El Compañero – Essen an der dreckigsten Ecke Zürichs
Alle Fotos: Tom Huber

FYI.

This story is over 5 years old.

Stadtaufwertung

El Compañero – Essen an der dreckigsten Ecke Zürichs

Das El Compañero ist ein kleiner Imbiss im Rotlichtviertel Zürichs. Er ist noch nicht lange an der Langstrasse. Aber während die Stadtaufwertung den Charme des Quartiers langsam auffrisst, leben dessen Geschichten dort weiter.

Aus den Boxen des El Compañero dröhnt lateinamerikanische Musik, man wähnt sich in einem Set-up der Netflix-Serie Narcos. Nur knallen draussen in den Strassen keine Knarren, sondern Korken. Denn wir sind nicht im kolumbianischen Medellin der 80er Jahre, sondern im entspannten Zürich 2018. Genauer gesagt an der Langstrasse, die früher die grösste Rotlichtmeile der Schweiz war, und sich heute immer mehr zu einer Art El Arenal für Wochenendfeierer und Vorstadtkids entwickelt.

Anzeige

Von der Sündenmeile zum Clubmekka

Im Langstrassenquartier wohnten schon seit 1860 vor allem Einwanderer und Einwanderinnen, später arbeiteten auch die Prostituierten an der Strasse im Kreis 4. Nach der Initiierung des städtischen Aufwertungsprogramms "Langstrasse PLUS" 2001 wurde vier Jahre später aus dem Nachtclub Longstreet eine In-Bar, seitdem haben viele andere Lokale ebenfalls einen Wandel erlebt – das Rotlichtviertel wurde langsam zum Partyparadies. Bis zur Eröffnung des neuen Longstreets hatte es niemanden in das Viertel gezogen, der nicht auf der Suche nach Erwachsenenunterhaltung war.


MUNCHIES VIDEO: Dänische Hotdogs zu machen ist eine Kunst


Mit der schrittweisen Gentrifizierung wurden immer mehr Erotiketablissments zu Clubs, Spelunken von jungen Trendsetterinnen übernommen und Kunstkollektive in vegetarische Restaurants verwandelt. Der heutige Supermarkt Coop Pronto am Anfang der Langstrasse war früher ein Spielsalon, die Pizzeria schräg gegenüber ein Cabaret. Und aus dem Stripschuppen an der Ecke Militärstrasse/Langstrasse wurde erst vor Kurzem ein Asia-Restaurant.

Das Upgrade des Viertels birgt ein Dilemma; einerseits macht es die Wohnungsmieten für Arbeiter und Menschen in Ausbildung fast unbezahlbar, andererseits eröffnet es aber auch immer wieder die Möglichkeit der günstigen oder sogar kostenfreien Zwischennutzung für die Gastronomie.

Zwischennutzung als Chance

Und genau dort, wo die Aufwertung auf den letzten Rest des Milieus trifft, an eben dieser Kreuzung Militärstrasse/Langstrasse, hat sich so ein Platz für das El Compañero aufgetan. Der kleine Imbiss hat sich im Februar dieses Jahres in der ehemaligen Küche des altehrwürdigen Hotel Rothaus eingemietet. Das rote Backsteingebäude wurde kürzlich wie so viele Liegenschaften an der Langstrasse verkauft, eine Zeitung hat ihr Hauptquartier in den Räumlichkeiten eingerichtet, im Parterre poppte kurz darauf eine Bar auf. Und dennoch ist das El Compañero schon jetzt Teil dieses Stadtbilds, dort und in der Bar nebenan trifft sich die Szene, holen sich Arbeiter und Künstler gleichermassen ihre Hotdogs und Empanadas.

Die Hotdogs gibt's hier nur im warmen Brötchen – so wie es sein soll

Anzeige

Geführt wird das El Compañero von Joél Heufemann und Carlos Gabriel, Einheimische der Stadt Zürich und gleichzeitig Nachkommen chilenischer und portugiesischer Einwanderer. Als wir sie besuchen, ist Carlos müde von der letzten Nacht. Nebenbei arbeitet er als Selekteur an der Türe des Clubs Gonzo, wenige Meter vom El Compañero entfernt.

Ein Freund von ihnen hat zeitweise die benachbarte Rothaus-Bar übernommen und so haben die Beiden die Möglichkeit bekommen, ihre zuvor mobile Gastronomie in der einstigen Hotelküche zu stationieren. Waren sie früher mit einem Wägelchen oder ihrer Ape (einem dreirädrigen Automobil) unterwegs, um ihre Completos zu verkaufen, wärmen sie ihre Brötchen – denn nur warme Brötchen sind richtige Brötchen, so Carlos – jetzt in ihrem eigenen Ofen, in dem früher das Hotelpersonal Croissants aufbackte.

Direkt neben dem Ofen, auf der Glasvitrine mit den Empanadas, steht ein Fernseher, auch im Fenster wurde ein TV zur Strasse hin ausgerichtet. Es läuft Fussball, vorbeifahrende Polizisten in einem Kastenwagen fragen nach dem Spielstand. Das Verhältnis zwischen der Polizei und den Menschen an der Langstrasse ist sonst eher angespannt. Immer wieder müssen die Beamten auf der Strasse Katz und Maus spielen, mit Dealern, Fussballfans und Event-Randalierern. Vor allem am Tag der Arbeit, dem 1. Mai, kam es in den vergangenen Jahren immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und den linken Lagern. Auf einer Dachterrasse gab es passend dazu jährlich die Tradition, diese Verfolgungsjagden unten auf den Strassen mit Musik aus Comedy- oder Trickfilmen von oben zu begleiten, wobei jede Partei ihren eigenen Themesong hatte.

Anzeige

Auch Joel und Carlos kennen unzählige Geschichten von der Strasse und kochen jetzt mit ihrem El Compañero an ihrer Eigenen. Das El Compañero ist ein kleiner Imbiss, vor der Theke mit Glasvitrine stehen drei Tische und ein paar Stühle. Von den Wänden skandieren Plakate linke Parolen. Wimpel und Fahnen des FC Zürich und von Colo Colo, dem chilenischen Traditionsverein, zieren ebenso die Wände wie die Nationalmannschaftstrikots der chilenischen Legenden Zamorano und Salas. Portraits von Überfussballer Maradona hängen neben ikonischen Fotografien Bob Marleys und Che Guevaras, dazwischen kunstvolle Fotografien und Zeichnungen. Er sehe immer wieder, wie sich Gäste neugierig in der Deko verlieren, erzählt Joel, gelernter Dekorateur, und zeigt auf eine alte Fotografie eines Lichtspieltheaters, in dem heute mit dem Plaza einer der In-Clubs Zürichs ist.

Carlos (im Bild) und Joel kennen die Langstrasse genau

Doch auch wenn sich Strasse und Quartier nach und nach verändern, ein paar Elemente des Lebens hier bleiben. Nach einem gewonnenen WM-Spiel ziehen auch heute noch Autokorsos durch die Langstrasse. Und nur durch die Langstrasse. Linke Manifestationen der linkesten Stadt der Schweiz finden seit Jahren auf dem Helvetiaplatz am einen Ende der Langstrasse statt und der Stadtclub FC Zürich stemmt gewonnene Kübel vom Balkon des Volkshaus gleich nebenan. Wer Feste, Sex und Drogen sucht, findet sie zuverlässig in der Langstrasse, genauso wie Kunst und Kultur in den unzähligen Ateliers und Galerien in den Seitenstrassen und Hinterhöfen.

Anzeige

Die Langstrasse bleibt die interessanteste Strasse im Land, denn wenn das Partyvolk nach dem Wochenende den Weg in die Agglomeration zurückgefunden hat und man wieder unter sich ist, tummeln sich zwischen Helvetiaplatz und Limmatplatz die Randständigen und Untergründigen, die Macherinnen und Mischler. Laut der Kriminalstatistik der Kantonspolizei Zürich lag der Anteil aller erfassten Straftaten rund um die Langstrasse 2017 bei 17,4 Prozent – Platz 2 für das kleine Quartier. Wenn man in der Stadt noch eine dreckige Ecke finden will, eine verruchte Höhle, ein klein wenig Illegalität im Schein des drehenden Blaulichts und dem gelegentlichen Aufheulen von Polizeisirenen, dann dort.

Die Schnittmenge eines Viertels

Das El Compañero wurde schnell zu einem wichtigen Teil der letzten dreckigen Ecken Zürichs – denn es zeigt auch, wie wichtig diese Ecke für die Stadt ist. Es vereint alle historisch und aktuell bedeutenden Elemente des Langstrassenquartiers; politisch linke Grundhaltung, Kunst, Kultur und Fussball – und eben Essen.

Der Untergrund Zürichs hat eine lange Tradition illegaler Bars, Clubs und besetzter Häuser, allen voran das Wohlgroth beim Zürcher Hauptbahnhof, das 1991 besetzt und 1993 wieder geräumt wurde und als grösste Hausbesetzung der Schweiz in die Geschichte einging. Auch künstlerisch-politische Aktionen und Sauvages wie 2005 "Shantytown" (eine Mikrosiedlung am Sihlufer beim Zürcher Hauptbahnhof) oder die Besetzung eines ganzen Fussballstadions 2008 bei der "Brotäktschn" fanden schon immer Platz in der Limmatstadt.

Anzeige

In den letzten zehn Jahren hat sich in diesem Untergrund eine Kultur halbillegaler Restaurants entwickelt. Und mittendrin Joel und Carlos mit ihren Hotdogs. Die Gastroguerilleros der Stadt profitieren von ungenutzten Arbeitsflächen, die wegen ständig teurer werdenden Mieten in aufgewerteten Stadtteilen leer stehen, oder weil eifrige Immobiliensammlerinnen es mit der Nutzung ihres neuen Gebäudes nicht so eilig haben.

Wer in Zürich ein Pop-up anreisst, nutzt seine Erfahrung meist direkt für die nächste temporäre Option. Immer und immer wieder. Der Untergrund wurde so langsam an die Oberfläche gespült. Längst sind die Initiantinnen nicht nur lokal mit eigenen Restaurants aktiv, sondern über die Kantonsgrenzen hinaus bekannt.

Der Aufstieg des Untergrunds

Bei Joel und Carlos vom El Compañero ist die Entwicklung ähnlich. Angefangen mit einem Wägelchen verköstigten sie bei Partys die coolen Kids mit ihren Hotdogs, die sich in der Szene schnell zum Geheimtipp entwickelten. Die Hotdogs serviert das El Compañero im Chile-Style, Grundlage auf dem Würstchen sind gehackte Tomaten und zerstampfte Avocados. Wenn du den Completo wählst, bekommst du noch Röstzwiebeln dazu, entscheidest du dich für den Suizo, gibt es anstatt der Avocado überbackenen Cheddar. Und wenn du auf den Full Gas stehst, bekommst du das ganze Programm inklusive Mayonnaise, Ketchup, Senf und der Hot Sauce, basierend auf einem gerösteten Paprikamus.

In Zürich ist die Gastronomieszene gut vernetzt und profitiert voneinander: Der Grossteil aller relevanten Bars, Restaurants und Clubs gehört bloss einer Handvoll Leuten, die in drei, vier Firmen gebündelt sind. Von diesem Netzwerk profitieren auch Joel und Carlos, wenn sie von ihren Homies in deren Clubs und an ihre Events eingeladen werden. Durch den mobilen Zugang zum Partyvolk konnten sie eine grosse Stammkundschaft aufbauen.

Anzeige

So treffen in ihrem Mini-Restaurant nun die kreativen Elemente der Stadt auf die Heimweh-Chilenen Zürichs, am Wochenende kommen die auswärtigen Feiernden dazu. "Das sind meistens angenehme Menschen, die an Kultur und Kulinarik interessiert sind. Klar gibt es auch die Besoffenen, aber die sind eher in der Minderheit", sagt Joel.

Empanadas nach Geheimrezept

Joel und Carlos wollen das El Compañero klein und übersichtlich halten. Ihr Traum ist ein schmuckes, hochstehendes Restaurant – ohne zeitliche Begrenzung. Um überleben zu können, befinden sie sich allerdings wieder in einem Zwiespalt: Einerseits wollen sie ihr Essen – die Hotdogs und die handgemachten Empanadas nach einem Geheimrezept der Familie des Kochs – zu einem erschwinglichen Preis verkaufen, für alle, die in diesem Viertel leben und schon immer gelebt haben. Andererseits müssen auch sie jeden Monat die Miete bezahlen.

Die Empanadas werden nach einem geheimen Familienrezept des Kochs zubereitet

Das El Compañero versucht, diese Balance zu halten und alle im Viertel einzuladen – egal, woher sie kommen. Der Laden ist eine Liebeserklärung an alles, was dieses Viertel feiert. Ihre Hotdogs gibt es in Chile an jeder Ecke, in Zürich findest du sie wirklich nur an der letzten verruchten Ecke der Langstrasse. Zumindest bis auch hier die Aufwertung alles gefressen hat.

Folge MUNCHIES auf Facebook und Instagram.