Trauer läuft nie nach dem gleichen Muster ab. Es gibt keine richtige oder falsche Art und Weise, mit dem Verlust eines Menschen klarzukommen. Zwar teilt die Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross Trauer in fünf Phasen ein, aber trotzdem geht man nicht einfach so von einer in die andere über. Wie so oft im Leben sind die Dinge hier viel komplizierter. Wenn man einen geliebten Menschen verliert, stolpert man wie benommen durch einen Emotionsnebel aus Schmerz, Liebe, Fassungslosigkeit, Akzeptanz und allem dazwischen.
All diese Gefühle schlugen vergangenen Freitag auch den 17.000 Menschen entgegen, die sich vor der Bühne der Hollywood Bowl in Los Angeles versammelt hatten. Anlass war ein Gedenkkonzert zu Ehren des verstorbenen Linkin Park-Frontmans Chester Bennington. Zusammen mit einer Reihe von illustren Gästen (von Sum 41s Deryck Whibley bis hin zu Alanis Morrisette) gedachten die fünf übrigen Bandmitglieder ihrem ehemaligen Sänger.
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Es ging jedoch nicht ausschließlich um Chester Bennington. Unter dem Motto “Linkin Park and Friends Celebrate Life in Honour of Chester Bennington” wurde bei dem Konzert nicht nur das Leben des Verstorbenen gefeiert, sondern auch die Leben aller Menschen, denen Benningtons Musik etwas bedeutet. Außerdem stand Linkin Park seit dem Suizid des Frontmans am 20. Juli zum ersten Mal wieder gemeinsam auf der Bühne. Dabei war von vornherein klar, dass sowohl die Band als auch das Publikum diese Form der Befreiung unbedingt brauchten.
Linkin Parks anderer Frontman Mike Shinoda führte durch den Abend und ging in dem feierlichen Aspekt der Veranstaltung voll auf. Während des gesamten dreistündigen Konzerts strahlte er aufgrund der überwältigenden Unterstützung durch Fans und Kollegen wie ein Honigkuchenpferd. Er war sichtlich stolz darauf, dass die von ihm mitorganisierte, komplexe Veranstaltung wie am Schnürchen lief. Und ihm machte es richtig Spaß, wieder auf der Bühne zu stehen und den Schmerz so zu verarbeiten, wie Bennington das gewollt hätte (und selbst auch jahrelang getan hat). Mit seiner unumstößlichen positiven Einstellung verarbeitete Shinoda den Verlust und feierte gleichzeitig das Leben. Es schien so, als bräuchten er und seine Bandkollegen genau das, um über die Tragödie hinwegzukommen.
Aber auch die Fans brauchten dieses Konzert. Im August berichtete der Rolling Stone, dass die National Suicide Prevention Hotline einen Anrufanstieg von 14 Prozent verzeichnete, als die Nachricht vom Tod Benningtons die Runde machte. Die vier Leinwände an den Seiten der Bühne zeigten, welche emotionale Achterbahn das Publikum während der Veranstaltung durchlief. Oftmals standen die Bilder im Kontrast zur feierlichen Stimmung auf der Bühne: Viele Fans sangen unter Tränen mit, andere schrien die Lyrics kathartisch heraus und wieder andere starrten nur wie unter Schock stehend in Richtung Bühne, wo kein Special Guest der Welt die Leere in ihnen füllen konnte.
i-D-Video: “Grime & Emo”
Der offizielle Teil der Show begann mit einer – anders kann man es eigentlich nicht sagen – langgezogenen Werbung für Mercedes-AMG: Ein silberner Sportwagen mit Linkin Park-Logos sauste über eine Rennstrecke, Bennington saß freudig jubelnd auf dem Beifahrersitz. Eigentlich schon ein komischer Beginn für ein Gedenkkonzert. Und diesen Gedanken schien nicht nur ich zu haben, denn beim offiziellen Live-Stream war dieser Clip nicht zu sehen. Aber vielleicht kenne ich mich auch nur nicht aus und die Werbung ist schon seit langem Bestandteil von Linkin Park-Konzerten. Zumindest erklärt sie die beiden Mercedes-Fahrzeuge, die an den Eingängen der Konzerthalle ausgestellt waren.
Meine persönliche Verbindung zu Linkin Park ist seit 14 Jahren eigentlich nicht mehr existent. Als junger Teenager war die Band jedoch mein Ein uns Alles. Ich weiß noch genau, wie ich Hybrid Theory zum ersten Mal in meinen CD-Player legte und mit Meteora im Discman auf meinem Skateboard durch die Gegend rollte. Benningtons Texte und seine facettenreiche Stimme fingen genau dieses Gefühl des Andersseins ein, das ich damals verspürte. Aber lange bevor Minutes to Midnight im Jahr 2007 auf den Markt kam, hatte sich mein Geschmack schon verändert.
Hätte ich die Band damals weitergehört, wäre mir aufgefallen, dass sich Linkin Parks Geschmack ebenfalls verändert hatte. Auch angesichts der Zusammenarbeit mit Mercedes machten Anfang des Jahres erneute “Sellout”-Vorwürfe die Runde – Vorwürfe, auf die Bennington bekanntermaßen wütend reagierte. Dabei hat sich der Sound von Linkin Park schon seit Jahren weg vom Nu Metal und hin zum Pop bewegt. Und ist es überhaupt möglich, dass eine Band, deren Debütalbum sich Millionenfach verkauft hat, zu sehr dem Kommerz verfällt? Dieser Aspekt hat von Anfang an zur Laufbahn der Kalifornier gehört – ganz egal, welche musikalische Richtung sie über die Jahre einschlugen.
Die ersten beiden Songs des Abends kannte ich nicht. Trotzdem sorgte Shinodas gefühlvolle Darbietung von Benningtons Lyrics und Gesangsparts für Gänsehaut. “Weep not for roads untraveled,” sang er. “Give up your heart left broken/ And let that mistake pass on/ ‘Cause the love that you lost wasn’t worth what it cost.” Dann veränderte sich die Stimmung, denn Linkin Park spielten eines ihrer bekanntesten Lieder. Allerdings kam “Numb” an diesem Abend komplett ohne Vocals aus und die Bühne war mit Ausnahme des im Spotlight stehenden Mikrofons komplett abgedunkelt. Definitiv der gefühlsmäßig intensivste Moment des Konzerts. Zwar sangen einige Fans mit, aber im Vergleich zu den 17.000 Stimmen später bei “In the End” war das quasi nichts. Stattdessen starrten die meisten Anwesenden nur ehrfürchtig geradeaus. Die emotionale Stimmung, die DJ Z-Trip vor dem Auftritt Linkin Parks geschaffen hatte, war wieder da.
Und sie sollte nicht mehr weggehen. Die verschiedenen Gastsänger, die Benningtons Parts mal mehr, mal weniger erfolgreich vortrugen (Takahiro Moriuchi von ONE OK ROCK war ein Höhe-, Jonathan Davis von Korn eher ein Tiefpunkt), zeigten einmal mehr auf, wie einzigartig die Stimme des Verstorbenen war. Zwischen den Liedern wurde durch diverse Videos klar, wie beeindruckend groß Benningtons Stimmumfang war. Außerdem erzählten bekannte Musiker wie Paul McCartney oder Metallica von seinem sympathischen Charakter und von seiner professionellen Arbeitseinstellung.
Im Laufe des Abends reihte sich dann ein ergreifender Moment an den nächsten. Die Gastmusiker traten mit eigenen Stücken auf und performten auch zusammen mit Linkin Park. Alanis Morissette spielte zum Beispiel zum ersten Mal ein noch unveröffentlichtes Lied über den öffentlichen Druck, der mit psychischen Gesundheitsproblemen einhergeht. Und Blink 182s “I Miss You” wurde von der Pop-Punk-Band wirklich herzergreifend dargeboten. All das erreichte jedoch seinen Höhepunkt, als Benningtons Witwe Talinda auf die Bühne kam und sich für die Unterstützung während der vergangenen Monate bedankte. Zudem sprach sie darüber, wie wichtig unsere mentale Gesundheit sei: “Wir müssen endlich erkennen, dass sie genauso wichtig ist wie die körperliche Gesundheit.” Ein zustimmender Jubel des Publikums folgte. Als sie danach erklärte, dass alle Einnahmen des Konzerts dem One More Light Fund zugute kämen und eine weitere Initiative für mentale Gesundheit namens “320” (Chester Bennington hatte am 20.3. Geburtstag) gegründet würde, brachen die Anwesenden nochmals in frenetischem Jubel aus.
Unterm Strich hat das Konzert genau das erreicht, was erreicht werden sollte: Es machte sowohl die Musiker als auch das Publikum glücklich. Und es kam eine ganze Menge Geld für wichtige Wohltätigkeitsorganisation zusammen. Nicht nur Benningtons Leben wurde gebührend gefeiert, sondern auch die Leben der Menschen aus seinem Umfeld. Viele dieser Menschen sind Popstars. Deswegen ist es gut möglich, dass der für mich so komisch wirkende kommerzielle Aspekt der Veranstaltung einfach dazugehörte.
Vor dem letzten Song der Zugabe wandte sich Shinoda noch einmal Mal an das Publikum: “Keine Ahnung, wo uns die Zukunft hinführt. Aber egal wo wir auch landen werden, wir wissen eure Unterstützung auf jeden Fall zu schätzen. Wir werden euch auf dem Laufenden halten. Was aber am wichtigsten ist: Behaltet Chester in euren Herzen und macht ihn stolz!” Als sich die Kameras anschließend wieder auf die Menge richteten, waren viel weniger Tränen als vorher zu sehen. Fast alle Anwesenden schienen nun genauso zu strahlen wie die Musiker auf der Bühne. Dank dem Gedenkkonzert sind sie in der nächsten Trauerphase angekommen und finden hoffentlich bald ihren Frieden.
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