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Verbrechen

Die 20-Jährige, die ihren Freund per SMS zum Suizid trieb, wurde verurteilt

Michelle Carters Fall ist ungewöhnlich wie kontrovers. Jetzt hat sie 15 Monate Haft bekommen und wartet auf ihr Berufungsverfahren.
Michelle Carter auf dem Weg zu ihrer Urteilsverkündung am 3.8.2017 | Foto: Jonathan Wiggs via The Boston Globe/Getty Images

Michelle Carters Augen waren rot vom Weinen, als sie von ihrer Strafe erfuhr. Der Jugendrichter Lawrence Moniz verurteilte die 20-Jährige zu zweieinhalb Jahren Haft, weil sie ihren Freund per Telefon zum Selbstmord aufgefordert hatte. Das Urteil fiel am 3. August in Taunton, Massachusetts, einer Kleinstadt etwa 60 Kilometer südlich von Boston. Das Ungewöhnliche an dem Fall: Carter war zum Zeitpunkt der Tat nicht einmal in der Nähe ihres Opfers und sie war gerade einmal 17 Jahre alt.

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Carter stand am Donnerstag in einer roten Stoffhose und einem weißen Oberteil vor dem Richter, ohne sich zu ihrer Familie im Gerichtssaal umzudrehen. Richter Moniz erklärte sich bereit, die Hälfte der Strafe zur Bewährung auszusetzen, sodass Carter nur für 15 Monate ins Gefängnis muss. Außerdem verhängte er zusätzliche fünf Jahre Bewährung. Später gab Moniz allerdings einem Antrag der Verteidigung statt, auch die 15 Monate Haft noch nicht zu vollstrecken, denn Carters Anwälte haben vor, Berufung gegen das Urteil einzulegen.

Im Juni wurde Carter wegen fahrlässiger Tötung schuldig gesprochen, weil ihr Freund Conrad Roy III sich nach ihren Aufforderungen das Leben genommen hatte. In den USA liegen zwischen Schuldspruch und Urteil oft Wochen.


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Moniz' Entscheidung für eine Bewährung war für einige Angehörige Conrad Roys ein schwerer Schlag. Der 18-Jährige hatte sich auf einem Parkplatz in seinem Auto mit Abgasen vergiftet, nachdem Carter ihm per SMS erklärt hatte, wie er das anstellen konnte. Als er aus dem Auto stieg und sie anrief, weil er sich vor den Abgasen fürchtete, schrieb sie, er solle "verdammt nochmal wieder einsteigen".

Viele Angehörige der Familie Roy saßen zusammengedrängt auf einer Seite des Gerichtssaals. Der Richter erlaubte es am Tag des Urteils aber nur Roys Eltern und Geschwistern, ein sogenanntes Victim Impact Statement abzugeben.

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"Diesen Schmerz werde ich niemals verarbeiten", sagte Roys 16-jährige Schwester Camdyn in ihrem Statement, ihre Stimme war kaum hörbar, ihr Gesicht tränenüberlaufen.

Der Vater des Opfers, Conrad Roy II, beschrieb dem Gericht seine Trauer als "den schlimmstem emotionalen Schmerz", den andere je erlebt haben, und diesen dann "unendlich multipliziert".

Die Staatsanwaltschaft hatte Moniz aufgefordert, Carter zu mindestens sieben und maximal zwölf Jahren Haft zu verurteilen. "Es war ihr Handeln, das Conrad Roy tötete. Sie beendete sein Leben, um ihr eigenes zu verbessern", sagte die Staatsanwältin Maryclare Flynn.

Carters Verteidigung hatte darum gebeten, ihr stattdessen fünf Jahre auf Bewährung mit psychiatrischer Betreuung zu geben. Dies könne aber nicht effektiv sein, so die Staatsanwältin, weil Carter in der Vergangenheit bereits Therapeuten angelogen habe.

In einem Brief hatte Carters Vater dem Richter zuvor seine Tochter als "wundervollen Menschen mit einem großen Herzen und einer liebevollen Seele" beschrieben. Sie leide jedoch seit der achten Klasse an einer Essstörung und habe "ihr ganzes Leben schon mit extremer Schüchternheit, Nervosität und mangelndem Selbstbewusstsein zu kämpfen".

"Ich bete zu Gott, dass Sie berücksichtigen, dass Michelle ein verletzlicher Teenager mit vielen Problemen war, der in einer extrem schwierigen Situationen einen tragischen Fehler gemacht hat", hieß es weiter in seinem Brief.

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Carters Familie saß fast regungslos da, als der Richter das Urteil verkündete. Ein Angehöriger Roys schluchzte: "Wie kann sie weiter frei herumlaufen?"

Die Carter-Kontroverse

Der Fall Carter hat große Aufmerksamkeit erregt. Das liegt teilweise daran, dass die Geschichte wie geschaffen für die Boulevardpresse scheint. Außerdem herrscht in den USA große Sorge um Bürgerrechte, denn im Bundesstaat Massachusetts gibt es eigentlich kein Gesetz bezüglich der Beihilfe zum Selbstmord.

Das bestätigt auch Matthew Segal von der Bürgerrecht-NGO American Civil Liberties Union. "In Massachusetts ist es kein Verbrechen, jemanden zum Selbstmord zu überreden", schreibt er in einer Pressemitteilung. Laut Segal sollte es kein Urteil gegen Carter wegen fahrlässiger Tötung geben. "Ihre Verurteilung für dieses Vergehen ist nicht rechtens. Sie überschreitet die Grenzen unserer Strafgesetze und verletzt das Recht auf Redefreiheit, das Massachusetts und die Verfassung der USA zusichern."

Der Verteidiger Philip A. Tracy befand Moniz' Urteil dagegen für fair. "Das ist eine schwierige Entscheidung für einen Richter", sagte er. Carter hatte zuvor auf ein Gerichtsverfahren mit einer Jury verzichtet. "Er musste über einen Fall entscheiden, dessen Nuancen noch nie zuvor verhandelt wurden, weil unsere Gesellschaft sich gewandelt hat."

Carters Fall war auch deshalb so besonders, weil ihre Tausenden Textnachrichten an Roy und ihre Freunde zentraler Bestandteil des Prozesses waren – und weil Carter zum Zeitpunkt seines Todes Kilometer von Roy entfernt war. Die Staatsanwaltschaft behauptete, sie habe Roy vom Suizid überzeugt, um hinterher als "trauernde Freundin" Aufmerksamkeit zu bekommen.

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Die düsteren Nachrichten, die Roy erhielt, stehen im schroffen Kontrast zu Carters Ruf an ihrer Highschool: Dort machte sie Kampagne gegen Suizid und zeigte sich als freundlich und gut gelaunt. Man wählte sie zur Schülerin, die anderen "am besten ein Lächeln aufs Gesicht zaubern kann".

"Heute ist es soweit. Jetzt oder nie", schrieb sie in einer der vielen Nachrichten, mit denen sie Roy anstachelte. "Die Zeit ist reif und du bist bereit."

Roy stammte aus einer kleinen Hafenstadt in Massachusetts und arbeitete als Schlepperkapitän. Er litt an Depressionen und hatte Carter erst ein paarmal getroffen. Als er sagte, dass er sich das Leben nehmen würde, verspottete ihn Carter: "Ich wette, du sagst dann 'Ach, es hat nicht geklappt, weil ich den Schlauch nicht richtig verklebt hab' oder so. Du hast bestimmt irgend so eine Ausrede … irgendwie hast du doch immer eine."

In einer weiteren Nachricht hieß es: "Du darfst nicht darüber nachdenken. Du musst es einfach tun. Du hast gesagt, du tust es. Ich verstehe nicht, warum du es nicht machst."

Sie hörte ihm beim Sterben zu

Die Staatsanwältin Tracy verglich die Entscheidung des Richters mit einem salomonischen Urteil, weil er Carter letztendlich nicht für ihre Nachrichten verurteilt hat. Stattdessen bezog er sich im Urteil auf ihr Telefonat mit Roy, als der bereits begonnen hatte, den tödlichen Plan umzusetzen. Später erzählte Carter einer Freundin, sie habe am Telefon seine letzten, beschwerlichen Atemzüge gehört.

Nachrichtenmedien stürzten sich auf den stillen Ort Taunton, eine der ältesten Städte der USA, als das Verfahren im Frühling begann. Doch von Carter selbst hat die Öffentlichkeit bisher nur ihre SMS gehört.

Falls Carter sich jemals entscheiden sollte, sich öffentlich zu ihrer Tat zu äußern, darf sie laut Moniz' Urteil weder direkt noch indirekt von ihrer Geschichte profitieren. Aktuell ist die 20-Jährige effektiv auf Bewährung, während ihre Verteidiger ihren Berufungsantrag vorbereiten.

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