Der Mann, der mich fast umbrachte, musste nur 120 Tage ins Gefängnis
Illustration: Sally Deng

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gewalt

Der Mann, der mich fast umbrachte, musste nur 120 Tage ins Gefängnis

Eine Überlebende erzählt, wie es sich anfühlt, wenn man vom US-Justizsystem vollkommen im Stich gelassen wird.
EH
aufgeschrieben von Eli Hager

Dieser Artikel ist in Zusammenarbeit mit dem Marshall Project entstanden, einer gemeinnützigen Nachrichtenorganisation, die sich mit dem US-amerikanischen Justizsystem beschäftigt.

Es war ein normaler Aprilmorgen in meiner Heimatstadt, dem kalifornischen Irvine. Mein Personal Trainer kam zu mir nach Hause, um sich das Laufband anzusehen, das ich verkaufen wollte.

Dann reichte er mir jedoch eine kleine, gelbe "Diät"-Pille und einen Schoko-Drink. "Was ist das?", fragte ich. "Da ist irgendetwas Blaues in dem Getränk." Mein Trainer sagte nur, dass ich mir keine Sorgen machen müsse: "Das kommt bestimmt nur vom Becher."

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Von der darauffolgenden halben Stunde weiß ich nicht mehr viel, aber ich erinnere mich noch ganz genau an das, was ich erlebte, nachdem ich den Drink getrunken hatte: Ich lag nackt auf dem Bett meines Sohnes und brachte kein Wort mehr heraus. Ich hatte das Gefühl, betäubt worden zu sein.


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Ehe ich mich versah, hatte mein Trainer schon Frischhaltefolie um meinen Kopf gewickelt und malträtierte mich mit seinen Fäusten. Er schlug meinen Kopf gegen die Wand und schrie, dass er mich und meinen zwölfjährigen Sohn umbringen werde. Zum Glück war der nicht zu Hause.

"Hör zu, ich schlafe mit dir", flehte ich meinen Peiniger an. "Ich gebe dir Geld oder was auch immer du willst. Aber bitte verschone meinen Sohn."

Ich weiß nicht mehr, ob ich selbst sprang oder ob mein Trainer mich runterstieß, aber irgendwann fiel ich über die Brüstung vom ersten Stock gut drei Meter hinab in die Küche. Von dort aus schaffte ich es, zu meinen Nachbarn zu rennen und die Polizei zu rufen. Kurz darauf trafen die Beamten zusammen mit einem Krankenwagen ein.

Abends brachten mich die Polizisten zu einem Freund. Er und seine Frau erwarteten mich schon. Laut eigener Aussage werden die beiden niemals vergessen, wie ich in diesem Moment aussah: Meine normalerweise blauen Augen sollen schwarz gewesen sein – so als ob meine Seele meinen Körper verlassen hätte.

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Wenn die Hoffnung auf Gerechtigkeit verfliegt

An diesem Morgen im Jahr 2002 brachte mich mein Personal Trainer nicht um. Es gab auch keine Hinweise darauf, dass er mich vergewaltigt hatte. Außerdem nahm er nichts Wertvolles aus meinem Zuhause mit. Und abgesehen von einem Anti-Allergikum fand man keine Drogen in meinem Körper.

Wegen dieser Umstände ging der Staatsanwalt nicht den schwerwiegendsten Anschuldigungen gegen meinen Trainer nach. Und auch durch das Verhalten der Richterin fühlte ich mich wie eine Art Opfer zweiter Klasse.

Ich weiß noch, wie mir der Staatsanwalt ein Bild von einem blutigen Messer aus einem seiner Mordfälle zeigte und sagte: "Sie sollten einen Ausflug mit ihrem Sohn machen und einfach Ihr Leben leben. Sie leben nämlich noch. In vielen anderen meiner Fälle ist das Opfer tot."

Ich antwortete nur, dass ich mir wünschte, man hätte mich ermordet, denn dann würde es in meinem Fall vielleicht Gerechtigkeit geben. Natürlich dachte ich damals nicht wirklich so – und tue es auch heute nicht –, aber trotzdem kamen diese Worte aus meinem Mund.

Dabei glaubte ich nach den ersten Begegnungen mit der Polizei, dass man mich mit Respekt behandeln würde.

"Patricia, diese schwierigen Fragen lassen dich vielleicht denken, dass wir an dir zweifeln oder dir die Schuld geben, aber das tun wir nicht."

Ja, ich musste mich einer unangenehmen Untersuchung unterziehen, um herauszufinden, ob mich mein Trainer vergewaltigt hatte oder nicht. Und ja, es wurden auch Fotos von meinem Körper gemacht und man stellte mir alle möglichen persönlichen Fragen. Aber die Ermittler behandelten mich dabei immer mit Würde. Ich hatte wirklich das Gefühl, dass sich jemand für mich einsetzt, dass mich jemand beschützt, dass mir Gerechtigkeit widerfährt.

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Ich erinnere mich noch daran, als ich in der Notaufnahme saß und hörte, wie ein ermittelnder Polizist draußen auf dem Gang zu einem Kollegen sagte: "Eigentlich bin ich mit meiner Frau fürs Kino verabredet. Ich habe mich schon richtig aufs Popcorn gefreut, aber ich glaube, das Opfer braucht mich jetzt dringender."

Und als die Beamten mich verhörten, versicherten sie mir: "Patricia, diese schwierigen Fragen lassen dich vielleicht denken, dass wir an dir zweifeln oder dir die Schuld geben, aber das tun wir nicht." Sie müssten diese Fragen allerdings stellen, um meinen Peiniger verhaften und zur Rechenschaft ziehen zu können.

Dann begann die Gerichtsverhandlung.

Ein Urteil ohne Prozess

Eines Tages bekam ich plötzlich einen Anruf aus der Abteilung für Opferschutz. Es hieß, dass ich sofort zum Gericht kommen müsse. Als ich kurz darauf im Gerichtssaal eintraf, hörte ich nur noch den Satz "OK, die Urteilsverkündung findet …". Ich blickte zu der mir zugewiesenen Vertreterin vom Opferschutz und fragte, was das alles solle. Niemand hatte mir irgendetwas davon mitgeteilt.

"Machen Sie sich keine Sorgen", antwortete die Vertreterin. "Er hat alles zugegeben und sein Schuldeingeständnis unterschrieben. Der Staatsanwalt hat sich auf einen Deal eingelassen, der Angeklagte geht für zwei Jahre hinter Gitter."

Als ich das hörte, stand ich auf, ging aus dem Gerichtssaal und übergab mich. Ich wusste nicht, wie mir geschah. Die Polizei war doch noch ganz anders mit mir umgegangen. Dieser Mann hatte nicht nur versucht, mich umzubringen, sondern hatte auch damit gedroht, meinen Sohn zu töten. Und jetzt musste er nur zwei Jahre ins Gefängnis? Ein Gedanke schoss mir immer wieder durch den Kopf: "Wenn er damit davonkommt, wird er einen anderen Menschen umbringen. Oder er kommt zurück und ermordet mich und meinem Sohn."

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Deshalb entschied ich mich dazu, vor dem Gerichtsgebäude zu demonstrieren und zusammen mit einigen Freunden für mein Recht zu kämpfen.

"Sie will eine faire Verhandlung, also geben wir ihr eine."

Eigentlich sollte das Urteil beim nächsten Gerichtstermin offiziell verkündet werden, aber die Richterin schaute den Staatsanwalt an und sagte: "Nun, das Opfer ist heute anwesend. Sie mag Sie nicht, sie mag mich nicht und sie mag Ihren Deal nicht. Außerdem demonstriert sie vor dem Gerichtsgebäude. Sie will eine faire Verhandlung, also geben wir ihr eine. Der Deal ist vom Tisch und der Angeklagte muss sich in einem richtigen Prozess verantworten."

Allerdings ließ die Richterin auch die Anklage wegen versuchten Mordes fallen und die Geschworenen konnten meinen Trainer nur wegen Körperverletzung mit einer tödlichen Waffe und wegen Bedrohung schuldig sprechen. Das Resultat: Er wurde lediglich zu 120 Tagen Gefängnis plus einem fünfjährigen Antiaggressionstraining und einer fünfjährigen Bewährung verurteilt.

Alleine gegen die Justiz

Nach diesem niederschmetterndem Ergebnis ging es noch um die Höhe der möglichen Entschädigung, die der Täter mir zahlen sollte. Als ich die Belege und Kassenzettel für die Sachen, die ich wegen des Verbrechens neu kaufen und erledigen musste, bei den Behörden vorlegte, fragte die Richterin mit verächtlichem Ton: "Sie erwarten, dass er für Ihr Bett, Ihre Decke und Ihr Kissen zahlt? Warum sollte ich das genehmigen?"

"Weil er mich auch auf meinem Bett angegriffen hat", antwortete ich. Ich erzählte, dass ich in diesem Bett nicht mehr schlafen konnte und die Matratze, das Bettgestell, die Decken und die Kissen deswegen entsorgt hätte und umgezogen sei.

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"Nun, ich werde das trotzdem nicht genehmigen", sagte dich Richterin. Ich glaube, von den geschätzten 54.000 Dollar, die ich wegen der Bewältigung meines Traumas ausgeben musste, habe ich bis heute nur um die 800 Dollar zurückbekommen.

Ich weiß noch genau, wie ich den ersten Entschädigungsscheck über lächerliche 54 Dollar öffnete. Ich saß in meinem Auto vor meinem angemieteten Lagerraum, riss den Umschlag auf und dachte mir nur: "Was soll das?" Anschließend fing ich an zu weinen.

Während der Gerichtsverhandlung war ich noch richtig naiv. Ich ging wirklich davon aus, dass mein Peiniger für den Rest seines Lebens ins Gefängnis muss. Und ich war fest davon überzeugt, dass die Justiz auf meiner Seite wäre. Aber wenn mich niemand als Opfer ansehen will, dann werde ich das auch nicht tun. Nein, stattdessen werde ich als Überlebende weiterkämpfen und nach vorne blicken.

Patricia Wenskunas ist Vorsitzende und Gründerin von Crime Survivors , einer Organisation zur Unterstützung von Verbrechensopfern.

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