pete Doherty beschreiben?
Als abstrakt-figurativ. Das bedeutet, dass Pete Doherty sowohl bewusste als auch unbewusste Figuren in seinen Bildern zeigt: Er zeichnet Figuren in den Hintergrund und lässt dann Farbe darüber tropfen. Diese bewussten Figuren erscheinen dadurch zurückhaltend und der unbewusste Vordergrund wilder. Das Unbewusste überschattet das Bewusste teilweise.
Und was bedeutet das konkret?
Wir haben einen Vordergrund und einen Hintergrund, also zwei Gründe. Was wir da sehen, bezeichnet man in der Kunst als Palimpsest: Ein Hintergrund, auf den Dinge drauf und drüber geschrieben werden. Und das macht Pete Doherty ganz oft. Er überschreibt seine eigenen alten Arbeiten. Er erschafft etwas und zu einem späteren Zeitpunkt erschafft er daraus noch einmal etwas Neues. Aber ich will nicht in die Psychoanalyse gehen und das auf sein Leben beziehen.
Welche Themen erkennen Sie in der hier ausgestellten Kunst?
Nehmen wir zum Beispiel diese Skulptur: Man sieht einen Frauenkörper, der einen leuchtenden Lampenschirm auf dem Kopf trägt, und am Fuß der Figur ist eine Gitarre angelehnt. Die Farben des Gewands – Blau, Weiß, Rot – sind natürlich die Farben Großbritanniens. Frankreich hat aber dieselben Farben in der Flagge. Und wussten Sie, dass Doherty heute mit seiner französischen Frau in der Normandie am Meer lebt? Zu welcher Flagge fühlt er sich heute zugehörig? Wahrscheinlich zu beiden. Die Form des Gewands erinnert mich an die schroffen Wellen, die in der Normandie am Ufer brechen. Und wenn man das so sieht, wirkt der Lampenschirm beinahe wie ein Leuchtturm, der ja Seefahrern beim sicheren Ankommen helfen soll. Ich denke, Doherty sucht auch nach seinem Zuhause, nach seiner Identität. Die Gitarre ist natürlich ein Symbol für die langen Jahre, in denen er zusammen mit diesem Instrument als Musiker die Welt bereist hat und vielleicht kein richtiges Zuhause hatte.
Sehen Sie noch andere Referenzen?
Doherty beschäftigt sich auch mit der historischen Vergangenheit Großbritanniens. Das Kunstwerk rechts neben der Skulptur zeigt ein altes Werbeplakat für ein Konzert der Libertines – der Band, in der Doherty gespielt hat. Die Informationen über den Ort und Zeitpunkt des Auftritts sind wieder in den Farben Großbritanniens – Rot, Blau und Weiß – mit Schablonen auf das Papier gesprüht worden. Außerdem steht dort “Hongkong” in denselben Farben. Das ganze wurde auf ein altes Werbeplakat für eine chinesische Tabakmarke aufgetragen. Da muss ich sofort an die Opiumkriege denken, die zur Folge hatten, dass Hongkong eine britische Kolonie wurde. Natürlich denke ich dabei auch an die Millionen chinesischen Menschen, die im Zuge des Opiumhandels schwer abhängig wurden. Großbritannien und Abhängigkeit: Hier findet sich Pete Doherty natürlich auch selbst wieder.
Kann man an den Kunstwerken erkennen, dass Pete Doherty ein ziemlich bewegtes Leben geführt hat?
Nein, das würde ich so nicht ausdrücken. Natürlich sehen wir sein Blut, auf einem Bild ist auch die Handynummer seines damaligen Dealers zu sehen. Vor allem aber kann man erkennen, was für ein Mensch Doherty ist: Einer, in dem es unaufhörlich arbeitet. Einer, der extrem bewegt ist und seine Gedanken immer wieder hin und her dreht. Die Themen, die ihn beschäftigen, sind seine britische Identität und generell die Geschichte des Vereinigten Königreichs. Das Bild, das Wort, die Musik, das ist alles unglaublich bedeutend für ihn. Man kann ihn nicht nur auf seine Drogenvergangenheit reduzieren. Dafür ist er viel zu vielschichtig, wie man in dieser Ausstellung sehen kann.
Wo finden Sie dieses unaufhörliche Denken in Pete Dohertys Bildern?
Auf Dohertys Bildern treffen unglaublich viele Macharten und Themen aufeinander. Doherty hat Poster abgerissen, neu gestaltet, Schichten davon wieder abgekratzt und neu zusammengesetzt. Mit Schablonen und seiner Handschrift wirft er ganz direkt wieder ganz andere, neue Themen auf und stellt Verbindungen her, die es vorher gar nicht gab. Auch bei der Schaufensterpuppe hat er alte Farbe abgekratzt und neue aufgetragen – er sucht unaufhörlich nach verschiedenen Ebenen. Besonders hier erkennen wir seine eigene Vielschichtigkeit. Es geht immer wieder um das Suchen und insbesondere um die Suche nach seiner eigenen Identität.
Worin unterscheidet sich Dohertys Kunst von anderer zeitgenössischer Kunst?
Dohertys Kunst wirkt gar nicht zeitgemäß. Diese Werke hätte man genauso gut vor 60 Jahren ausstellen können. Aktuelle Kunst arbeitet viel mit Digitalität und sozialen Medien – das finden wir hier überhaupt nicht vor. Im Gegenteil, ein großer Teil der ausgestellten Kunst wurde mit einer Schreibmaschine hergestellt und ist vor roten Samt platziert. Das ist eher ein Zurück zu vergangenen Zeiten.
Und was sagt Ihnen das?
Das sagt mir, dass er sich zumindest in seiner bildenden Kunst nicht mit digitalen Themen auseinandersetzt. Er sucht in dieser modernen Welt seinen Platz. Er weiß nicht so recht, wie und wo er sich eingliedern kann, und fühlt sich eher in der analogen Kunst zu Hause.
Viele berühmte Menschen, zum Beispiel Sylvester Stallone, Courtney Love oder George W. Bush, begannen zu malen, als sich ihre Karrieren etwas abgekühlt hatten. Ist solche Promi-Kunst eine Bereicherung für die Kunstwelt oder wäre sie meist irrelevant, wenn ihre Urheber nicht so berühmt wären?
Es gab nur sehr vereinzelt in der Kunstgeschichte Künstler, die in anderen Bereichen und in der bildenden Kunst gleichmäßig erfolgreich und gut waren. Aber ein berühmter Sänger, Politiker oder Schauspieler macht nicht per se schlechte Kunst, nur weil er in einem anderen Bereich schon sehr bekannt ist. Aber Sie haben recht: Die meiste Kunst berühmter Personen ist nur deswegen bekannt, weil die Künstler in anderen Bereichen erfolgreich sind. Ob das die Kunst irrelevant macht, kann ich nicht beurteilen. Am Ende zählt nur, ob ein Bild gut ist oder nicht. Ob ein Sylvester Stallone Bilder malt oder ein Maler auf der Pont Neuf in Paris: Für das Bild ist es egal, ob der Maler berühmt ist oder nicht.
Ist die Kunst, die wir hier sehen “gut”?
Ja, ich finde die hier ausgestellte Kunst wirklich gut. Pete Doherty ist auf so vielen Ebenen durch und durch ein Künstler. Ich finde es bemerkenswert, wie er Poesie, Musik und bildende Kunst miteinander vereint. Pete Doherty kann künstlerisch auf jeden Fall mit anderen bildenden Künstlern mithalten.
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