Ein Mann macht im Krankenhaus in Mossul einen Hörtest
Fotos: Sebastian Castelier 

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Mossul: "Ich habe mehr Leute mit blutenden Ohren gesehen, als ich zählen kann"

Luftschläge der Koalition halfen, die irakische Stadt vom IS zu befreien. Doch unter den Folgen der Bomben leiden Tausende bis heute.

"Ich fühlte einen schrecklichen Schmerz im Ohr." So beschreibt der 13-jährige Aqeel Qais Saadaldean den Moment, als sein Elternhaus im Mai 2017 von Bomben getroffen wurde. "Unsere höchste Priorität war es, am Leben zu bleiben." Aqeel und seine Familie treffen wir im Krankenhaus von Mossul. Unter den Folgen des Luftangriffes leidet der Junge bis heute. Denn selbst wenn man sehr laut mit ihm spricht, kann er das Gesagte kaum hören.

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Aqeel ist einer von Tausenden Menschen im Irak, die zwischen 2014 und 2017 ihr Gehör verloren. Damals, als Bomben auf Mossul regneten, um die Stadt aus den Händen des sogenannten Islamischen Staates (IS) zu befreien. Einige werden mit der Zeit ihr Gehör zurückgewinnen, bei anderen sind die Hörnerven für immer durch den Lärm des Kriegs zerstört.

"Ich habe mehr Leute mit blutenden Ohren gesehen, als ich zählen kann", sagt der 34-jährige Krankenpfleger Saif Saadaldean. Er leitete während der Rückeroberung von Mossul eine improvisierte Notaufnahme. "Wir hatten keine Medikamente, also stopften wir ihnen einfach Wattebäusche in die Ohren."

Fußgänger laufen an Gebäuden in Mossul vorbei, die während des Kampfes gegen den IS zerstört wurden

Fußgänger laufen an Gebäuden in Mossul vorbei, die während des Kampfes gegen den IS zerstört wurden | Foto: Sebastian Castelier

Seit 2014 hat die Anti-IS-Koalition unter der Führung der USA über 14.000 Luftangriffe im Irak durchgeführt, berichtet die unabhängige Beobachtergruppe Airwars. Die IS-Stellungen in Mossul waren eines der Hauptziele, Bilder aus der zerstörten Stadt gingen um die Welt. Die langfristigen physischen Folgen für die Bevölkerung bleiben größtenteils unsichtbar. Explosionen können das menschliche Gehör dauerhaft schädigen. Neue medizinische Forschungen ergeben zwar, dass man die Schäden rückgängig machen kann – dafür müssen Betroffene jedoch sofort behandelt werden. In einem Kriegsgebiet ist dies in der Regel nicht möglich.

Mit stolzem Gesichtsausdruck steht der 57-jährige Abdulwahab Saleh Hamid auf der Treppe der örtlichen Moschee und unterhält sich mit seinen Freunden. Da er selbst kaum hören kann, spricht er sehr laut. Er trägt einen weißen Dishdasha, das traditionelle irakische Männergewand. "Wer ist Schuld an meinem Hörverlust?", fragt er, seine Stimme bebt vor Wut.

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"Der Krieg", antwortet einer seiner Freunde düster. "Egal, ob es der IS, die irakische Armee oder die Allianz war – es war der Krieg."

Hamid verlor 60 Prozent seines Hörvermögens, als eine Bombe sein Haus zerstörte. Zwei seiner Familienmitglieder wurden getötet. "Seitdem höre ich nur noch pssssshhhh", sagt er.

Abdulwahab Saleh Hamid kann kaum mehr hören, seit sein Haus während eines Luftangriffes im April 2017 zerstört wurde

Abdulwahab Saleh Hamid kann kaum mehr hören, seit sein Haus während eines Luftangriffes im April 2017 zerstört wurde | Foto: Sebastian Castelier

"Dem Krieg ist es egal, ob du reich oder arm bist. Bei einer Bombenexplosion sind alle gleich", sagt ein Hals-Nasen-Ohren-Arzt aus Mossul, der anonym bleiben möchte. Etwa zehn Prozent seiner Patienten haben durch den Krieg Hörschäden erlitten. Wie viele Menschen insgesamt betroffen sind, wisse er nicht. "Wir haben keine genauen Statistiken", sagt er. Viele Menschen, die sich die Behandlung nicht leisten können, melden sich gar nicht erst bei einer Klinik.

Nachdem der IS im Juli 2017 aus Mossul vertrieben worden war, seien täglich rund 20 neue Patientinnen und Patienten in Mossuls zentrales Krankenhaus gekommen, weil sie nichts mehr hörten. Auch heute haben die Ärzte noch viel zu tun.

Patientinnen und Patienten warten im Krankenhaus von Mossul auf einen Termin beim Spezialisten

Patientinnen und Patienten warten im Krankenhaus von Mossul auf einen Termin beim Spezialisten | Foto: Sebastian Castelier

Die irakischen Behörden unterstützten Betroffene kaum. "Ich habe alle Schritte unternommen, um finanzielle Hilfe zu bekommen", sagt Hamid, der seinen Fall bei unterschiedlichen humanitären Organisationen und Regierungseinrichtungen in Bagdad vorgebracht hat. "Ich bin ein gebildeter Mann, ich habe Jura studiert und jetzt höre ich nichts mehr. Wie muss es anderen mit schlechterer Ausbildung erst gehen? Sie bekommen nichts."

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Dr. Jamal Naser arbeitet im zentralen Krankenhaus Mossuls. Auf den Gängen vor seinem Behandlungszimmer warten Patientinnen und Patienten. Abgesehen von einer Gruppe Kinder, die in einer Ecke spielt, sind die Minen finster und traurig. Naser sagt, dass seine Patienten im besten Fall an einer Trommelfellperforation leiden, die von alleine wieder heilen kann – oder schweren Schäden am Hörnerv erlitten haben. "Die Nerven können nicht repariert werden", sagt er. Ein Hörgerät könnte den Patienten helfen. Aber für solche Geräte fehle seinem Krankenhaus das Geld.


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"Wir können die Menschen nur untersuchen und feststellen, wie viel Prozent sie noch hören. Wir können keine Hörgeräte oder Medikamente verteilen", sagt Saadallah Abdulaziz Khuder, der Leiter des Krankenhauses in Mossul. "Wohlhabende Leute können sie in Spezialgeschäften kaufen."

Der 13-jährige Aqeel weiß nicht, ob sein Gehör dauerhaft geschädigt ist. Seine Familie kann eine private Behandlung nicht bezahlen. Im Monat leben sie von umgerechnet 100 Euro.

Der 13-jährige Aqeel Qais Saadaldean ist seit einer Bombenexplosion im Mai 2017 zu 60 Prozent hörgeschädigt

Der 13-jährige Aqeel Qais Saadaldean ist seit einer Bombenexplosion im Mai 2017 zu 60 Prozent hörgeschädigt | Foto: Sebastian Castelier

Aqeel steht neben seiner Mutter. Obwohl seine Familie sehr laut spricht, versteht er sie kaum. "Andere Kinder machen sich über mich lustig und nennen mich 'den Jungen ohne Ohren'", sagt er. Sein Onkel hat ihm eine Hörhilfe geschenkt, die er für umgerechnet 30 Euro in der Apotheke gekauft hat. Doch das Gerät funktionierte nicht gut, es summte ständig. Saadaldean musste es schließlich herausnehmen.

Während er auf eine Behandlung wartet, sagt der 13-Jährige, er träume davon, später selbst Arzt zu werden. Er möchte seinem Land in der Zeit nach dem IS dabei helfen, wieder auf die Beine zu kommen.

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