Mitten in Wien lässt die Republik einen jüdischen Friedhof verrotten
Foto vom Autor

FYI.

This story is over 5 years old.

wien

Mitten in Wien lässt die Republik einen jüdischen Friedhof verrotten

Den jüdischen Friedhof Mitten in Wien kennt fast niemand. Die Gräber überwuchern und verfallen. Doch für die Sanierung ist angeblich kein Geld da.

So sollte kein Friedhof aussehen: umgestürzte Bäume, dichtes Gestrüpp, dazwischen zerbrochene Grabplatten. Manche Gräber sind fast völlig zerstört, teilweise stehen sie sogar offen.

Wir sind mitten in Wien, gleich neben dem Gürtel, einer der wichtigsten Straßen der Stadt. Fast direkt an der U-Bahn-Linie 6, in Wien-Währing, erheben sich die Mauern eines weithin unbekannten jüdischen Friedhofs. Über 30.000 Menschen liegen hier begraben. Doch der Friedhof ist in einem katastrophalen Zustand – und kaum jemanden kümmert es.

Anzeige

Ein Besuch des Friedhofs ist heute nur nach Erlaubnis möglich, die Gefahr von Unfällen ist zu groß. Die Vorsichtsmaßnahme scheint nicht übertrieben: Im Boden gibt es immer wieder Löcher, die kaum zu sehen sind. Erst jüngst ist ein ganzer Baum umgestürzt und hat mehrere Grabreihen zerstört. Die schwer beschädigten Grabplatten liegen einfach in der Wiese. Vor dem Betreten des Friedhofs muss ich dann auch eine Bestätigung unterschreiben, dass ich das Gelände auf eigene Gefahr betrete.

"Dieser Friedhof ist eigentlich ein enorm wichtiges Kulturgut der Stadt Wien. Alle Jüdinnen und Juden aus dem Großraum Wien wurden bis 1870 auf dem Friedhof in Währing begraben", erzählt Tina Walzer. Die Historikerin kämpft seit Jahren für die Restaurierung des Friedhofs und ist die Expertin, wenn es um seine Geschichte geht.

Foto vom Autor

Erst nach 1870 durften auch an anderen Orten jüdische Friedhöfe angelegt werden. Zuvor hatte die kaiserliche Regierung das verboten. "Der letzte Mensch wurde hier 1898 beigesetzt. Die Nazis zerstörten dann Teile des Friedhofs", erzählt Walzer. Das ist auch der Grund, warum manche Gräber offen stehen. "1943 haben die Nazis diese Gräber aufgebrochen. Doch bis heute haben wir nicht genug Geld, um das in Ordnung zu bringen“, sagt sie.

Die Nazis holten sogar 400 Schädel von Verstorbenen aus den Gräbern. Im Naturhistorischen Museum machten sie dann ihre rassekundlichen Untersuchungen mit den sterblichen Überresten. Nach dem Krieg wurden nur noch 200 Schädel gefunden. Wo die anderen sind, ist bis heute unbekannt. 2000 Gräber wurden komplett zerstört. Angeblich sollte dort ein Bunker errichtet werden, der dann nie gebaut wurde.

Anzeige

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde über diesen Teil des Friedhofs dann einfach ein Wohnbau errichtet. Ob das auch geschehen wäre, wenn es sich um einen christlichen Friedhof gehandelt hätte? Tina Walzer jedenfalls erzählt vom alltäglichen Antisemitismus der Nachkriegszeit. "In diesem Areal lag dann Bauschutt, klarer Weise gab es auch Ratten. Im Wiener Planungsamt hieß es als Reaktion, das sei eben typisch für die Juden."

"In diesem Areal lag dann Bauschutt, klarer Weise gab es auch Ratten. Im Wiener Planungsamt hieß es als Reaktion, das sei eben typisch für die Juden."

Durch die übrig gebliebenen Teile des Friedhofs gibt es heute nur wenige klar erkennbare Durchgänge. Der letzte Friedhofsgärtner, Theodor Schreiber, wurde von den Nazis im Konzentrationslager ermordet. Bereits seit 1938 gibt also nicht einmal mehr einen Gärtner für die Anlage. Die Folgen sind klar sichtbar: Die nahegelegenen Ausläufer des Wienerwalds breiten sich aus, überall wachsen Bäume und Sträucher. Die ursprüngliche Anlage ist inzwischen bereits unter 20 bis 30 Zentimeter Kompost begraben.

Den Kampf mit der Vegetation haben nun Freiwillige aufgenommen. Jennifer Kickert ist eine der AktivistInnen, die die Organisation der Freiwilligen vorantreiben. Sie ist Gemeinderätin der Grünen in Wien, seit 2006 organisiert sie auch vier bis fünf Mal im Jahr Führungen über den Friedhof.

"Die Menschen, die hier begraben wurden, haben das Wien geprägt, das ich kenne", sagt Kickert. Für sie ist der Friedhof "ein wichtiger kulturhistorischer Ort für Wien". Die Freiwilligen entfernen Sträucher, pflegen die Grabsteine und versuchen, Schäden zu beseitigen.

Anzeige

Ganz unterschiedliche Menschen beteiligen sich an der Arbeit, "auch eine türkische Gruppe", wie Walzer stolz erzählt. Besonders freut sie das Engagement vieler Schülerinnen und Schüler. "Während der gemeinsamen Arbeit auf dem Friedhof können wir auch viel über die jüdische Geschichte Wiens erzählen", erklärt Walzer. "Denn die Grabsteine verraten auch sehr viel über ihre Besitzer."

Foto: imago | SKATA

So ist etwa anhand der Gräber zu erkennen, wer orthodox war und wer liberal. Die Grabstätten spiegeln damit die politischen Veränderungen im Lauf der Jahrzehnte. Traditionelle orthodoxe Grabsteine sind klein, die Schrift ist Hebräisch und weist immer nach Osten, Richtung Jerusalem. Vor allem die ältesten Grabsteine sind so gestaltet.

"Die französische Revolution war dann ein wichtiger Stichwortgeber für aufgeklärte Kreise in Österreich", erzählt Walzer. Für viele aufgeklärte Jüdinnen und Juden galt Religion bald als abergläubisch und altmodisch. Das brachte allerdings auch die Frage auf, was nun der Kern einer jüdischen Identität sein könnte.

Einige Jüdinnen und Juden wurden komplett säkular und lösten sich in der Mehrheitsgesellschaft auf. Stark verantwortlich dafür war auch der weit verbreitete Antisemitismus – das Leben konnte deutlich leichter werden, wenn jemand im Umfeld nicht als Jude bekannt oder erkennbar war. Auch die eigenen Namen wurden entsprechend geändert. Tina Walzer erzählt, dass das in der jüdischen Community oft für Gelächter sorgte: "Es wurde der Witz von einem Maurice Lafayette erzählt. Zuvor war der Name noch Moritz Wasserstrahl und in Wirklichkeit hieß er Moische Pisch."

Anzeige

"Es wurde der Witz von einem Maurice Lafayette erzählt. Zuvor war der Name noch Moritz Wasserstrahl und in Wirklichkeit hieß er Moische Pisch."

Andere ersetzten die religiöse Ebene durch eine nationale Identität. Eine neue Strömung, der Zionismus, reagierte auf den Antisemitismus mit dem Wunsch nach einem eigenen Staat. Theodor Herzl, der bekannteste Vertreter dieser Strömung, schlug vor, dass der neue Staat entweder in Palästina oder Argentinien errichtet werden sollte.

Herzl stand dabei ganz in der Tradition des europäischen Kolonialismus und seiner Überlegenheitsphantasien. Für den Fall, dass Palästina gewählt würde, versprach er in seiner zentralen Schrift "Der Judenstaat": "Für Europa würden wir dort ein Stück des Walles gegen Asien bilden, wir würden den Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei besorgen."

All diese Entwicklungen und auch das neue Selbstbewusstsein des jüdischen Bürgertums spiegeln sich am Friedhof in Währing wider. So sehen die jüngeren Grabplatten oft bereits deutlich anders aus als die älteren. Die Grabsteine werden größer und pompöser. Sie sind auf Deutsch statt Hebräisch beschriftet und manchmal sogar mit Gedichten versehen. Das sind die Gräber von Menschen aus liberalen und säkularen Kreisen. "Wer sich nicht so ganz sicher war, hat einfach beide Sprachen verwendet", sagt Walzer lachend.

Wie fast jeder Friedhof zeigt der Friedhof in Währing dabei auch die Klassenspaltung der Gesellschaft, die noch über den Tod hinausreicht. Neben den eindrucksvollen und pompösen Grabmälern des Bürgertums gibt es auch die weit kleineren Gräber der armen Bevölkerung, wo ein Begräbnis schnell zur finanziellen Katastrophe wird. Kulturhistorisch sind diese kleinen Grabstätten zweifellos auch weit weniger relevant. Dennoch ist es schade, dass diese Gräber zum großen Teil bis heute fast völlig überwuchert sind.

Anzeige

Mit den Mitteln, die momentan zur Verfügung gestellt werden, sind allerdings nicht einmal die dringlichsten Renovierungsmaßnahmen zu bewerkstelligen. Gegenwärtig stellt die Republik Österreich im Rahmen des Nationalfonds einen Betrag von einer Million Euro pro Jahr zur Verfügung – allerdings für die Sanierung aller jüdischen Friedhöfe in ganz Österreich.

Im April 2018 hat der Nationalfonds eine erste Förderung von 120.000 Euro für die Friedhöfe Währing, Hohenems in Vorarlberg und Lackenbach im Burgenland beschlossen. Doch allein die Renovierung des Friedhofs in Wien-Währing würde rund 20 Millionen Euro kosten, schätzt Tina Walzer.

"Die Gräber sind wirklich in einem schlimmen Zustand und es ist klar, dass die Freiwilligen nur das Nötigste tun können."

Hannah Lessing vom Nationalfonds sagt ebenfalls, dass der Friedhof in Währing eine "Großbaustelle" ist: "Die Gräber sind wirklich in einem schlimmen Zustand und es ist klar, dass die Freiwilligen nur das Nötigste tun können." Wieviel die Sanierung des Friedhofs kosten würde, kann sie nicht beziffern, aber sie sagt: "Wenn die 20 Millionen stimmen sollten, da müsste sicherlich nachverhandelt werden."

Was sich Lessing wünscht? "Wir sollten diesen Friedhof einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich machen. Das bedeutet die Sicherung vor herunterkrachenden Ästen, die Sanierung der Grabsteine, Hinweistafeln, Gehwege und lesbare Inschriften." Sie verweist auf den jüdischen Friedhof in Prag, wo das umgesetzt wurde. "Dieser Friedhof ist ein Kulturgut, das wir in gesicherter Weise herzeigen sollten, etwa im Rahmen von Stadtführungen."

Anzeige

Tina Walzer hat eine ähnliche Vision. Sie möchte eine umfassende Sanierung des Friedhofs und auch eine Gedenktafel mit den Namen der Menschen, deren Gräber heute nicht mehr vorhanden sind. "Es gab dazu bereits im Jahr 2007 einen Beschluss im Wiener Gemeinderat, aber bis heute ist nichts passiert", kritisiert sie.

Was sich Walzer und Lessing wünschen, muss möglich sein – gerade im Lichte der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung durch den Holocaust. Auf vielen Friedhöfen in Österreich übernehmen Angehörige und Nachfahren bis heute einen Teil der Grabpflege und finanzieren die Instandhaltung. Für jüdische Friedhöfe muss eine andere Lösung gefunden werden. Nach der Shoa gibt es kaum noch Nachfahren, die die Vernichtung durch die Nazis überlebt haben.

Sogar der aufgelassene christliche Friedhof in Wien St. Marx sah vor einigen Jahren noch sehr ähnlich aus wie jetzt der jüdische Friedhof in Währing, erzählt Walzer. Doch dann wurde Geld in die Hand genommen und der Friedhof entsprechend saniert. Das Argument der Kosten möchte Walzer dabei nicht gelten lassen.

"Die Erhaltung von Kulturdenkmälern kostet nun einmal etwas", sagt die Historikerin. "Der Stephansdom wird klarerweise ebenfalls laufend renoviert, obwohl eine neue Betonkirche billiger wäre." Und tatsächlich müssen die 20 Millionen Euro für eine Sanierung wohl auch in Relation zu anderen Summen gesetzt werden.

So wurde im März bekannt, dass im aktuellen Budget für die Jahre 2018 und 2019 insgesamt über 100 Millionen Euro an Sondermitteln versteckt sein sollen. Nutznießer dieser Beträge sind Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP), Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ) und Verteidigungsminister Mario Kunasek (FPÖ). Das Profil berichtet, dass allein das Bundeskanzleramt ein Sonderbudget von rund 31 Millionen Euro zur Verfügung haben soll, bei Strache sollen es 15 Millionen sein.

Als "Körberlgeld" und "Spielgeld" bezeichnen Budget-Insider diese Sondertöpfe für Kurz und Strache gegenüber Profil und Kurier. "Damit werden beispielsweise externe Berater bezahlt, Inserate geschalten und Social-Media-Kanäle bespielt – abseits von und zusätzlich zu dem Geld, das regulär für solche Zwecke vorgesehen ist", wird eine Quelle im Profil zitiert.

Ein Sprecher von Kurz erklärt hingegen, das Sonderbudget sei für Projekte "mit besonderer gesellschaftspolitscher Relevanz" vorgesehen. Das Geld ist also offenbar vorhanden. Offen bleibt also die Frage, ob es im Bundeskanzleramt versickert oder auch an die richtigen Stellen kommt.

Folgt Michael auf Facebook und Twitter und VICE auf Facebook, Instagram und Twitter.