Jeder von uns kennt das: In einer Woche musst du die 20-seitige schriftliche Arbeit abgeben, von der du schon seit einigen Monaten weisst, deren Umsetzung du aber schon alleine aus Gewohnheit bis zum letzten Moment vor dich hin geschoben hast.
Das ist ein beschissenes Gefühl und für die meisten von uns traurige Realität. Bei mir fing es bereits in der Primarschule an: Wieso soll ich zu Hause sitzen und Hausaufgaben machen, während alle anderen draussen ihren Spass haben? Und abends durfte ich dann bis spät in die Nacht hinter meinem Schreibtisch Bruchrechnen üben. Mit der Zeit wurde ich zwar älter, aber nicht klüger. Die zwingenden körperlichen und geistigen Veränderungen durch Pubertät, Alkohol und Marihuana erleichterten mir dabei das Leben nicht. Die Nächte wurden länger, die Arbeiten anstrengender und ich nicht wirklich produktiver.
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Zu Beginn dachte ich noch, ich sei einfach nur faul. Doch irgendwann las ich zum ersten Mal etwas von Prokrastination und war froh, dass es nicht nur für die Angst vor Erdnussbutter am Gaumen einen Fachbegriff gibt (ja, Arachibutyrophobie), sondern auch für die mich befallende Studentenkrankheit schlechthin.
Um mehr über das Phänomen herauszufinden, habe ich mich mit der Fachpsychotherapeutin Imke Knafla und der Psychologin Andrea Kramer von der ZHAW Zürich getroffen. Sie haben mir versichert, dass Prokrastination keine psychische Krankheit ist und dass ich mir trotzdem sicher sein kann, dass ich nicht einfach nur faul bin:
VICE: Warum prokrastinieren wir?
Imke Knafla: Es ist so eine einfache Frage, aber doch gibt es keine einfache Antwort darauf. Zum einen ist da die Motivation. Das ist die angeborene Energie, die wir aufgrund bestimmter Bedürfnisse zu befriedigen versuchen. Diese Bedürfnisse motivieren uns zu Handlungen.
Zum anderen hat unser Verhalten auch immer Konsequenzen. Oft wird unser Verhalten von den kurzfristigen Konsequenzen gesteuert. Beispielsweise bei einer Diät: Ich weiss, dass ich den Kuchen nicht essen darf, weil die langfristigen Konsequenzen schlecht sind, aber die kurzfristigen Konsequenzen—also der Geschmack—sind wiederum zu verlockend, als dass man es bleiben lassen könnte. Und das wiederum ist ein Aufschiebe-Verhalten. Warum Menschen aber prokrastinieren hat in der Regel ganz individuelle Gründe.
Andrea Kramer: Neben der Persönlichkeit hängt Prokrastination aber auch von der Situation ab, in der sich jemand befindet. Das Aufschiebeverhalten an sich, ist uns allen nicht fremd, aber um es wirklich Prokrastination nennen zu können, braucht es noch andere Faktoren.
Gibt es einen spezifischen Typ Mensch, bei dem Prokrastination am häufigsten vorkommt?
Andrea Kramer: Anhand von Persönlichkeitseigenschaften? Nein. Es gibt eine Studie, die aufzeigt, dass es Persönlichkeitsmerkmale gibt, die zusammen mit Prokrastination korrelieren. Ein Beispiel wäre die Ablenkbarkeit: Prokrastinierer lassen sich eher ablenken als Nicht-Aufschieber. Man kann sagen, dass Leute, die prokrastinieren, gewisse Persönlichkeitmerkmale gemeinsam haben. Man hat auch herausgefunden, dass sich in weniger strukturierten Studiengängen wie Psychologie oder Soziale Arbeit mehr Prokrastinierer befinden als in den strenger strukturierten.
Ist Prokrastination eine Krankheit?
Imke Knafla: Nein. Es gibt zwar provisorische Diagnosekriterien, jedoch wird Prokrastination momentan nicht als psychische Krankheit anerkannt.
Andrea Kramer: Ich bin mir aber sicher, dass starke Prokrastination einen Krankheitswert hat, nur ist sie momentan einfach nicht in unserem Diagnosemanual (ICD-10) vertreten.
Kann Prokrastination auch krankhaft werden?
Andrea Kramer: Ja, aufgrund des ständigen Aufschiebens ist es möglich in grosse Selbstzweifel zu verfallen. Darunter leidet wiederum die Leistung. Falls auch ein Leistungsdruck von aussen besteht, kann das zu Selbstabwertung und Folgedepressionen führen.
Imke Knafla: Dazu kommen noch Angst und Scham. Die betroffene Person fängt an, sich zurückzuziehen, möchte mit niemandem mehr reden, weil sie sich selber nicht erklären kann was in ihr vorgeht. Sie schwänzt deswegen womöglich die Uni und so weiter. Das ist aber kein linearer Verlauf. Prokrastination muss nicht zwingend zu Depressionen führen.
Jeder Student würde wahrscheinlich denken, dass er an Prokrastination leidet. Welche sind konkrete Anzeichen davon?
Andrea Kramer: Ein wichtiger Punkt ist die Arbeitstechnik. Fehlen mir konkrete Werkzeuge, etwas anzugehen? Das kommt häufig bei Absolventen vor, die ohne grossen Aufwand durch die Schule gekommen sind und an der Universität zum ersten Mal in ihrem Leben vor intellektuellen Herausforderungen stehen, die sie nicht mehr einfach so bewältigen können. Dann sind sie an einem Punkt, an dem sie diese versäumten Arbeitstechniken brauchen. Da sie diese aber nicht haben, rutschen viele in das Aufschiebe-Verhalten hinein.
Imke Knafla: Das Aufschieben muss zum Hauptgrund werden, wieso man seine Ziele nicht mehr erreicht. Der Leidensdruck wird dann für den Betroffenen zum Problem. Bei Prokrastination herrscht keine Erleichterung nach einer bestandenen Prüfung, sondern ein schlechtes Gewissen. Das Gefühl, man hätte besser sein können, habe es aber wieder nicht hingekriegt. Prokrastination ist ein immer wiederkehrendes Verhaltensmuster, welches nicht nur im akademischen Bereich, sondern auch im Alltag oder im Berufsleben vorkommt.
Bei den meisten Menschen kommt der Moment, an dem der Druck gross genug ist, dass sie mit der nötigen Arbeit anfangen. Bei mir nicht. Wieso ist das so und kann man diesen Moment künstlich erzeugen?
Imke Knafla: Nur weil man Druck braucht, um mit einer Arbeit anzufangen, ist es noch nicht Prokrastination. Bei Prokrastination baut sich der Druck bis ins Unerträgliche auf. Es gibt ja Leute die planen sich das tatsächlich so ein. Prokrastinierer haben kein Zeitmanagement, sie wollen zwar früher anfangen, können es aber nicht. Sie können diese Zeit, in der sie die Arbeit aufschieben auch nicht geniessen. Diesen Druck aber selber künstlich zu erzeugen, ist nicht wirklich möglich, weil man ja den Abgabetermin im Vornherein weiss.
Was ist der Unterschied zwischen Prokrastination und Faulheit? Wo zieht man die Grenze?
Andrea Kramer: Jemand, der einfach faul ist, hat keine Ansprüche an sich selbst. Er spürt diesen Druck nicht. Demjenigen ist es schlichtweg egal, auch wenn er die Prüfung nicht besteht. Jemand der prokrastiniert hat Leistungsansprüche. Er will etwas erreichen, kann es aber nicht.
Es gibt Menschen, bei denen einfach die Sicherung durchbrennt, wenn sie vor einem Berg von Aufgaben stehen. Hat das ebenfalls mit Prokrastination zu tun? Wie nennt man das?
Imke Knafla: Im Lauf des Lebens lernen wir, Prioritäten zu setzen und uns zu organisieren. Einige lernen es weniger, andere mehr. Das gehört ebenfalls zu den Arbeitstechniken, die wir uns während unserer Ausbildung aneignen. Das hat mit Selbstkontrolle zu tun und somit auch mit Prokrastination. Ein bestimmter Name für dieses Phänomen ist mir jedoch nicht bekannt.
Was kann man gegen Prokrastination tun? Gibt’s eine Lösung, die nicht anstrengend ist?
Imke Knafla: Ja das wäre schön, oder? Man kann bestimmte Arbeitstechniken erlernen, mit denen man sich eine realistische Arbeitszeiteinteilung antrainieren kann. Ein Beispiel wären kleine Rituale, die man vor Beginn einer Arbeit einführt. Man trinkt immer einen Tee und lüftet das Zimmer oder so. Diese Rituale sollten aber klar definiert sein und keinesfalls darf etwas dazwischen kommen, ansonsten gewinnen die Alternativpräferenzen wieder Überhand. Studierenden empfehle ich auch gerne, in Arbeitsgruppen zu gehen. Über eine Gruppe wird man noch eher dazu gezwungen, ein striktes Zeitmanagement einzuhalten. Es geht vor allem darum, Verbindlichkeiten zu schaffen.
Imke Knafla: Es gibt auch viel Selbsthilfeliteratur mit Arbeitstechniken. Man kann unter anderem mit Belohnungen arbeiten. Zum Beispiel sagt man sich: „Wenn ich es schaffe, heute zwei Stunden intensiv zu lernen, darf ich in die Badi gehen.”
Was würden Sie den Studenten zum Anbruch des neuen Semesters zum Thema Prokrastination raten?
Imke Knafla: Ich würde ihnen raten, nicht zu lange zu warten, da man schnell in einen Teufelskreis geraten kann. Sprecht rechtzeitig mit eurem Dozenten/Betreuer, bevor Scham und Versagensängste Überhand gewinnen.
Andrea Kramer: Wenn man schon anfangs Semester Angst vor den Prüfungen hat, die im Januar stattfinden, weil man fürchtet, zum wiederholten Mal in ineffiziente Verhaltensmuster zu fallen und das die Freude am Studium beeinträchtigt, ist ein Leidensdruck da. Dann sollte man unbedingt das Gespräch mit einer Vertrauensperson der psychologischen Beratungsstelle suchen.
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