Um 7:23 Uhr morgens steht im Zeitschriftenladen am Berliner Hauptbahnhof eine sehr wache Zwölfjährige in der Schlange zwischen gähnenden Pendlern. Die Pendler kaufen FAZ und WiWo und Wasserflaschen zum gefühlten Preis eines Kleinautos. Die Zwölfjährige kauft, ziemlich aufgeregt, Webstars 2017 – das neue Panini-Album, in das man YouTube-Stars einkleben kann, plus vier Tüten Aufkleber, alles zusammen für 4,35 Euro. Seit heute gibt es Webstars 2017 zu kaufen – stolze Erstauflage von 100.000 Exemplaren, dazu vier Millionen Sticker mit YouTuber-Selfies darauf. Statt Messi und Ronaldo kleben bald die Lochis und Tilo Jung auf Schultischen und Klos.
Ja, sagt die Zwölfjährige, sie sei extra dafür früh aufgestanden. Ihre Lieblings-YouTuber seien die PrankBros und Dagi Bee. Sie schätzt, dass sie von den 200 deutschen YouTubern, die im Heft vorgestellt werden, etwa ein Drittel kenne. Für weitere zielgruppenspezifische Nachfragen steht sie aber leider nicht zur Verfügung, weil sie sonst zu spät zur Mathe kommt.
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Also ist man allein da, mit diesem Heft und seinen vielen unbekannten Gesichtern darin und noch mehr Fragen, die man die Zwölfjährige gern gefragt hätte. Kommt ihr die Idee eines Stickeralbums nicht so prähistorisch vor wie Disketten oder ein Handy ohne Internetzugang? Mussten die Macher des Albums den YouTubern erstmal erklären, was ein Panini-Album ist? Schließlich sieht ein großer Teil der Gesichter, die man in diesem Album sammeln kann, kaum älter aus als 16. Und wie kann es sein, dass man selbst als erwachsener Mensch, der drei Viertel seiner Wachzeit vor dem Computer verbringt, noch nie von 95 Prozent dieser YouTube-Stars gehört hat?
In Zeiten, in denen YouTuber Konzerthallen füllen, bis zu 46.000 Euro im Monat verdienen und Telefone und Duschschaum mit ihrem Namen verkaufen, wäre es vielleicht an der Zeit, sie kennenzulernen. Also, Webstars 2017: Auf der ersten Doppelseite lernt man, dass Chris Halb 12 seinen Namen ausgesucht hat, weil er nie vor halb 12 mittags aufsteht, sowie dass FittiHollywood gern darüber bloggt, “warum Mädchen so lange auf dem Klo brauchen” und “wie man Hausaufgaben aus dem Weg geht”. Aber immerhin gibt es ein bekanntes Gesicht, unseren geschätzten VICE-Autoren und Helden des unerschrockenen Selbstversuchs: Michi Buchinger!
Leider ist die Hoffnung, dass das Heft als eine Art Nachschlagewerk für eine bis dato unergründete YouTuber-Welt funktionieren könnte, schnell zerschlagen. Zu jedem einklebbaren Star gibt es zwar einen kurzen Einleitungstext, aber dessen Inhalt ist oft so mager wie die Beauty- und Modeblogerinnen auf den pink-rötlichen Seiten des Hefts. Über celines_ erfährt man, dass “makellose Selfies und eine Vorliebe für Beauty ihr Steckenpferd sind”. Farina Opoku hat “inzwischen auch im echten Leben tolle Modeljobs an Land gezogen”, denn: “kein Wunder: Schon ihre Mutter posierte einst für den Playboy.”
Sowieso kommt man bei den Beauty- und Modeblogerinnen schnell durcheinander. Sie ähneln sich fast wie die Miss Koreas der vergangenen 20 Jahre:
Viele YouTube-Namen, die man auch als Mensch jenseits von 18 kennen könnte – Shirin David, Gronkh, Dagi Bee, Bibi, LeFloid –, werden zwar vorgestellt, tauchen aber nicht als Sticker auf. “Manche haben sich nicht rechtzeitig gemeldet oder wollten ein Honorar”, sagt Oliver Wurm, der dieses Panini-Heft gemeinsam mit Alexander Böker und Axel Dittmann gemacht hat. “Wir haben nur mit Bloggern zusammen gearbeitet, die uns ihr Selfie ohne Geld zur Verfügung gestellt hatten.” Bei der Auswahl der Blogger haben sich die drei auch von ihren Kindern und Neffen beraten lassen. “Ich schätze, dass das Heft zu 60 Prozent von Jugendlichen gekauft wird und zu 30 Prozent von ihren Eltern”, sagt Wurm.
Niemand möchte hier abstreiten, dass viele YouTuber das Wissen dieser Welt mehren: Freekickerz, deren Selfies man ebenfalls ins Heft kleben kann, bringen ihren Zuschauern Fußballtricks bei. Der Heimwerker Fynn Kliemann zeigt, wie man eine Terrasse pflastert oder einen Hühnerstall baut. Aber wer auf gut Glück ein paar Namen aus dem Heft googelt, sieht auch YouTuber-Karrieren, die auf Anleitungen fußen, wie man Pickel mit Zahnseide ausdrückt oder BH-Kissen als Make-up-Schwämmchen verwendet. Oder einen Channel, der sich darum dreht, wie sich zwei Brüder gegenseitig Streiche spielen. In dem letzten Video fällt einer auf einen senfgefüllten Berliner rein.
Trotzdem ist es beruhigend, dass manche Dinge sich nie ändern. Dass Streiche und Pickel wichtige Themen bleiben. Und dass Teenager ihre Idole nicht nur auf dem Bildschirm haben wollen, sondern auch auf ihrem Federmäppchen.