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Was wir an unserer Beziehung zum Tod ändern müssen

Die Autorin und Bestatterin Caitlin Doughty hat auf dem ganzen Globus mit Leichen abgehangen. Sie erklärt uns, was wir aus verschiedenen Beerdigungsritualen lernen können.
Alle Fotos: bereitgestellt von Caitlin Doughty

Jeder Mensch stirbt irgendwann. An dieser Tatsache lässt sich nicht rütteln. Dennoch fühlt sich die westliche Welt beim Gedanken an den Tod nicht wohl. Aus diesem Grund setzt sich die Bestatterin Caitlin Doughty schon seit Langem für eine Reform der westlichen Begräbnisindustrie ein. Sie will, dass wir unseren Ekel vor Leichen ablegen.

In ihrem fortschrittlichen Bestattungsinstitut in Los Angeles räumt Doughty auf mit Mythen zum Umgang mit toten Menschen. Gleichzeitig zeigt sie den Trauernden auf, wie sie unnötige und teure Prozeduren umgehen, die beim Tod eines geliebten Menschen westlichen Bräuchen zufolge "sein müssen".

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In ihrem neuen Buch From Here to Eternity: Traveling the World to Find the Good Death erzählt Doughty von ihrer Weltreise, während der sie bei vielen Begräbnisritualen anderer Kulturen zugeschaut oder sogar selbst mitgemacht hat. Egal ob nun indonesische Familien, die die Überreste ihrer verstorbenen Verwandten putzen, oder japanische Trauernde, die übrig gebliebene Knochen mit Essstäbchen aus der Asche fischen – Doughty hat erlebt, wie menschlich in anderen Kulturen mit dem Tod umgegangen wird. Sie erfuhr eine Menschlichkeit, die in unserer Beziehung zum Sterben zu fehlen scheint.

Wir haben uns mit Doughty über ihre Beobachtungen und die daraus gezogenen Lehren unterhalten.

Regale voller sogenannter "Ñatitas": In Bolivien glaubt man daran, dass die Totenschädel Glück bringen und mit den Lebenden kommunizieren

VICE: Was ist für dich die unbegründetste Sorge der westlichen Welt in Bezug auf den Tod?
Caitlin Doughty: Ganz einfach gesagt: die Vorstellung, dass ein toter Körper gefährlich ist oder Krankheiten übertragen kann.

Deine Arbeit impliziert, dass das komische Verhältnis der westlichen Welt zum Tod durch die Gesellschaft angelernt wird. Musstest du dir diese Denkweise erst abgewöhnen oder konntest du schon immer besser mit dem Thema Tod umgehen?
Ich musste mich auf jeden Fall "umprogrammieren". Eigentlich hatte ich sogar etwas mehr Angst als normal. Aber genau diese Angst hat mich dazu gebracht, das Problem direkt anzugehen.

Die meisten Menschen aus der westlichen Welt hatten noch nie mit einer Leiche zu tun. Und falls doch, dann ist der tote Körper sehr wahrscheinlich schön hergerichtet. Deshalb ist es so schwer, hier eine angenehme Beziehung zu dem ganzen Thema aufzubauen.

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Um das zu schaffen, sollte man sich als erstes mit verstorbenen Verwandten auseinandersetzen. Da herrscht nämlich ein ganz anderes Verhältnis. Ich meine, niemand würde beim Anblick der eigenen toten Mutter sagen: "Igitt, wie ekelhaft!"


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Viele der in deinem Buch beschriebenen Rituale gelten in den jeweiligen Kulturen als völlig normal. Auf viele von uns wirken sie jedoch ziemlich gruselig. Wo liegt die Grenze zwischen Ritual und Leichenschändung?
Das kommt ganz darauf an. Früher galt die heute ganz normale Einäscherung für viele Menschen auch als Leichenschändung. Meiner Meinung nach ist hier vor allem wichtig, was die dazugehörige Familie als angebracht ansieht und was als beleidigend.

Und wo ziehst du die Linie zwischen dem Respekt vor der Erinnerungen an die Person und dem Respekt vor den sterblichen Überresten?
Ich bin ziemlich weltlich und glaube deswegen auch nicht daran, dass man nach dem Tod irgendeine Art kosmische Reise antritt. Ich weiß aber, dass es in allen Kulturen dieser Welt schon immer Beerdigungen und Interaktionen mit den Toten gegeben hat. Das zeigt, dass ein toter Körper eine gewisse Faszination ausübt und wichtig ist. Die Leute wollen das Loslassen ritualisieren und in kleine Schritte aufteilen.

Heutzutage gibt es aber auch Menschen, die dieses Weltliche auf die Spitze treiben – so nach dem Motto: "Mir doch egal, was mit meiner Leiche passiert. Verbrennt mich einfach und spült mich die Toilette runter." Ich glaube, diese Menschen wollen sich bloß nicht mit dem Tod auseinandersetzen. Ich halte es außerdem für ziemlich gefährlich zu sagen, dass Rituale und Trauer unnötig seien.

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Eine LED-Buddha-Urnenwand in einem futuristischen Mausoleum in Tokio

In Japan scheint man den Tod viel direkter und technologischer anzugehen. Sind solche Praktiken für dich eine Möglichkeit, die eben erwähnten weltlichen Menschen an das Thema heranzuführen?
Absolut! Die westliche Beerdigungsindustrie liegt technologisch gesehen sowieso total weit zurück. PowerPoint-Präsentationen bei der Trauerfeier oder moderne Websites gelten da schon als revolutionär.

Deswegen wollte ich auch nach Japan. Dort ist die Beerdigungsindustrie offen für Neues. Natürlich wird sich da nicht alles halten, aber in Japan schafft man es, Tradition und Moderne zu verbinden: Einerseits beschäftigt man sich ausführlich mit der Leiche, andererseits hat man dann viele High-Tech-Optionen für die Asche. Und ich glaube, dass genau diese Optionen auch für weltliche Menschen interessant sind.

Mal abgesehen von den immensen Kosten: Warum hat gerade die westliche Welt eine so dissoziative und unangenehme Beziehung der zu den Toten?
Zu meinem Job gehört auch, Leute zwischen 20 und 40 zu ihren Erfahrungen mit dem Tod zu befragen. Folgende Antwort höre ich dabei immer wieder: "Ich war bei einer Beerdigung mit offenem Sarg und die Leiche war übertrieben einbalsamiert und mit Make-up hergerichtet. Das fand ich richtig komisch und ich glaube nicht, dass ich noch noch mal zu einer solchen Beerdigung gehen will."

Meine Alternativen kommen dann immer richtig gut an. Deshalb kann ich auch Kritik an der westlichen Beerdigungsindustrie üben. Ich selbst muss dafür auch nur von Leuten einstecken, die in dieser Industrie arbeiten.

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Das Aufkommen der Beerdigungsindustrie war sowieso ein rein kapitalistisches Ding. Es geht dabei vorrangig um den Gewinn, erst dann kommen religiöse Ansichten, persönliche Überzeugungen und so weiter.

Eine indonesische Familie säubert die mumifizierte Leiche eines Verwandten

Gab es auch Rituale, die selbst dich als erfahrene Bestatterin überrascht oder angeekelt haben?
Ich glaube nicht. Ich habe mich eigentlich immer nur gefreut, dabei sein zu dürfen. Mein Ziel war es, offen an alles heranzugehen. Letztendlich wurde ich in meiner Annahme bestätigt, dass sich die Leute überall auf der Welt um ihre Toten sorgen. Selbst wenn sie eine Kakerlake aus dem Penis einer Mumie ziehen müssen, machen sie das mit viel Liebe und Hingabe.

Hast du irgendwelche Bräuche verpasst, die du eigentlich sehen wolltest?
Eigentlich hätte ich gerne noch weitergemacht, aber nach zweieinhalb Jahren sagte der Verlag, dass ich mein Buch doch langsam mal veröffentlichen solle.

Ein Ritual habe ich tatsächlich verpasst: Wenn auf Bali sehr wichtige Personen sterben, dann werden die Särge in meterhohen Türmen oder riesigen Tierfiguren im Zuge einer großen Parade erst durch die Straßen getragen und dann angezündet. Da wäre ich zu gerne mal dabei gewesen.

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