Ich war bei Mike Tysons Wien-Event, um etwas über das Leben zu lernen
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Popkultur

Ich war bei Mike Tysons Wien-Event, um etwas über das Leben zu lernen

Letztendlich habe ich eine ausführliche Lektion in Sachen "Katastrophales Event-Management" und "Abzocke für Fortgeschrittene" erhalten.

Für viele Menschen auf diesem Planeten ist Mike Tyson ein Durchgeknallter mit einem Tribal-Tattoo im Gesicht, der einst sehr reich wurde, indem er anderen Leute eines auf die Rübe zimmerte und nebenbei einem Typen das Ohr abgebissen hat. Und all das mag im Kern stimmen. Für mich ist die Lebensgeschichte des heute 51-Jährigen irgendwie trotzdem von jeher ganz unironisch faszinierend.

Ich würde mich zwar nicht als wirklich eingefleischten Mike-Tyson-Fan bezeichnen – dafür verstehe in erster Linie schonmal nicht genug vom Schwergewichtsboxen, auch wenn ich mir immer wieder mal die großen Kämpfe anschaue und mir mit Vorliebe "Best Knockout Compilations" auf YouTube reinziehe.

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Trotzdem konnte ich mich dem Bann von Mike Tysons Lebensgeschichte nie ganz entziehen: Es ist die Story eines schwarzen Jungen aus Brooklyn, der unter beschissensten Bedingungen aufwuchs, mit 20 Jahren zum besten Boxer und einem der berühmtesten Menschen der Welt aufstieg, seinem Ruhm emotional und persönlich nicht gewachsen war und dessen Karriere laut eigener Aussage von schweren psychischen Problemen, Alkohol- und Drogenmissbrauch sowie anderen Exzessen überschattet war.

Nicht zuletzt würde ich mich vor dem Wort "Fan" hüten, weil Tyson 1992 der Vergewaltigung einer 18-jährigen Schönheitswettbewerbs-Teilnehmerin bezichtigt und dafür zu sechs Jahren Haft verurteile wurde, von denen er letztendlich drei absitzen musste. Tyson selbst beteuert bis heute seine Unschuld und sieht rassistische Vorverurteilung als ausschlaggebenden Faktor für die damalige Entscheidung der Jury.

Mindestens so faszinierend wie seine Biografie fand ich von jeher den – vorsichtig gesagt – völlig absurden Scheiß, den dieser Mann im Lauf seiner Karriere in aller Öffentlichkeit schon von sich gab: Mike war eigentlich in vielerlei Hinsicht der Kanye West einer früheren Generation. Hätte es in den 80ern und 90ern bereits Social Media gegeben, wären wahrscheinlich mehr Mike-Tyson-Memes produziert worden als vom Yodeling Walmart Boy und Harambe kombiniert.

Für seine Aussagen und Ausraster wurde er in der Öffentlichkeit regelmäßig zerrissen. Tyson selbst sagte über sich einmal: "Ich bin vieles: Ein verurteilter Vergewaltiger, ein Unruhestifter, ein liebender Vater, ein semi-guter Ehemann", und das ist vielleicht die verwirrendste und gleichzeitig treffendste Selbstbeschreibung, die ich je gehört habe.

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Als ich dann vor ein paar Monaten plöztlich eine Werbeanzeige in meine Timeline gespült bekam, in der Iron Mike direkt mit dem Finger auf mich zeigte und in der eine große "Champion Tour" der Box-Legende durch Deutschland, Österreich und in die Schweiz angekündigt wurde, wurden mir zwei Dinge umgehend bewusst: 1. Ich konsumiere offensichtlich genügend Mike-Tyson-YouTube-Clips, um vom Algorithmus zum Hardcore-Iron-Mike-Jünger erklärt zu werden, dem so eine Werbung angezeigt werden sollte; und 2. Ich wollte dort irgendwie tatsächlich unbedingt hin. Als Österreicher ist man ja sowieso grundsätzlich ganz hin und weg, wenn sich mal eine wirklich berühmte Person im Land anschauen lässt.

Nach ein paar paar Minuten Betrachtung der dazugehörigen Website, die ein Event versprach, bei dem man "Die wahre Geschichte" des wahrscheinlich berühmtesten lebenden Boxers geliefert bekommen würde, war ich mir aber ganz ernsthaft nicht mehr sicher, ob es sich hier nicht um einen dicken, fetten Abzock-Fall handelte.

Beinahe jeder Satz strotzte vor Rechtschreibfehlern und der komplette Text der Seite klang irgendwie, als wäre er von einem mittelmäßigen Übersetzungsprogramm ins Deutsche übertragen worden. Als Werbebild für den Wien-Tour-Stopp am 18. April hatte man ein pompöses Bild von der beleuchteten Gloriette verwendet – beim Weiterlesen fand ich aber raus, dass die Veranstaltung eigentlich im einem Kinosaal in der Wiener Millennium City stattfinden würde. Alles ein bisschen shady.

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Als Showeinlage waren außerdem drei Auftritte des "stürmischen Rockstars" Paulie Weston angekündigt – ein "Rockstar", von dem ich auf Anhieb keinen einzigen Song auf irgendeiner bekannten Streaming-Plattform und erst recht keine Social-Media-Präsenz finden konnte. Spätestens die Ticketpreise, die zwischen 89 und 349 Euro angesiedelt waren, hätten mich letztendlich davon abgehalten, an dem Event teilzunehmen, hätte ich nicht vorgehabt, darüber zu schreiben. Und selbst, als ich mein Ticket kaufte, war ich mir immer noch nicht hundertprozentig sicher, ob ich nicht irgendeinen Scammer gerade ein bisschen reicher gemacht hatte.

Bevor wir den Saal betreten dürfen, müssen alle Besucher ihr Handy in eine magnetisch verschlossene Hülle geben.

Ein paar Monate später stehe ich nun trotzdem in einer langen Schlange vor dem größten Kinosaal in der Wiener Millennium City. Das Publikum ist, wenig überraschend, überwiegend männlich und viele Leute sind offensichtlich Box- und Kampfsport-Fans – zumindest lassen diverse Everlast- und UFC-Shirts darauf schließen. Gar nicht wenige haben sich für Mike sogar richtig rausgeputzt und sind im Anzug gekommen (verständlich, wenn man mehrere hundert Euro für ein Ticket liegen hat lassen).

"Der Tyson hat sie damals alle umgehauen, obwohl er viel kleiner war als seine Gegner", erklärt mir der ältere Herr, der in der Schlange hinter mir steht, in Ur-Wiener Dialekt. "Der hat so einen Hammer gehabt, dass ein Gegner mal gesagt hat, er hat geglaubt, er sei gegen einen Lastwagen gerannt.“

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Bevor wir den Saal betreten dürfen, müssen alle Besucher ihr Handy in eine magnetisch verschlossene Hülle geben. Fotos sind bei der Veranstaltung komplett untersagt, Presse-Akkreditierungen wurden erst gar keine vergeben. Neben dem Eingang gibt es noch einen kleinen, alles andere als atemberaubenden Merchandise-Stand, an dem denkbar unspektakuläre Tour-Shirts und Pullover verkauft werden. Ich nehme im riesigen Kinosaal platz, ganz in der Nähe eines muskulösen Fans, der ohne Scheiß das exakt gleiche Gesichtstattoo trägt wie Tyson.

Nachdem ich ja kein Smartphone mehr habe, mit dem ich herumspielen könnte, beginne ich mir die Kulisse anzusehen. Vor der Kinoleinwand ist eine Art Bühne eingerichtet, wobei das Ganze eher wie die Aufmachung einer kurzfristig ins Leben gerufenen Pressekonferenz aussieht: Zwei Barhocker, in der Mitte ein kleiner Tisch, auf dem eine Glocke steht. Links und rechts daneben stehen und liegen ein paar Gegenstände verteilt – Boxhandschuhe, eine eingerahmte Boxing-Short, ein paar Portraits vom Star des Abends. Vielleicht sind das ja echte Relikte aus seiner Karriere, die im Laufe der Show hergezeigt werden, denke ich mir in meiner Naivität.


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Immerhin beginnt die Veranstaltung halbwegs pünklich, was bei Stars dieser Größenordnung keine Selbstverständlichkeit ist. Es bleibt aber auch so ziemlich das einzig Erfreuliche an diesem Abend. Die ersten zehn Minuten dieser absurden Veranstaltung, die mich abwechselnd mit Bedauern, Belustigung und Fremdscham erfüllen sollte, möchte ich euch hier im Detail schildern – alleine schon, weil ich sie selbst noch nicht ganz verarbeitet habe.

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Die Lichter im Saal gehen aus, die Gäste beginnen zu klatschen. Auf die Bühne kommt ein schlaksiger Mann, der in etwa wie ein Volksschulkind gestylt ist, das sich am Faschingsdienstag als Punker verkleidet hat. Mir wird bewusst, dass es sich dabei wohl um Paulie Weston, den "stürmischen Rockstar", handeln muss. Aus den Boxen beginnt das Instrumental von "Hells Bells“ zu erklingen. Paulie macht typische Rock'n'Roll-Gesten und versucht, das Publikum zum Klatschen zu animieren. Etwa ein Viertel der Leute folgt seiner Animation, während der stürmische Rockstar beginnt, Luftgitarre zu spielen. Dann hebt er das Mikrofon, um zu singen – aber man hört nichts. Das Mikro ist tot.

Eine halbe Minute lang singt Paulie, ohne dass man einen einzigen Ton hört. Zwischendurch wirft er verzweifelte Blicke zur kleinen Crew, die ähnlich hilflos neben der Bühne herumirrt, aber offensichtlich kein Ersatzmikro parat hat. Paulie gibt das Mikro an einen der Techniker und steht verloren vor dem Publikum herum, die Arme in die Hüften gestemmt, während ein Mann – womöglich der Tontechniker – das Mikro irgendwie zum Laufen bringt. Am Ende kann er uns doch noch die letzen 30 Sekunden von "Hells Bells" vorsingen, bevor er konsterniert von der Bühne stapft.

Irgendjemand im Saal schreit: "Mike, punch him!"

Auf die Bühne kommt nun der Moderator des Abends, ein gewisser Pietro Polidori, und versucht uns im Stil eines Boxkampf-Präsentators in Stimmung zu bringen. Sein Headset-Mikro funktioniert immerhin, aber das Feedback der Monitorboxen quietscht derartig laut, dass man kaum ein Wort verseht, als er uns Mike Tyson ankündigt.

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Alle Augen richten sich auf die Seitentür des riesigen Kinosaals. Als Mike Tyson von mehreren Männern begleitet den Raum betritt, gibt es nicht nur Standing-Ovations und Jubel, sondern für einen kurzen Augenblick auch so etwas wie Boxkampf-Stimmung im etwa zu Dreiviertel gefüllten Saal – zum ersten und letzten Mal an diesem Abend. Denn als Mike auf der Bühne Platz nimmt und etwas sagen will, wird allen im Saal bewusst, dass auch sein Headset-Mikro nicht funktioniert.

Bevor das Problem behoben werden kann, muss sich der Moderator mit Mike aber erst mal abseits der aufgebauten Sitzgelegenheiten hinstellen, weil das Feedback-Geräusch seines funktionierenden Mikrofons dort so schlimm ist, dass es kaum auszuhalten ist. In der Zwischenzeit wird klar, dass es auch für Mike selbst kein Ersatzmikro gibt.

- "Mike, what goes through your head when you hear the bell?"
- "Nothing."

Der Moderator versucht die Situation zu überspielen, aber Leute aus dem Publikum beginnen, ihre Geduld zu verlieren. Irgendjemand im Saal schreit: "Mike, punch him!" Mit "him" ist offensichtlich der Moderator gemeint. Mike folgt der Aufforderung glücklicherweise nicht. Ein anderer Gast ruft dem Moderator zu, dass er sein funktionierendes Headset-Mikro an Mike geben soll. Der Moderator nimmt sein eigenes Headset-Mikro ab und beginnt, Mike damit zu verkabeln. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, aber am Ende hört man zum ersten Mal an diesem Abend tatsächlich Mike Tysons Stimme – wenn auch in furchtbarer, kaum verständlicher Audioqualität.

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Der Moderator hat sich in der Zwischenzeit das Mikro von Rockstar Paulie Weston geholt und läutet mit der Glocke auf dem kleinen Stehtisch "Round One" des Abends ein, in der es um Mikes Kindheit gehen soll. Erste Frage des Abends:

Moderator: "Mike, what goes through your head when you hear the bell?"
Mike Tyson: "Nothing."

Das Publikum beginnt verhalten zu lachen. Der Moderator, offensichtlich etwas vor den Kopf gestoßen, weiß nicht wirklich, wie er auf die knappe Antwort reagieren soll und probiert, zu Mikes Kindheit überzuleiten.

Der Inhalt der nächsten Stunde ist schnell zusammengefasst: Eigentlich erzählt uns der Moderator 60 Minuten lang Mike Tysons Biografie, wobei die inhaltliche Aufbereitung dabei an einen ausführlich vorgelesenen Wikipedia-Artikel erinnert. Zwischendurch stellt er Mike immer wieder Fragen, die sich meistens von selbst beantworten ("You grew up in a poor neighborhood and learned how to rob and steal at a very young age, is that correct?"), auf die Mike dann ziemlich knappe Antworten gibt ("Absolutely"), was aber letztendlich egal ist, weil man Mikes vereinzelte längere Ausführungen aufgrund des schlechten Mikros ohnehin fast nicht versteht.

Immerhin bringt Tyson, der auf seinem Barhocker auch irgendwie wirkt wie ein kleiner Bub, das unterkühlte aber letztendlich ziemlich geduldige Publikum mit seinen kurzen Antworten immer wieder mal zum Lachen. ("What did Evander Holyfield's ear taste like?" – "It tasted like shit".)

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Die wirklich interessanten Aspekte seiner Lebensgeschichte, etwa die Hintergründe seiner Verurteilung wegen Vergewaltigung, werden überhaupt komplett unter den Tisch gekehrt, das Thema innerhalb von ein paar Sekunden abgehandelt, als wäre es keine große Sache. Dabei blitzt im Laufe des Abends immer wieder durch, dass Tysons Biografie eigentlich unfassbar spannend wäre und Stoff für den interessantesten Abend der Welt bieten würde, hätte man das Ganze auch nur annähernd liebevoll aufbereitet oder sich einen Moderator geholt, der auch nur halb so gute Fragen stellen wie Tyson Antworten geben konnte.

Ein liebloses Foto von einem lieblosen Merch-Stand als Symbolbild für eine noch lieblosere Veranstaltung. Foto vom Autor.

Auf der Kinoleinwand wird eine trockene PowerPoint-Präsentation abgespielt, auf der man die Fragen des Moderators Wort für Wort mitlesen kann. Ich denke an die Dinge, die wir in der Schule über PowerPoint-Präsentationen gelernt haben ("Nicht zu viel trockenen Text auf die Folien packen!", "Nicht 1:1 das Gesagte hinschreiben!") und frage mich, ob bei der Event-Planung niemand auf die Idee gekommen ist, Bilder oder Videomaterial aus Tysons Karriere auf der Leinwand zu zeigen – oder ob es ihnen einfach scheißegal war, wie langweilig dieser Abend letztendlich sein würde, weil ohnehin niemand etwas auf Social Media posten konnte.

Zu Beginn von "Round Three" fragt dann sogar schon Mike Tyson selbst, wie lang das Ganze hier noch dauern würde. Spätestens nach dem zweiten Auftritt von Paulie Weston, bei dem er "No Easy Way Out" vom Rocky IV-Soundtrack nachsingt und Mike dabei immer wieder verliebt anschaut ("Mike, you are the hero of my life"), während die Leute neben mir genervt die Augen verdrehen, wird mir bewusst, dass auch die lieblos verteilten Boxkampf-Utensilien rund um die Bühne gar keine echten Relikte aus Mike Tysons persönlichem Fundus sind, sondern bedeutungslose Deko.

Auf die Frage des Moderators, wie Mike es geschafft hat, wieder schuldenfrei zu werden (Tyson hat im Laufe seiner Karriere hunderte Millionen an Preisgeld verdient, wieder verprasst und war 15 Jahre lang schwer verschuldet – seiner eigenen Aussage nach der größter Fehler seines Lebens), gibt der Star eine Antwort, die ziemlich viel über dieses Event aussagt: "I did a lot of events and Meet & Greets". Am Ende bringt uns Mike zumindest nochmal zum Lachen, als ihn der Moderator fragt, wo er sich selbst in zehn Jahren sieht: "Alive, hopefully".

Als ich den Kinosaal betrat, hatte ich immerhin noch einen Funken Hoffnung, ein paar Lektionen über das Leben zu lernen, von einem Mann, der praktisch alle Höhen und Tiefen dieser Welt durchlebt hat. Am Ende habe ich rein gar nichts erfahren, das ich nicht davor schon aus irgendwelchen Artikeln oder Dokus wusste. Als ich den Saal wieder verlasse, während der stürmische Rockstar einen dritten belastenden Auftritt anstimmt, wird mir bewusst, dass ich an diesem Abend aber wenigstens eine einmalige Lektion über sehr schlechtes Event-Management erhalten habe.

Tori auf Twitter: @TorisNest

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