Es ist 18 Uhr an einem Samstagabend, als ich zwischen all den glitzernden Lichtern am Hamburger Rathausmarkt auf der Jagd nach ein paar Senioren bin. "Schnell, schnell, der Posaunenchor!", ruft eine ältere Dame und ihr bunter Schal fliegt im Gegenwind fast von ihrem Hals. Wie ein flinkes Wiesel schiebt sie sich durch die Menge. Ich laufe ihr hinterher und merke, dass es gar nicht so leicht ist, meine Beute zu verfolgen. Die Stadt ist so brechend voll, dass man schon vom Stehenbleiben Hämatome der Ellenbogen-Drängler bekommt.
Der angebliche "Posaunenchor" besteht eigentlich nur aus einer Posaune. Und einem Euphonium und zwei Trompeten. Die Dame steht zusammen mit ihrem Mann in der Frontrow einer Menschentraube. Ihre Augen leuchten und nach ein paar andächtig klingenden Liedern lässt ihr euphorisches Klatschen sie wie einen Groupie aussehen. Sie heißt Hilde, ist 74 Jahre alt, und sagt, dass sie sich schon den ganzen Tag auf diese Musikgruppe gefreut habe. "Das ist noch richtige Musik." Ihr Mann Günther, 76 Jahre alt, nickt, er habe letztens im Auto das Radio angemacht und der Krach sei nicht auszuhalten gewesen. "Früher war alles besser, oder?", frage ich. "Das wissen Sie nicht, dafür sind sie viel zu jung", kontert Günther. Aber er findet, ich sehe alt genug aus für einen Glühwein. Los geht es.
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Der erste Becher Glühwein ist nicht gerade die warme Umarmung, die ich mir gewünscht habe. Die Hälfte platscht auf den Boden, als ich versuche, den nächsten Stehtisch zu erreichen. Ich nehme einen Schluck und verbrenne mir die Zunge (Anfängerfehler). Hilde will wissen, warum ich allein unterwegs bin. Ich erzähle ihr, dass ich etwas über das Leben lernen möchte. Ihr Lachen mündet in einem Husten. "Was wollen Sie denn wissen?", fragt Günther. Ich fackle nicht lange: Was ist Liebe? "Vertrauen!", schießt es so schnell aus Hilde heraus, dass sie als Kandidatin einer Buzzer-Quizshow gute Chancen hätte.Die beiden kommen aus Pinneberg, 30 S-Bahn-Minuten von Hamburg entfernt, und sind seit 52 Jahren kinderlos verheiratet und glücklich. "Man wurde damals einander vorgestellt", sagt Günther, "Auf einer Feier." Er will wissen, ob man sich heute auch noch auf Partys kennenlernt. Auch, aber eher über Tinder. Ratlose Blicke. Ich zeige die App und versuche, respektvoll zu erklären, dass es dort nicht immer um "Liebe" geht, schließlich sind wir noch so schüchtern versteift wie bei einem Blind-Date. "Das ist ja wie im Katalog", sagt Hilde. Das fände sie nicht gut. Liebe muss durch Gespräche entstehen, durch ehrliche Zuneigung, die nicht auf einem Wisch von links nach rechts basiert. Ihr Mann betrachtet die App und fragt: "Und dort bieten sich junge Menschen an, die niemanden finden?"
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Der erste Becher: Klassischer Glühwein und die Liebe
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Lieber trinken als tindern
Der zweite Becher: Heidelbeerglühwein und Kriminelle
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Das Hamburger Rathaus (links) und der angebliche "Posaunenchor"
Der dritte und vierte Becher: Apfelpunsch mit Calvados, weißer Glühwein und Gott ist attraktiv
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Der fliegende Weihnachtsmann schwebt alle zwei Stunden über die Köpfe
Der fünfte Becher: Eierpunsch mit Schuss (widerlich) und der Eklat
Highlight: Nach dem Auftritt werden Fotos mit dem Weihnachtsmann gemacht
Der sechste Becher: Ich glaube, Kirschglühwein … Erkenntnis: Geld macht glücklich
Nur noch der klebrige Glühwein auf dem Boden erinnert an die feuchtfröhliche Stimmung