Eins vorweg: Falls du diesen Artikel angeklickt hast, um herauszufinden, was eigentlich bitte “Balearic” sein soll: Diese Frage wird weiter unten fachmännisch geklärt. Für jetzt solltest du nur wissen, dass es auf der weltweit beliebten Partyinsel Ibiza auch mal Veranstaltungen gegeben hat, bei denen man nicht mehre hundert Euro am Abend lassen musste, um irgendwie Spaß zu haben. Carl Cox war damals noch in UK unterwegs und auf Ibiza wurde weder über die Überfüllung der Insel diskutiert noch Batzen von Geld in Clubwände eingemauert.
Die Musik dieser Zeit war jedenfalls einzigartig und nicht nur deshalb knüpfen Talamanca System mit ihrem Debütalbum an die Hochzeit des “Balearic” an. Hinter der Band stecken drei nicht gerade unbekannte DJs, Produzenten und Labelbetreiber: Gerd Janson, Phillip Lauer und Mark Barrott.
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Letzterer betreibt das Label International Feel Recordings, auf dem Talamanca System, das Album, gerade erschienen ist. Zweiter firmiert auch unter dem Namen Lauer und bildet mit Ersterem das großartige Duo Tuff City Kids. Und Gerd Janson macht natürlich nicht nur das Label Running Back, sondern hält auch unser Skype-Telefonat zusammen, als die drei und ich uns zum Interview verabredet haben. Wir wollen über ihre Plattensammlungen sprechen und herausfinden, wie Balearic diese tatsächlich sind. Janson sitzt bei Lauer daheim, die Kamera an, die Platten parat. Nur Mark will nicht so recht mitspielen und schenkt uns kein Bild …
Gerd: Jetzt willst du bestimmt gleich wieder der coole Typ mit der riesigen Plattensammlung sein!
Mark: Hey, die hatte ich schon, als ihr drei euch noch Gedanken, über die Farbe eurer Windeln gemacht habt. Damals gab es sogar nur Platten. Ich hatte Sachen wie die allererste Pressung von “Blue Monday”. Nur heute will ich halt bewusst keine mehr haben.
Was war denn eure erste Platte?
Mark: “Denis (Denee)” von Blondie, als 7″. Das muss damals kurz vor Weihnachten 1977 gewesen sein. Zuhause war ich total hin und weg beim Hören. Aber wenn ich ehrlich bin, war meine erste Platte aber “I Taut I Taw A Puddy Tat”. Sollte ich eigentlich verschweigen.
Gerd: Die kennt in Deutschland wohl niemand.
Mark: Doch klar, das war mit diesem gelben Comic-Kanarienvogel.
Gerd: Tweety!
Mark: Ha, genau. Nach Blondie kamen dann so Bay City Rollers und die New Romantics. Später, da gab es im Osten Sheffields einen riesigen Plattenladen, bin ich mit dem Bus durch die ganze Stadt gefahren, um alle Ultravox-Singles zu kaufen.
Gerd: Als Drittklässler habe ich mir auf einem Straßenmarkt Tina Turner “We Don’t Need Another Hero” gekauft. ( Mark bricht in Gelächter aus) Hey, was gibt es da zu lachen?
Mark: Das ist ja noch schlimmer als Tweety!
Gerd: Auf gar keinen Fall! Das ist doch super … Balearic. Ich hab sie gekauft, weil ich noch zu jung war, um den Film dazu, Mad Max 3: Beyond Thunderdome, gucken zu dürfen. In der 5., 6. Klasse begann ich dann, mir alles zu holen, was irgendwie interessant war: Run DMC und Iron Maiden.
Phillip: Bei mir ging es mit Public Enemy It Takes A Nation Of Millions To Hold Us Back los. Guckt mal:
Oha, Klassikeralarm, die Beach Boys Pet Sounds.
Gerd: Ich habe nur die Beatles stets mehr gehasst als die Beach Boys. Es schauderte mir, wenn die beim Hausaufgabenmachen im Radio liefen. Bei den Beach Boys fand ich dann besonders ihren späten Hit “Kokomo” aus dem Tom Cruise Film schrecklich.
Mark: Gibt es irgendetwas, das mehr balearic ist, als “God Only Knows”?!
Gerd: Sadé vielleicht. Und Nina “99 Luftballons”.
Mark: Aber nur in der deutschen Version!
Habt ihr denn Gina X Performance im Schrank? Das war doch auch ein erster Hit aus Deutschland, als der Balearic Sound entstand.
Gerd: Die Platte haben wir alle, aber für mich ist das eher Electroclash. “Masimba Bele” von The Unknown Cases aber ist so ein deutscher Balearic-Erfolg. Da war Helmut Zerlett, der Schlagzeuger von Harald Schmidt, dabei. Die hast du doch auch Phillip.
Phillip: Habe ich? Äh, nee.
Mark: Für mich ist deutsche Balearic eher New Age Musik, Downtempo. So Kram, wie ihn Wolf Müller ausgraben und ich dann von ihm stehlen würde. Italienischer Pop wiederum ist sehr balearic, anders als der deutsche.
Phillip: Ist das dann hier balearic, Mark? ( hält Righeira “No tengo dinero” hoch)
Mark: Nö.
Was macht denn den richtigen Balearic Sound aus?
Mark: Alfredo ( Fiorito, Resident DJ im Amnesia der 80er) hat Grace Jones und Front 242 gespielt, Kraftwerk und Proto House, Ambient und klassische Musik. Das war die Vorlage für alles. Aber wie die meisten musikalischen Bewegungen entstand auch diese aus praktischer Notwendigkeit: In den Ibiza Clubs der 80er haben die DJs sehr wenig Geld bekommen, um sehr lange zu spielen. Diese Zeit mussten sie füllen. Alfredo konnte nur im Winter mal nach New York fliegen und musste sich dort eben alles kaufen, was gerade verfügbar war. Und dann kamen das tolle Wetter, die Drogen und dieser freie Inselgeist hinzu und die Szene war entstanden.
Gerd: Danke für den Essay! Mit Garage Music und Larry Levan war es ja ähnlich.
Mark: Oder nimm Sheffield. Die Stadt sieht aus wie Bochum und Düsseldorf. Wenn The Human League nicht inmitten des lärmenden industriellen Sheffields aufgewachsen wären, hätten sie ganz anders geklungen.
Gerd: Aber waren die nicht Kunstschüler?
Mark: Wer in Sheffield auf die Kunsthochschule gehen will, sollte besser um sein Leben rennen.
Hört, hört.
Mark: Als 15-Jähriger hat mich das total beeinflusst, dass solche Bands um die Ecke wohnten und du sie mit ihren Synthesizern auf der Straße gesehen hast. The Human League und New Order waren für mich immer mehr Punk als die Sex Pistols. Die Attitüde ist wichtiger als die Musik.
Phillip: Ich hasste Depeche Mode zum Beispiel immer, auch wenn ich sie mittlerweile zu schätzen gelernt habe.
Gerd: Der große Bruder eines Schulfreundes hatte Penthouse And Pavement von Heaven 17. Das haben wir uns stundenlang angehört.
Phillip: Du warst ein Popper!
Mark: Aber Phillip, Pop war damals das Beste überhaupt!
Gerd: Naja, ich habe auch deutschen Punk wie Canal Terror gehört. Nur, an die erinnert sich heute niemand. Aber meine Aggressionen waren für diese Musik nie groß genug. Ich war früher auch ruhiger als die anderen Kinder, wurde problemlos erwachsen. Mit Musik brauchte ich mich nicht emotional verbinden, ich musste sie nur gut finden. Deshalb gefielen mir auch Depeche Mode und ihre tollen Synthies. Bis sie dann eine Rockband wurden … Nach Enjoy the Silencesahen sie auch einfach nicht mehr so toll aus wie in den 80ern. Sie sind eine Pop-Band für Leute, die Techno mögen, denk nur mal an Marcel Dettmann.
Phillip: Ach guck mal, hier ist ein deutscher Punk-Klassiker: die Splitsingle von Destroyer und Seven Days Of Samsara.
Mark: Wie heißt nochmals diese deutsche Band, bei der ich mich gar nicht erst versuchen werde, mich mit der Aussprache ihres Namens zu blamieren?
Alle: Einstürzende Neubauten!
Mark: Das war ein interessanter Ansatz: Baumaschinen auf der Bühne – eher Performance-Kunst denn Musik.
Gerd: Das beste Einstürzende Neubauten-Lied ist immer noch “People Are People” von Depeche Mode.
“Das beste Einstürzende Neubauten-Lied ist immer noch ‘People Are People’ von Depeche Mode.” – Gerd Janson
Wo wir schon über Städte und Musik sprechen: Mark, Phillip und Gerd sind in der Gegend von Frankfurt a.M. zu Hause. Was verbindest du mit diesem Ort?
Mark: Sven Väth “L’Esperanza”. Das war auch ein großer Balearic-Hit. Könnt ihr euch noch an Simone (Angel) erinnern? Sie hat damals auf MTV Aphex Twin und andere Dance Acts interviewt. Zu Zeiten von Acid House hat Haçienda-DJ Graeme Park immer auch mal wieder in Sheffield aufgelegt. Da war aber immer schon um 3, 4 Uhr morgens Schluss. Danach haben wir uns entweder irgendwo in der Landschaft bekifft, oder eben “Chill Out Zone” mit Simone angeguckt. Da lief dann auch dieser Sven Väth-Track.
Phillip: Warst du auch in der Haçienda, Mark?
Mark: Nee, ich bin immer in die Leadmill mit eben Graeme Park gegangen. Das war noch bevor Micro Genres entstanden, wie Gerd jetzt sagen würde. Der andere Club war freitags das Occasions Techno City. Sven Väth war damals wohl ein Star in Ibiza, aber keinesfalls in Sheffield. Balearic gab es hier nicht.
Gerd: War The Future Sound Of London “Papua New Guinea” nicht Balearic?
Mark: Doch total, aber das war damals wie “Right on Time” von Black Box und A Guy Called Gerald mit “Voodoo Ray” einfach überall präsent und nicht exotisch. Und Nightcrawlers mit “Let The Music Move You” …
Gerd: Die hießen Night Writers und der Track “Let The Music (Use You)”. Nightcrawlers waren die mit “Push the Feeling On.”
Mark: Du hast so ein großartiges Gedächtnis, Gerd!
Lasst uns mal über Talamanca System und euer Album sprechen. Was für Sachen habt ihr während der Studiotage sonst gehört?
Phillip: Es ist ein gemeinsamer Traum von uns, mal zusammen im Studio Musik zu hören. Aber das geht ja nicht, weil wir produzieren.
Mark: Du musst wissen, dass es bei uns zwei Geheimnisse gibt. Erstens, ich höre keine Musik. Zweitens, diese zwei arbeiten als hätte man einen Film mit zwanzigfacher Geschwindigkeit abgespielt. Niemand ist so schnell und effizient.
Gerd: Danke, aber du bist auch nicht so schlecht!
Mark: Ach komm, ich bin faul.
Gerd: Ohne dich wären wir nicht Talamanca System. Das war ein Kompliment.
Mark: Es gab einen Track, “Ancona Ancona”, den habe ich euch mitgebracht. Dann bin ich zu meinem Zahnarzt nach Nürnberg gefahren, denn ich vertraue nur deutschen Zahnärzten. Zurück in der Nähe von Frankfurt, wo Phillip sein Studio hat, hat Gerd mit uns Unmengen von Gemüse und Chilischokolade gekauft und dann haben sie mich vor ein Keyboard gesetzt. Nach acht Stunden kamen wir aus dem Dachgeschossstudio gekrochen und hatten zehn komplexe Ideen für das Album fertig. Ich war mental total erschöpft, aber Gerd tat so, als ob er nicht kochen könnte, also musste ich das auch noch machen.
Wie ist das Projekt überhaupt entstanden?
Mark: Gerd und ich sind beide Labelbetreiber und waren als solche stets in Kontakt gewesen. Als er dann wieder mal in Talamanca abgestiegen war, wo er immer auf Ibiza bleibt, kam er freundlicherweise bei mir im Hinterland vorbei. Damals hatte ich angefangen, mehr den Laptop und Controller zum Produzieren zu nehmen, also schenkte ich ihm einen nun ungenutzten Synthesizer. Und Mr Janson ist von wunderbarer Bescheidenheit.
Gerd: Ich war total verlegen, Mark.
Mark: Jedenfalls spielte ich ihm dann den ersten und einzigen Song vor, den ich jemals mit der “Akai MPC” App auf dem iPad aufgenommen habe. Er fand es großartig und wollte sich mit einem Remix für den Synthesizer bedanken. Das wurde dann die erste Talamanca System Single, “Balanzat”, und direkt ein riesiger Erfolg. Lustigerweise hatte ich beim Schreiben direkt an “Pacific State” von 808 State gemacht. Das hört man ja auch.
Danke, dass du es ansprichst, Mark. Kein Gespräch über Balearic wäre komplett, ohne über den “The Loon” Sound zu sprechen, den auch 808 State verwendet haben.
Mark: Kennst du die Geschichte dahinter? ( Eine Diskussion über die erste Verwendung und Herkunft des Samples entsteht. Am Ende setzt sich Gerd durch, folgende Artikel sind aber – da sind sich alle einig Pflichtlektüre: “… the Story of a Sample That Keeps Coming Back” und “Classic Tracks: 808 State ‘Pacific State’”)
Gerd: Peter Gabriel hat das als erstes benutzt. Von einer Library Disc des Emulator II. Das noch bevor 808 State ihn in einer Akai-Soundbibliothek fanden.
Phillip und Gerd, ihr habt ihr den Sound auch bereits auf einem Remix für Sparky benutzt. Phillip: In einem Turm nahe meines Hauses lebt ein Turmfalke. Sein Schrei ist die deutsche Variante eines Seetaucherschreis, was Gerd und mich dann dazu gebracht hat, nach diesem Sample zu suchen. Mark: Bei “Balanzat” haben wir allerdings einen Frosch verwendet, glaube ich. Brian Eno schreibt in A Year With Swollen Appendices, das sind seine Tagebücher von 1995, dass er seine “japanischen Frösche” auf ein Stück gepackt habe. Und dann kommentiert er sinngemäß: “Die habe ich vor Jahren aufgenommen und jetzt nehme ich die immer zur Rettung, wenn irgendwas scheiße klingt.”
Gerd: In unserem Track “Conga Cage” wiederum haben wir so gut wie jedes erdenkliche Tier eingebaut, außer den Seetaucher.
Habt ihr Lieblingstracks im Schaffen der jeweils anderen?
Mark: Oh Gott, das ist doch eine schreckliche Frage!
Phillip: Ich glaube, ich muss aufs Klo.
Mark: Es gibt einen Track am Anfang, des Tuff City Kids-Albums, den ich sehr mag.
Phillip: Der mit dem Slap Bass!
Mark: Genau, “Wake People”. Den hätte ich gerne selbst gemacht.
Phillip: Du hast auch unter falschem Namen auf deinem eigenem Label veröffentlicht, oder Mark?
Mark: Klar, aber die GEMA habe ich immer korrekt eingetragen. ( Phillip hält eine neue Platte hoch.)
Phillip: Maurice Fulton Presents Stress Why Put Me Through It. Die habe ich rausgesucht, weil er jetzt in Sheffield wohnt.
Mark: Maurice ist wie ich: Wo immer er lebt, ist nie Teil der Szene. Niemand könnte ahnen, dass er bereits so lange in der Stadt ist. Ich finde viele seiner Sachen richtig clever.
Phillip: Ja, das Album habe ich oft gespielt, als ich 2001, 2002 selbst meine ersten Platten veröffentlichte. Und hier noch was anderes …
Bjørn Torske Trøbbel. Was Norwegisches.
Phillip: Die kam auf Tellé raus. Das ist eine Platte, die es Rock- und Punk-Fans einfach macht, plötzlich Dance Music zu mögen. Denn die Drumsamples sind echt und roh, das ist kein steriler Techno.
Mark: An dieser Stelle muss ich die Dokumentation Northern Disco Lightsempfehlen, da wird Torskes enormer Einfluss seit den frühen 90ern entsprechend gewürdigt. Für International Feel Recordings wiederum war das Album Silent Movie von Quiet Village (erschien 2008 bei Studio !K7) sehr prägend. Ich lebte damals in Uruguay und fuhr viel mit dem Auto an der Atlantikküste herum.
Phillip: Steckst du eigentlich hinter dem Act Rocha? Mark: Ja, das bin ich. Der Name kommt von einem Departamento in Uruguay. Phillip: Die gefiel mir sehr gut. Die, wo es auch eine Remix 12″ dazu gab: “Feel the Love”.
Mark: Der Remix kam von Thomas Bullock alias Welcome Stranger. Tim Sweeney hat diesen damals sehr unterstützt. Thomas ist kurze Zeit später nach London gezogen.
Gerd: Jetzt verkauft er Mezcal.
Letzte Frage, weil es eben auch um Dokumentationen ging: Gerade wurde Denk ich an Deutschland in der Nacht mit u.a. Ricardo Villalobos vorgestellt. Habt ihr eine Lieblingsplatte von ihm?
Mark: Also wenn ich Klingeltonmusik hören will, dann ist das ideal, aber ich brauche Musik mit Melodie.
Gerd: Villalobos macht keine Klingeltonmusik! Er macht Musik für Anrufe, bei denen niemals jemand abnimmt. Außerdem hat er ein großartiges Gefühl für Melodien. Hört euch mal das Album Alcachofa an. “Waiworinao” hat sogar Gitarren – super Balearic!
Talamanca System Talamanca System ist bei International Feel Recordings erschienen.
Dieser Artikel ist vorab auf THUMP erschienen.
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